62. Kurzfilmtage Oberhausen

Neues aus dem Labor der Filmbranche

Lars Henrik Gass, Festivalleiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, beantwortet am 08.04.2016 in Oberhausen (Nordrhein-Westfalen) während der Pressekonferenz Fragen der Journalisten. Das Festival zeigt vom 05.05. bis 10.05.2016 mehr als 500 Filme in mehr als 90 Programmen.
Festivalleiter Lars Henrik Gass sieht die Kurzfilmtage als "Urwald" der Filmbranche, "in dem alles wachsen, verfallen und neuwachsen darf." © picture alliance / dpa
Von Bernd Sobolla · 07.05.2016
In Oberhausen trifft sich alljährlich die Avantgarde des Films. Dieses Mal geht es um die Relativität von Geschichtsbildern, um Filme, die mehr als nur eine Geschichte erzählen und um ein neues Bild von Lateinamerika.
"In the beginning god created the heavens and the earth. Now, the earth was formless and empty."
In dem Deutschen Wettbewerbsfilm "Synthesis" schildert der Regisseur Christoph Girardet die Schöpfungsgeschichte: Dazu montiert er Bilder aus alten Wissenschafts-, Industrie- und Werbefilmen: So schweben Rauchwolken durch den Raum, Flüssigkeiten vereinigen sich und fest Erdoberflächen entstehen. Ein Film der religiöse Menschheitsgeschichte und künstliches Kreieren unter Laborbedingungen verbindet. Ein Film voller Ambivalenz, der exemplarisch zeigt, wofür die Kurzfilmtage in Oberhausen stehen: Für den kontinuierlichen Versuch, die Grenzen des Kurzfilms immer wieder neu zu definieren. Oder wie es Festivalleiter Lars Henrik Gass ausdrückt.
"Die Kurzfilmtage sind innerhalb der Filmbranche sozusagen der Urwald, in dem alles wachsen, verfallen und neuwachsen darf, und man sozusagen ein Experimentierfeld hat, in das nicht weiter eingegriffen wird und worin sich auch die Filmsprache und auch die Filmemacher selbst erneuern können. Jedes Industrieunternehmen hat sozusagen ein Labor, und Oberhausen ist das Labor der Filmbranche."

Assoziationsräume erschaffen

Damit dies auch künftig so bleibt, treffen sich täglich 30 Film- und Festivalmacher, Künstler, Wissenschaftler und Studenten in einem Seminar, um über Filme zu diskutieren, aber auch um sich klar von einem Kino abzugrenzen, das nur Geschichten erzählen will, wie die Irin Linda Curtin betont.
"Ich interessiere mich für Dokumentarfilme. Aber mehr in einem kreativen oder experimentellen Sinne. Ich versuche zum Beispiel Dokumentarfilmmaterial mit Inszenierungen und Animationen zu verbinden."
In Oberhausen geht es darum, Assoziationsräume zu schaffen, Gedanken anzustoßen, Emotionen freizusetzen und dabei unter Umständen eine Ästhetik einzusetzen, die für viele ungewohnt ist. Denn die Teilnehmer in Oberhausen verstehen sich als Avantgarde der Filmwelt.

Entzauberrte Mythen

Zu ihnen gehört auch der chinesische Filmemacher und Maler Sun Xun, dem in diesem Jahr eine Profil-Filmreihe gewidmet ist. Unter dem Motto "Geschichte ist eine Lüge der Zeit" thematisiert er vermeintliche Wahrheiten, die uns die Geschichtsschilderung liefert. So sieht man in seinen Werken oft einen Zauberer mit einem Zylinderhut. Er präsentiert Mythen, die sich als Luftschlösser entpuppen.
In der Ausstellung, die ihm die Kurzfilmtage ebenfalls widmen, präsentiert Sun Xun Bilder, die er nicht auf Leinwand oder weiße Pappe malt, sondern auf alte Zeitungen und Plakate. Es ist seine Art zu zeigen, dass Tatsachen und Wahrheiten immer auch eine Frage der Zeit und Perspektive sind.
"In meinem Schulbuch zum Beispiel bekam ich eine andere Geschichte erzählt als die, die mir meine Familie berichtete. Ich glaube an nichts, nicht einmal an das, was im Wörterbuch steht. Folge einfach deinem Geist und denke über alles nach! Alles verändert sich ständig. China entwickelt sich zum Beispiel wahnsinnig schnell, in Europa hingegen geht alles sehr langsam. In den letzten 20 Jahren veränderte sich China jeden Tag, so viel passierte. Das verwirrte die Leute, machte sie wütend, glücklich oder verrückt. Die Menschen sind wie Tiere, die von der Zeit angetrieben werden, und ich frage mich immer warum."

Unser Bild Lateinamerikas überdenken

Die Menschen, genauer gesagt die Menschen Lateinamerikas, stehen im Fokus des diesjährigen Themas: "El Pueblo – Auf der Suche nach dem neuen Lateinamerika", so lautet der Titel. Wobei die Filmreihe die Frage aufwirft, ob unsere Vorstellung von Südamerika – die geprägt ist von Armut und Gewalt – noch stimmt.
Bemerkenswert ist zum Beispiel dazu der Film "Echo Chambre" des kolumbianischen Regisseurs Guillermo Moncayo. Er zeigt, wie ein Junge mit einem Radio auf Eisenbahnschienen durch heruntergekommene Dörfer fährt, um die Bewohner vor einem Orkan zu warnen. Aber vielleicht zeigt der Film vielmehr noch die Ruhe vor dem Sturm – und meint dabei die politischen Stürme, die bald die Dörfer bzw. das Land erfassen werden.
Denn "El Pueblo" kann zwar als Dorf oder Volk übersetzt werden, es bedeutet im Spanischen jedoch viel mehr. Ein Volk ist nicht, wie im Deutschen eine eher abstrakte Größe, sondern steht für viele Schattierungen. So freut sich Festivalchef Lars Henrik Gass auf Kurzfilmtage, die gesellschaftliche Veränderungen auf allen Ebenen thematisieren und stellt zugleich die Frage:
"Was kann man auch immer jeweils lernen, auch über die aktuelle Situation hierzulande, wo ja derzeit unter dem historisch ja durchaus einmal sehr positiv besetzten Slogan 'Wir sind das Volk', heute auch Ausländerheime gestürmt werden. Da muss man dann auch mal fragen, wer sich unter welchen Umständen als Volk sieht."