50 Jahre LGBT: Homosexualität und Literatur

Weniger Identitätsspektakel, mehr Empathie

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Ein schwules Paar liegt mit geschlossenen Augen im Bett und die Sonne scheint ihnen ins Gesicht.
Das "Schwullesbische" sei aus der Literatur nicht mehr wegzudenken, sagt Marko Martin. © EyeEm / HEX Production
Marko Martin im Gespräch mit Joachim Scholl · 27.06.2019
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"Homosexuell" und "Literatur" - vor 50 Jahren ging das vielen nicht in den Kopf. Heute sind schwul-lesbische Romane keine Besonderheit mehr. Der Autor Marko Martin hat ein paar Empfehlungen - und fordert echte Literarizität ein.
"Schwullebische" Literatur gab es schon 1969. Allerdings war es zur Zeit der Stonewall-Proteste in New York für viele noch nicht vorstellbar, dass sie dereinst einfach "in den großen Strom der Literatur" eingeht, als "Teil einer komplexen, zivilisierten Gesellschaft", wie der Autor Marko Martin es formuliert.
50 Jahre nach der Geburtsstunde von Schwulenbewegung und Gay Pride gebe es nach wie vor schwule Literatur als Genre, sagt Martin. Und darauf spezialisierte Verlage.
In dieser Saison empfiehlt Martin unter anderem "Halbstark" von Mark Merlis - darin liest die Witwe eines Mannes dessen Tagebücher aus der Zeit vor der Ehe und der Revolte: "Und sie entdeckt eine ganz andere Facette ihres Mannes."
Neu in dieser Saison ist auch Rudolf Hanslians "Stephan". Das Buch erzählt vom homosexuellen Leben im Dritten Reich und wurde erst nach dem Tod des Autors auf einem Dachboden gefunden.
Mit "Ich will ihn berühren" gibt es außerdem einen Roman, der sich aus einer Twitter-Konversation entwickelt hat. "Eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Leuten, die allerdings sehr keusch ist." Das sei überhaupt zu beobachten, sagt Martin: Der Hedonismus von 1968/69 sei in "der Zeit nach Aids nicht mehr so en vogue".

"Wie kommt man zu sich selbst, das ist relativ langweilig"

Das "Schwullesbische" sei aus der Literatur nicht mehr wegzudenken, sagt Martin. Allerdings interessiert es ihn eher dort, wo Literarizität im Vordergrund steht - "wo die schwule Erfahrung gleichzeitig Sensorien und Sensibilitäten freisetzt, Aspekte in der Gesamtgesellschaft zu beschreiben, wie es dann nur aus einer Minderheitenposition heraus mit sehr genauem Seitenblick möglich ist", so der Schriftsteller: "James Baldwin hat mich da sehr geprägt."
Szene aus dem Kinofilm "If Beale Street Could Talk" von Barry Jenkins, Darsteller sind KiKi Layne und Stephan James
Baldwins Romane wie "Beale Street Blues", jüngst verfilmt, erzählen nicht nur vom Schwarzsein oder Schwulsein - sie erzählen von Mehrheiten- und Minderheitenperspektiven.© imago/Prod.DB
Baldwins New-York-Geschichten beschränken sich nicht auf homosexuelles Leben. Sie beschreiben für Martin "das Ineinander von Afroamerikanern, Weißen, Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Juden, Säkularen, Linken, Rechten." Wie kommt man zu sich selbst? Diese Frage sei eher langweilig, interessanter sei die Frage, die Baldwins Texte trägt: "Wie kommt man zu den anderen?"
Martin spricht von "der großen Neugier. Dass man nicht zuerst fragt, ist das schwul oder hetero, sondern: Ist das eine Menschenbiografie, die mich anrührt und die dann auch über das Erlebte hinweg zu einer literarischen Erfahrung werden kann?"

Selbstbezüglichkeit "im universitären Milieu"

Sorgen bereitet Martin eine Tendenz der Einigelung schwullesbischer, Transgender- und anderer queerer Identitäten "im universitären Milieu": "Die Abkopplung von anderen gesellschaftlichen Gruppen wird da geradezu zelebriert. Und ich glaube, gerade wenn man emanzipatorisch gestimmt ist, ist das etwas, was man bedauert."
Dabei gebe es gemeinsame Interessen mit anderen Gruppen. "Da war ja damals die Regenbogen-Koalition ganz stark, Martin Luther King, Bürgerrechte für Afroamerikaner, Rechte für Schwule, Lesben, das gehörte alles zusammen. Und das ist heute, zumindest im akademischen Bereich wieder voneinander getrennt, als eine Art der politischen Korrektheit, die ich sehr schade finde."
Der Journalist und Autor Marko Martin
Der Journalist und Autor Marko Martin© Deutschlandradio / Nils Heider
Die "Engführung zwischen schwullesbischen Themen und Demokratie-, Emanzipationsthemen" sei wichtig, sagt Martin. "Ich glaube, beides lässt sich nicht trennen. Und wenn man es nicht trennt und gleichzeitig aber nicht auf eine polemische Weise abhandelt, kann daraus große, empathische Literatur werden."

"Ein bisschen weniger Identitätsspektakel"

Der Schriftsteller und Publizist Martin wünscht sich von einer zeitgemäßen schwullesbischen Literatur insgesamt "ein bisschen weniger Identitätsspektakel" und "ein bisschen mehr Empathie für Schwule und Lesben, die von Tschetschenien bis Saudi-Arabien immer noch leiden". Das sehe er in schwullesbischer Gegenwartsliteratur nicht abgebildet, sagte er.
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