A wie Auge

    Von Jürgen Liebing · 13.05.2013
    Das Auge taucht bei Richard Wagner in vielfacher Weise auf, etwa in dem Ehestreit in der Walküre, bei dem Fricka ihren Göttergatten Wotan zwingt, sie anzusehen.
    "Sieh‘ mir in’s Auge, sinne nicht Trug."

    Die stocksaure Ehefrau Fricka fordert ihren Göttergatten Wotan unmissverständlich auf, sie anzuschauen, ganz so, als sei er ein ungezogenes Kind, das verschämt den Blick senkt, weil es etwas ausgefressen hat, und nun dem anderen ausweicht, weil es Angst hat, sich zu verraten. Denn Fricka kennt ihren Gatten allzu gut, weiß um seine Tricks, um den Trug, den er auszuhecken imstande ist. Um ihn davon abzuhalten, muss sie Wotan dazu bringen, ihr ins Auge zu schauen, ihrem Blick standzuhalten.

    Jeder weiß, wie schwer es in bestimmten Situationen sein kann, dem anderen offen ins Gesicht zu sehen, seinem Blick nicht auszuweichen – insbesondere dann, wenn man unangenehme Dinge mitteilen muss oder auch zu hören bekommt.

    "Sieh mir ins Auge, sinne nicht Trug." Der Blick kann nicht lügen.

    Das Auge spielt in Richard Wagners Werk eine besondere Rolle. Immer wieder ist in den Wagnerschen Regieanweisungen davon die Rede, dass die Protagonisten sich anschauen, lange und intensiv.

    "Er küsst sie auf beide Augen, die ihr sogleich verschlossen bleiben: sie sinkt sanft ermattend in seinen Armen zurück."

    So steht es in den Regieanweisungen zur "Walküre". Der Vater, der sich in seinen eigenen Widersprüchen verstrickt hat, der sich durch die Verträge, die er schloss, selbst geknechtet hat, muss die widerspenstige Tochter strafen, weil sie sich seinem Befehl widersetzte.

    Indem er ihr mit dem Kuss die Augen verschließt, nimmt er der geliebten Tochter die Gottheit und lässt sie zurück quasi als Blinde, jedem Fremden ausgeliefert.

    Das Auge ist das Symbol der Göttlichkeit. Im Christentum wird Gottvater oft als Auge dargestellt, von einem Dreieck umgeben, das auf die Dreifaltigkeit verweist, und von einem Strahlenfächer umkränzt. Aber schon im alten Ägypten war das Auge ein göttliches Symbol, gleichfalls bei den Griechen.

    Das Auge ist das Sinnesorgan, mit dem wir die Umwelt am direktesten wahrnehmen - etwas in Augenschein nehmen.

    Es ist ein besonderes Geheimnis um das Sehen im "Ring des Nibelungen", diesem Opus Magnum von Richard Wagner. Und nicht nur dort.

    Ob "Tannhäuser" oder "Lohengrin" immer wieder begegnet uns das Auge, und in Wagners letztem Bühnenweihfestspiel "Parsifal" geht es nicht nur ums Sehen, sondern auch ums Nichtsehen.

    Parsifal weiß nicht, was er sah, er muss erst wissend werden, muss sehen lernen, um am Ende die richtige Frage stellen zu können.

    Richard Wagner war ein Augenmensch. Auf sämtlichen seiner Konterfeis ist das wahrzunehmen. Ihn zeichnete ein sicherer Blick aus, der gewiss einiges zur Wirkung und Ausstrahlung des Menschen und Komponisten beigetragen hat.

    Die Betonung des Auges hat in Wagners Konzeption vom Gesamtkunstwerk noch eine weitere Bedeutung. Geht es bei dem alten Streit, der in die Frühzeit der Entstehung der Oper zurückreicht, immer auch darum, was vorrangig sei bei der Oper – die Musik oder das Wort – so ist für Wagner eine unabdingbare Voraussetzung: das Bild, das vom Zuschauer wahrgenommen wird.

    "Ohne Mittheilung an das Auge bleibt alle Kunst unbefriedigend, daher selbst unbefriedigt, unfrei", stellt Richard Wagner fest. Was das Ohr wahrnimmt ist also nur ein Teil seiner musiktheatralischen Kunst, erst durch das Auge, durch das Sehen, schließt sich der Kreis, entsteht ein Ganzes, ein Plädoyer für die Bühne.