74. Filmfestival in Locarno

Worauf sich Filmfreunde freuen können

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Archivfoto: Eine vollgepackte Piazza Grande in Locarno anlässlich des 69. Filmfestivals 2016.
Locarno hat die größte Freiluftleinwand Europas. So voll wie vor der Coronakrise wird es in diesem Jahr sicher nicht werden. (Archivfoto) © picture alliance / Keystone / Alexandra Wey
Patrick Wellinski im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 04.08.2021
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Rückkehr zur Normalität auch in Locarno. Das diesjährige Filmfestival findet nicht nur mit Besuchern statt, sondern auch unter neuer Leitung. Filmfans können sich auf spannende Spielfilme, großartige Klassiker und Begegnungen mit Filmgrößen freuen.
Am 4. August beginnt das Filmfestival von Locarno. Bis zum 14. August laufen insgesamt 209 Filme - viele davon auf der größten Open-Air-Leinwand der Welt. Das im Schweizer Tessin gelegene Festival zählt zu den ältesten und renommiertesten der Welt. Unter Cinephilen gilt es als Perle unter den europäischen Filmfestivals.
Seit 1946 findet es jährlich im August statt. So auch in diesem Jahr – wenngleich coronabedingt mit strengen Hygienevorschriften. 2020 mussten Filmfans das Festival im Netz verfolgen.

Das Testlabor unter den Filmfestivals

Locarno gilt als Testlabor der europäischen A-Festivals – und zwar im Hinblick auf die Infrastruktur und die filmpolitische Ausrichtung. Das Festival erfindet sich alle paar Jahre neu. In den 60er- und 70er-Jahren umarmte man das europäische Experimentalkino, später konzentrierte man sich stärker auf Autorenfilmerinnen und -filmer.
Im Rahmen des Locarno-Filmfestivals werden Goldene und Silberne Leoparden vergeben.
Sie sind heiß begehrt: die Goldenen und Silbernen Leoparden in Locarno.© picture alliance / dpa | Jean-Christophe Bott
Herzstück des am eher unscheinbaren Ende des Lago Maggiore gelegenen Festivals ist die größte europäische Freiluftleinwand auf der Piazza Grande. Hier werden die großen Publikumsmagnete gezeigt.

Die Retrospektive ehrt Alberto Lattuada

Der Geheimtipp von Locarno ist aber die aufwendig kuratierte Retrospektive, die als eine der besten unter den großen Festivals gilt. Filmfreunde aus der ganzen Welt reisen oft eigens für dieses Programm hierher.
Die Schauspielerin Martine Carole sitzt in einem Restaurant. Ausschnitt aus dem Film "Der Skandal".
Mit seinem Film "Der Skandal" (1954) über das italienische Bürgertum konnte Lattuada auch außerhalb von Italien Erfolge feiern.© picture alliance / United Archives | United Archives / kpa Publicity
In diesem Jahr wird der italienische Autorenfilmer Alberto Lattuada geehrt und vielleicht sogar auf breiter Ebene wiederentdeckt. Denn: Neben den ganz Großen des italienischen Kinos - Fellini, Antonioni, Rossellini - fällt sein Name eher selten. Mehr zu Lattuada können Sie hier gesondert erfahren.

Eröffnungsfilm "Beckett" - ein Actionknaller in Hitchcock-Tradition [AUDIO] Unser Filmredakteur Patrick Wellinski berichtet vor Ort. "Sehr spannend" findet er Ferdinando Cito Filomarinos von Netflix produzierten Thriller "Beckett", der das Festival offiziell eröffnet hat. Der italienische Regisseur bringe "großes Kino" mit einem Plot à la Hitchcock auf die Festivalleinwand: Ein US-Tourist namens Beckett (John David Washington) macht mit seiner Freundin (Alicia Vikander) Urlaub in Griechenland. Bei einem Autounfall stirbt die junge Frau. Beckett gerät ins Visier der Polizei und wird plötzlich zur Zielscheibe einer Menschenjagd. Zur Flucht gezwungen, durchquert er das ganze Land, um die US-Botschaft zu erreichen.

John David Washington rennt mit seiner Hand schützend vor dem Mund durch eine eskalierte, chaotische Demonstration
© Netflix/Yannis Drakoulidis
Dabei verband er die Lust am Formalen mit einem Hang für populäre Stoffe und drehte mit großen Stars des italienischen Kinos wie Marcello Mastroianni oder Ugo Tognazzi, aber auch mit Nastassja Kinski. Man kann gespannt sein, in welches neue Licht Lattuadas Werk in Locarno gerückt wird.

Ein Festival mit neuer Leitung

Auch die neue Festivalleitung lässt in diesem Jahr mit Spannung nach Locarno blicken. Es ist der erste Jahrgang unter Giona A. Nazzaro, der damit seine Vorgängerin Lili Hinstin nach nur einem Jahr ablöst. Warum Hinstin das Festival nach so kurzer Zeit wieder verlässt, ist unklar. Für ihre Arbeit hatte sie viel Lob erhalten.
Giona A. Nazzaro.
Der neue künstlerische Leiter Giona A. Nazzaro soll die Massen für das Festival in Locarno begeistern. Eine schwierige Aufgabe in Zeiten von Corona.© picture alliance / Keystone | Pablo Gianinazzi
Nun sieht es ganz danach aus, dass der Wettbewerb populärer ausgerichtet werden soll, um das lokale Publikum besser anzusprechen. Das jedenfalls verspricht Nazzaro. Für ihn ist das Kino eine "360-Grad-Angelegenheit": Er will nicht nur die jungen Cinephilen ansprechen – so wie es Lili Hinstin geplant hatte –, sondern möglichst viele Interessen berücksichtigen.
Das erklärt auch die italienische Retrospektive und das sehr großzügig angelegte Programm auf der Piazza Grande.
Bis 2018 leitete Carlo Chatrian das Festival, bevor er als künstlerischer Leiter zur Berlinale wechselte. Zwischen beiden gibt es viele Parallelen: Beide kommen aus der Filmkritik und arbeiteten später in unterschiedlichen Funktionen bei Festivals.
Auch künstlerisch deuten sich Kontinuitäten an: Der Wettbewerb versammelt in diesem Jahr viele Namen, die dem Festival seit Langem verbunden sind, darunter Abel Ferrara, Axel Ropert und Edwin. Regisseure, die Chatrian zum ersten Mal nach Locarno eingeladen hatte.
Der neue Leiter gilt als digitalaffin und will das Festival in Zukunft weiter ins Netz verlängern. Auch diese Pläne wird man in diesem Jahr schon ansatzweise erkennen können.

Laufen deutsche Filme in Locarno?

Das deutsche Kino ist eher durch eine Menge deutscher Schauspielerinnen und Schauspieler vertreten. Julia Jentsch und Hannah Herzsprung etwa spielen die Hauptrollen im Schweizer Film "Monte Verità". Er soll im Oktober in die Kinos kommen.
Franz Rogowski ist derzeit auch ein Star des österreichischen Kinos. In Locarno spielt er die Hauptrolle in Peter Brunners "Luzifer" – inspiriert von einer tatsächlich versuchten Teufelsaustreibung. Der österreichische Autorenfilmer Ulrich Seidl, bekannt für seine kontroversen Filme, war hier Produzent.
Der Spielfilm "Hinterland" von Oscar-Gewinner Stefan Ruzowitzky vereint Liv Lisa Fries [AUDIO] mit Murathan Muslu. Auch dieser Film soll im Oktober in die Kinos kommen.
Regisseurin Sabrina Sarabi zeigt in der Nebenreihe "Cineasti del presente" ihren zweiten Spielfilm "Niemand ist bei den Kälbern". Darin werden die unerfüllten Träume einer 24-jährigen Christin erzählt, die im Kälberstall unter der trügerischen Idylle des Landlebens zu ersticken droht. In die deutschen Kinos kommt der Film erst im nächsten Jahr. Aber mit der Filmemacherin sprechen wir am 7. August in unserer Kino-Sendung Vollbild.
Darüber hinaus gibt es noch eine erstaunliche Fülle an kurzen und mittellangen Filmen, die an deutschen Filmhochschulen entstanden sind und die Nähe des Festivals zum deutschen Kino zeigen.
Festivalleiter Giona Nazzaro hat eine klare Meinung zum deutschen Film: "Das deutsche Kino muss nichts mehr beweisen. Es ist international da." Zu seinen eigenen Lieblingen zählt Nazzaro etwa Christian Petzold, dessen Filmsprache er sehr schätzt: Sie sei mit den Jahren "immer präziser" geworden.

Weitere Highligts im Programm

Mit viel Spannung wird die Premiere von "Zeros and Ones" erwartet. Drehbuchautor und Regisseur Abel Ferrara setzt sich auch in seinem neuen Film mit dem Thema "Schuld und Sühne" auseinander. Eine Besonderheit: Zum ersten Mal seit geraumer Zeit hat der New Yorker Ferrara wieder in den USA gedreht. Seine vorangegangenen Filme entstanden alle in Europa.
Der Ehrenleopard "Pardo alla Carriera" geht in diesem Jahr an Dante Spinotti. Der italienische Kameramann hat in Hollywood Karriere gemacht und vor allem die Filme von Michael Mann in Bilder gefasst. Ihm zu Ehren wird das Meisterwerk "Heat" auf der Piazza Grande gezeigt werden. Sicherlich das Event, auf das sich Filmkritiker wie Filmfans am meisten freuen und freuen sollten.
In Locarno geehrt wird auch die US-amerikanische Filmproduzentin Gale Anne Hurd, die zu den profiliertesten Independent-Produzenten Hollywoods zählt und sich vor allem für das gehobene Actionkino einsetzt. Sie hat Filme wie "Terminator", "The Punisher" oder "Hulk" produziert. Auch das ist sicher eine spannende Begegnung, die man vor Ort machen kann.

Das 74. Locarno-Filmfestival findet zwischen dem 4. und 14. August 2021 statt.

Text: Patrick Wellinski, ckr, thg, mkn
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