Abgestumpfte Handlanger der Krieges

15.11.2012
Ähnlich wie schon Harald Welzer und Sönke Neitzel in ihrem Buch "Soldaten" dokumentiert Felix Römer die Abhörprotokolle, die die US Army von deutschen Kriegsgefangenen erstellt hatte. Erschütternd ist dabei vor allem die Gleichgültigkeit der Wehrmachtssoldaten gegenüber ihren Opfern, die dabei zutage tritt.
Ian Fleming, der später James Bond erfinden wird, reist im Juni 1941 als Instrukteur des Nachrichtendienstes der Royal Navy nach Washington, D.C. Kurz darauf bauen die Geheimdienste von US Army und US Navy ein spezielles Lager nach britischem Vorbild für Wehrmachts- und SS-Gefangene auf: Fort Hunt, Virginia. Die 40 Zellen für zwei bis drei Insassen sind verwanzt, alles Gesagte wird in einem anderen Gebäude mitgeschrieben; die Gefangenen bleiben ein, zwei Wochen, werden täglich bis zu dreimal verhört, bei manchen werden stool pigeons (Spitzel) eingeschleust, die Ver- und die Abhörinhalte werden abgeglichen.

So entstehen über 102.000 Seiten Akten von 3.300 Gefangenen, das Gros nach der Normandie-Invasion 1944. Felix Römer, der 2007 für seine Dissertation über den "Kommissarsbefehl" ausgezeichnet wurde, hat sie jetzt ausgewertet.

Die Wehrmacht ist spätestens seit der bahnbrechenden Ausstellung von 1995 wieder ein öffentliches Thema. Dass die Schoah erst durch diesen Krieg möglich und dass der von der Wehrmacht geführt wurde, bezweifelt heute niemand mehr ernsthaft.

Aber wer war "die Wehrmacht"? Ein homogener Organismus aus befehlenden Generälen und Soldaten, die dank Befehlsnotstand für nichts verantwortlich sind? Oder circa 17 Millionen Männer in heterogenen Einheiten und Einsatzgebieten mit individuellen Spielräumen? Die Enkelgeneration will wissen, was "der Opa" gemacht hat und wie "normale Männer" zu den Gräueln fähig waren. Dass Deutschland zur selben Zeit wieder Soldaten in Kriegsgebiete schickt, ist sicher auch ein Untergrund dieser neuen, neugierigen Unruhe. Nach und nach erschließen (nicht nur) Historiker da ein ergiebiges Feld: Mentalitätsgeschichte.

Die Akten aus Fort Hunt sind dafür einzigartig wertvoll: Selbstzeugnisse im O-Ton von Soldaten und SS-Leuten vor allem der Mannschaftsebene. Anders als den Briten, die lieber die höheren Ränge aushorchen, geht es den US-Militärs - neben der Erkundung relevanter Bomberziele - explizit um die Mentalität des Gegenübers. Wie "tickt" mein Gefechtsgegner und wie folglich Nazi-Deutschland generell?

Also werden ausführliche Fragebögen zur gesamten Biografie entwickelt, mit einem Morale Questionnaire wird minutiös die politische Einstellung abgefragt - zu Hitler, zum Krieg, zur Judenverfolgung - und der militärische Werdegang wird akribisch notiert. Und alles standardisiert.

Felix Römer hat daraus zweifach faszinierende narration gemacht. Zum einen verwandelt er die schiere Informationsmasse in hochspannende Prosa. Zum anderen entsteht daraus ein neues Narrativ über den deutschen Teil des Zweiten Weltkriegs. "Kameraden" belegt en détail, dass Bereitschaft wie Fähigkeit zu Gräueltaten weder automatisch aus einer ideologischen "Intention" noch aus der gewaltförmigen "Situation" selbst folgen. Beide prägen das Handeln, entscheidend aber ist die Kameradschaft.

Homogen ist bei fast allen der über 3.000 Individuen eins: ihre totale Indolenz gegenüber den Opfern ihrer Taten. Sie reden sie (sich) schlecht, um sich zu entlasten und sich als das eigentliche Opfer empfinden zu können. Das in allen Variationen zu lesen, ist erschütternd. Es ist der Kern einer Mentalität, die auch in Friedenszeiten inhumanes Handeln erzeugt.

Besprochen von Pieke Biermann

Felix Römer: Kameraden - Die Wehrmacht von innen
Piper Verlag, München-Zürich 2012
544 Seiten, 24,99 EUR
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