Abgrund hinter sauberen Fassaden

19.03.2009
"Die Stille" umfasst einhundert Jahre aus der Geschichte zweier Familien im 20. Jahrhundert. Am Anfang steht ein Fotoalbum. Die Bilder sind hineingestreut in eine turbulente Handlung, die den Abgrund hinter sauberen Fassaden offenbart. Mit diesem monumentalen Epos wurde der 1953 in Ostberlin geborene Reinhard Jirgl für den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse 2009 nominiert.
In diesem breit angelegten Roman geht es um eine Familiengeschichte, die von deutschen Kriegen, deutschen Diktaturen und deutschen Zerrüttungen geprägt ist. Sie lässt nichts übrig von romantischen Verheißungen oder heimatlichen Gefühlen.

Eine entscheidende Rolle spielt ein Fotoalbum. Manche Fotos sind herausgerissen, andere wiederum fast verblichen. Die ersten erhaltenen Bilder stammen noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Der Roman Jirgls ist formal nach diesen Fotos gegliedert, von Foto 1 bis Foto 100, doch die einzelnen Kapitel sind keine Beschreibungen dieser Fotos.

Die Bilder wirken eher hineingestreut in eine turbulente und chaotische Handlung. Verschiedene Sprecherstimmen übernehmen die Führung, oft unvermittelt geht die Rede von einer Person zu einer anderen über, und die Fotos liefern vor allem einen atmosphärischen Hintergrund. Die kleinbürgerliche deutsche Familie war in Jirgls Romanen schon immer der Schauplatz für das existenzielle Desaster des Einzelnen.

Das Geschichtsbild dieses Romans wird am deutlichsten im brandenburgischen Zweig der Familie: In jeder Generation muss man auf neue Weise um das Haus kämpfen - sei es, dass es während des Nationalsozialismus militärisch genutzt werden, während der DDR enteignet oder im Nachwendedeutschland dem Braunkohletagebau weichen soll.

Im Roman werden die Beschwerdebriefe der Familie an die jeweiligen Behörden parallel gesetzt, und nur die spezifischen Begriffe und die Grußformeln unterscheiden sich: Heil Hitler, mit sozialistischem Gruß, mit freundlichen Grüßen. Und die deutsche Geschichte wird sehr beredt in der Entwicklung des Ladengeschäfts, das Werner Baeske Anfang der 20er Jahre bei Berlin eröffnet.

Er stößt zunächst auf die erbitterte Feindschaft der alteingesessenen Bürger. Als er die Inflation richtig einschätzt, die Waren in seinem Vorratskeller hortet und sie später mit großem Gewinn verkaufen kann, wird er von den verarmten Bürgern, die sich verkalkuliert hatten, umworben. Dann wendet sich das Blatt jedoch noch einmal, und dieselben Bürger sind als Nazis plötzlich wieder obenauf.

Den monströsen gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Deutschland des 20. Jahrhunderts entspricht das Monströse in den Familien. Jirgl erzählt viele einzelne Geschichten, die anderswo alle das Zeug zu einem eigenen Buch hätten.

Das geheime Zentrum bildet die Geschichte eines Inzests. Beschrieben wird dies in einer Mischung aus Pornografie und Schauerromantik, aus schwarzem Kitsch und Gothic Novel. Und die Handlungsstränge verknäueln sich bei Jirgl so wie in den handlungsstarken Vorbildern aus bürgerlicher Frühzeit. Der Roman mündet in einen regelrechten Showdown.

Reinhard Jirgl zeigt sich wieder als großer Einzelgänger, der gegen jeglichen Common Sense verstößt und all das breit entfaltet, was untergründig als gesellschaftlich Unbewusstes existiert, der Abgrund hinter sauberen und glatten Fassaden.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Reinhard Jirgl: Die Stille
Roman, Hanser Verlag, München 2009,
533 Seiten, 24,90 Euro