Abgeordnetenhauswahl in Berlin

Die Hochburg der Nichtwähler

Marzahn-Hellersdorf
Vor fünf Jahren war die Wahlbeteiligung in Marzahn-Hellersdorf besonders niedrig © Frederik Rother
Von Frederik Rother · 14.09.2016
In Marzahn-Hellersdorf gingen bei der letzten Abgeordnetenhauswahl so wenig Menschen an die Wahlurne wie in keinem anderen Berliner Bezirk. Nach dem Erfolg in Mecklenburg-Vorpommern hofft die AfD nun auch hier, viele Nichtwähler zu mobilisieren.
Ein Spätsommerabend im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Enrico Stölzel ist auf dem Weg ins "Icke". Eine urige Kneipe in einer Plattenbausiedlung. Der 29-Jährige Bezirksamtsmitarbeiter und SPD-Politiker macht hier Wahlkampf.
"Das ist megawitzig, das macht richtig Spaß. Ich hab‘ das Gefühl, man trifft auf Leute, die denken, ich komm in deren Wohnzimmer rein."
Stölzel glaubt: In der Kneipe kommt er näher an die Menschen ran als am Infostand. Am kommenden Sonntag will er ins Abgeordnetenhaus einziehen, als Kandidat für den Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Hier blieb bei der letzten Landtagswahl vor fünf Jahren knapp jeder Zweite zu Hause – 49 Prozent Nichtwähler, Berliner Rekord.

Fünf Gäste am Holztresen

Fünf Gäste sitzen an einem großen Holztresen, trinken Bier und rauchen. Stölzel bestellt ebenfalls ein Pils und holt die Visitenkarten mit seinem Foto aus der Tasche. Eine legt er Christoph Pete hin. Sie kommen ins Gespräch und schnell geht es um das Wahlkampfthema: Flüchtlinge.
"Die bauen wirklich ein Asylantenheim vom Feinsten dorthin, die Bibliothek kämpft um Gelder, kriegt die nicht." – "Naja, ehrlich gesagt, die sind da so, das ‘ne Frage, die bundespolitisch, europapolitisch geregelt werden muss aus meiner Sicht, wir müssen damit umgehen."
Stölzel argumentiert und versucht zu überzeugen. Er und Pete sprechen eine halbe Stunde miteinander, es geht vor allem um lokalpolitische Themen: Mieten, Naturschutz, Nahverkehr.
"Sind sie denn jetzt überzeugter als vorher?" – "Nein, überzeugter bin ich überhaupt nicht, weil ich ganz genau weiß, was ich wähle und wen ich wähle. Für mich ist nur eins klar, wen ich nicht wähle: Die Rechte habe ich sowieso noch nie gewählt."
Pete wählt SPD. Die hat zusammen mit der Linken bei der letzten Wahl immerhin knapp 56 Prozent der Menschen in Marzahn-Hellersdorf überzeugt - von denen, die überhaupt zur Wahl gegangen sind.
Im "Icke" gibt es nur einen bekennenden Nicht-Wähler. Der hängt am Spielautomaten und findet: ist eh egal, man kann sowieso nichts ändern. Ein Vorwurf, den Stölzel oft von Nichtwählern hört:
"Ich stelle den Menschen aber auch immer wieder dieselbe Frage: Hast du schon mal jemand von ‘ner anderen Partei gesehen, der gerade mit dir redet? Und hoffe dadurch, den Menschen zu zeigen, Politiker sind hier ansprechbar."
Nähe zeigen, für die Menschen da sein. Das ist seine Strategie, um Nichtwähler zu erreichen und diese nicht der AfD zu überlassen. Manche konnte er beim Bier sogar schon dazu bewegen, für die SPD zu stimmen.

"Weil die sowieso bloß lügen"

Auf dem Helene-Weigel-Platz im Westen von Marzahn-Hellersdorf ist Markt. Ein paar Stände sind aufgebaut, den Rahmen des Platzes bilden die typischen Plattenbauten des Bezirks. Um den Helene-Weigel-Platz ist die Nichtwählerquote besonders hoch: 55 Prozent haben bei der letzten Wahl nicht abgestimmt. Dieser Mann – Mitte 40 etwa, kurze Haare und Zigarette in der Hand – gehört dazu:
"Weil die sowieso bloß lügen. Die versprechen, versprechen, versprechen, halten tun sie doch nichts. Und vor allem hören die sowieso nicht auf uns." – "Wen meinen Sie mit 'die'?" – "Na alle, ist egal wer dran ist, CDU, SPD, ich komm' mir einfach nur verarscht vor." – "Was haben Sie mit der Wahlberichtigung gemacht?" – "Weggeschmissen, einfach in den Mülleimer."
Er kann sich höchstens vorstellen, aus Protest die AfD zu wählen. Ein junger Mann mit Mütze und Nasenpiercing sitzt einige Meter weiter und sieht es ähnlich: Er geht nicht wählen. Das bringt nix, meint er.
In Mecklenburg-Vorpommern konnte die AfD vor zwei Wochen viele Nichtwähler binden. Protestwähler. Das will nun auch die AfD in Berlin erreichen.
Rolf Keßler, Spitzenkandidat im Osten von Marzahn-Hellersdorf, hat auf dem Bürgersteig seinen Stand aufgebaut. Zwei Sonnenschirme und ein Plakat mit der Aufschrift "Deutschland retten. Merkel stoppen" fallen direkt ins Auge.

Die AfD setzt auf das Thema Flüchtlinge

Der ehemalige Ingenieur verteilt Flyer an Passanten. Das Hauptthema auch hier: Flüchtlinge. Keßler glaubt, dass damit viele Wähler gewonnen werden können:
"Viele sagen mir selber, dass sie jetzt nach langer Zeit das erste Mal wieder zur Wahl gehen, das hört man schon sehr oft. Und das deckt sich ja auch mit den Erfahrungen, die bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt gemacht wurden, dass wir einen gewissen Teil der Nichtwähler mobilisieren werden."
Eine Frau, die am Stand vorbeiläuft, bestätigt das. Sie war lange nicht wählen, jetzt gibt es für sie eine klare Alternative: die AfD.
Marzahn-Hellersdorf ist für die etablierten Parteien ein schwieriges Pflaster. Aber nicht aussichtslos. Denn engagierte Demokraten gibt es hier auch.
"Gehen Sie wählen oder nicht?" – "Ja, immer. Stets und ständig, immer wenn Wahlen sind, geh ich wählen mit meiner ganzen Familie."
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