Abgründiges Familienporträt

06.07.2009
Mit dem Roman "Schau heimwärts, Engel", einem Porträt über eine US-Kleinstadt-Familie, gelang dem amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe 1929 der Durchbruch. 80 Jahre nach der Erstausgabe veröffentlicht der Manesse Verlag eine deutsche Neuübersetzung des autobiografischen Klassikers, der die moderne amerikanische Erzähltradition mitbegründete.
An der amerikanischen Literatur wird hierzulande oft die Lakonie geschätzt, die Short-Story-Coolness. Also: Hemingway, Fitzgerald, Salinger, Carver. Aber es gibt auch die andere große Traditionslinie: das Überbordende, Hochfahrende, Rhapsodische. Man denke an Walt Whitmans Gesänge, an Melvilles "Moby Dick", an Henry Miller oder Burroughs. Eine Form der Übertreibungskunst ist hier am Werk; steile, manchmal aufgeblasene Rhetorik verbindet sich mit abgründiger Komik. Dieses Amerika zahlt nicht in kleiner Münze, sondern liebt die große literarische Gebärde. In diese Tradition gehört auch Thomas Wolfe.

"Schau heimwärts, Engel", erschienen 1929, ist ein episodischer Roman am Leitfaden der Autobiografie. Mit seinem Protagonisten Eugene bohrt sich Wolfe hinein in die eigene Geschichte – inklusive der Vorgeschichte der Eltern, deren kinderreiche Ehe einer Kollision von Naturgewalten ähnelt. Eugene wird geboren im Jahr 1900, als jüngster Sohn des pennsylvania-deutschen Steinmetzes Oliver Gant, zuständig für Grabsteine, Marmorengel und Friedhofsschmuck und ein schwerer Quartalssäufer. Nach Jahren des Umherwanderns und einer tragisch geendeten ersten Ehe hat er sich niedergelassen in Altamont am Fuß der Appalachen. Aus seiner Heimatstadt Asheville formte Wolfe diesen Luftkurort – und die Bürger waren über seine Beschreibungen des Kleinstadtlebens nicht weniger verstimmt als die Lübecker, die sich in den "Buddenbrooks" karikiert sahen.

Der Roman lebt von seiner lebensprallen Menschenschilderung. Mit welcher Lust macht Thomas Wolfe aus den Eltern titanische Portalsfiguren seines Lebens! Wenn der Vater seinen Suff ausschläft, scheppern die Fenster. Sogar bei Eugenes Geburt ist er schwer alkoholisiert, tobt und muss von Nachbarn gebändigt werden. Auch beim Essen kennt er kein Maß – ein amerikanischer Gargantua, der seiner Familie mit verschwenderischer Lebenslust Riesenportionen auftischt, was dem Roman wunderbar opulente Beschreibungen einträgt. Unweigerlich denkt man bei diesem monströsen, hochpathetischen, aber auch komisch-sympathischen Vater an jenen Autor, den er selbst bei seinen Lamentationen am liebsten im Mund führt: Shakespeare. Der alte Gant ist ein König Lear aus der Kleinstadt, ein chronisch enterbter Familienmonarch.

Unvereinbare Temperamente und Lebenseinstellungen der Eltern sind immer der Anfang eines romanhaften Lebens. Während Eugenes Vater für den amerikanischen Pioniergeist und Idealismus steht - dröhnend, naiv, aber kraftstrotzend - erleben wir mit Mutter Eliza den eingefleischten Geschäftsgeist und Materialismus der Staaten. In Altamont entwickelt sich gerade der Kurbetrieb für Lungenkranke, und die Immobilienpreise steigen, zu Elizas Entzücken. Ihre Raffgier hat tiefe Wurzeln – in einer Kindheit, geprägt von Armut und Entbehrung.

Thomas Wolfe ist kein literarischer Feinmechaniker, sondern ein kraftstrotzender Draufloserzähler, der gerne die Dienste seines Lektors in Anspruch nahm, damit aus mehrtausendseitigen Manuskriptstapeln lesbare Bücher von 700 Seiten wurden. Aber er war mehr als ein naiver Epiker. Die erzähltechnischen Revolutionen der Moderne hat er mit intuitiv-imitatorischem Kunstverstand in sein Repertoire aufgenommen. So ist der Einfluss des "Ulysses", nur wenige Jahre zuvor erschienen, in "Schau heimwärts, Engel" deutlich zu spüren, etwa in den langen inneren Monologen, in denen der alte Gant gewissermaßen zum Leopold Bloom von Altamont wird.

Zu den historisch starken Passagen gehören die Schilderungen der amerikanischen Heimatfront und der Waffenschmieden der "Freiheit" im Ersten Weltkrieg: Hier ereignet sich die Geburt der modernen, imperialistischen Großmacht USA. Bei der Darstellung von Eugenes Schüler- und Studentenleben passt Wolfes Wucht des Erzählens dagegen oft nicht ganz zum Gegenstand. Bisweilen läuft die Pathosmaschine leer, kein Zweifel. Aber wenn sie Stoff zu fassen bekommt, dann liest es sich grandios. Der zu Tränen rührende Höhepunkt des Romans ist das Kapitel, das vom qualvollen Sterben des Bruders Ben berichtet.

"Schau heimwärts, Engel" hat hierzulande Furore gemacht, nicht zuletzt, weil sich das Buch wie die berserkerhafte Version eines Bildungsromans las. Trotzdem war Irma Wehrlis Neuübersetzung notwendig. Sie ernüchtert den Text nicht, sondern befreit ihn von manchen unnötigen Verblasenheiten, die sich seinerzeit aus der Begegnung der sprachlich riskanten Vorlage mit dem jugendbewegten, idealismusgetränkten Starkdeutsch von 1930 ergaben. Sie bewahrt den Glanz und die Kraft des Originals und macht dessen weiten stilistischen Frequenzgang zwischen Hymnus und Ironie, hohem Ton und Slang deutlich. Korrigiert werden manche Fehler und Missverständnisse der alten Fassung, etwa wenn an einer Stelle statt von "Totenköpfen" nun zutreffend von "Karteileichen" die Rede ist. Vor allem die Dialoge wirken jetzt frischer und lebhafter.

"Schau heimwärts, Engel" ist kein perfekter Roman, aber eine große Leseerfahrung. Und das Buch hat Schule gemacht. All die Autoren, die seither die Mittelstandsfamilie zum Spiegel der amerikanischen Gesellschaft gemacht haben – man denke nur an John Updike, Richard Yates oder Jonathan Franzen – stehen in der Schuld der Gants.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel
Aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli
Manesse, München 2009
783 Seiten, 29,90 Euro