50 Jahre "Earthrise"

Als Apollo 8 die Erde über dem Mond aufgehen sah

Eine der Ikonen der Raumfahrt: "Earthrise", beobachtet von den Astronauten an Bord von Apollo 8
"Bunt und unglaublich schön - die Erde ist ein Sonderfall", sagt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp. © NASA
Horst Bredekamp im Gespräch mit Ute Welty · 24.12.2018
Am 24. Dezember 1968 fotografierte der Astronaut William Anders den Aufgang der Erde über dem Mondhorizont. Das "Earthrise" genannte Foto inspirierte die Umweltbewegung und die Philosophie, erklärt Kunsthistoriker Host Bredekamp.
Ute Welty: Heute vor 50 Jahren entstand "Earthrise", ein ganz besonderes Foto. Nur ein einziger Mann hat es machen können: William Anders gehörte zur Besatzung von Apollo 8, und am 24. Dezember 1968 fotografierte er mit einer Hasselblad 500 und mit einer Brennweite von 240 Millimetern die über dem Mond aufgehende Erde. Das "Time Magazine" zählt "Earthrise" zu den 100 einflussreichsten Fotografien.
Grund genug für uns, mit Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Horst Bredekamp über die Bedeutung und die Besonderheit von NASA-Foto AS8142383HR zu sprechen. Herr Bredekamp, wie kann ein Bild mit einer so nüchternen Nummer solche Emotionen auslösen?

Der Mensch nimmt eine göttliche Perspektive ein

Bredekamp: In der Tat ist diese Nummer in der Fotografiegeschichte fast mythisch geworden. Es ist das erste Bild, das die Welt von oben zeigt. Und nicht nur von oben als ganzes, sondern mit Erblickung auch des Horizontes des Mondes. In diesem Moment war die Erde sozuagen als eigener Stern in einem dramatischen Perspektivwechsel erkennbar. Darin liegt diese gar nicht zu übertreibende Bedeutung dieser Aufnahme, die große Effekte auf verschiedenste Bewegungen hatte, vor allem die Ökologiebewegung.
Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp
Unser Gesprächspartner: der Kunsthistoriker Horst Bredekamp.© dpa / Tim Brakemeier
Welty: Dieser Perspektivwechsel besteht ja vor allen Dingen darin, dass der Mensch nicht mehr zum Himmel hinaufblickt, sondern aus dem All herab. Inwieweit hat dann diese Perspektive auch Allmachtsfantasien beflügelt, so nach dem Motto: Wenn wir diesen Blick haben, können wir alles.
Bredekamp: Diese Vorstellung rührt von der Geschichte des Sündenfalls. Das Paradies ist oben und der Mensch fällt auf die Erde herab. Schon die Flugfantasien, die es immer in allen Mythen, in allen Religionen gegeben hat, spielen mit dieser Grundposition: Oben ist etwas Besonderes, etwas Göttliches. Und alle Bewegungen nach oben zehrten von dieser Vorstellung, dass der Mensch ein zweiter kleiner Gott werden könnte. Das sind Flugfantasien, das sind die Ballonflüge, das sind natürlich die Flugzeugbewegungen und dann die Raketen. Auch das Teleskop hat diese Funktion unmittelbar erfüllt, das, was oben ist, sehr nah zu bringen.
Aber mit dem Blick auf die Erde von oben herab war eben tatsächlich jene Sphäre erreicht, von der aus etwas Übermenschliches, also etwas Göttliches herabblickt. In diesem Sinn hat dieses Foto auf eine sehr komplexe Weise die Vorstellung vom Menschen als einem über die Erde sich Erhebenden, also quasi Göttlichen angefeuert.

"Die Erde ist ein Sonderfall"

Welty: Auf der anderen Seite zeigt "Earthrise" eine Erde, die verletzlich und zerbrechlich wirkt. Sie haben ja schon angesprochen, welche Symbolkraft dieses Bild dann später für die Umweltbewegung entfaltet hatte. Hat man dieses Potenzial des Bildes gleich erkannt, oder hat das einige Zeit gebraucht?
Bredekamp: Das war unmittelbar. 1968 fand in Stockholm die erste große UN-Konferenz zur Behütung der Umwelt statt, und es war eine Fügung, dass genau in diesem Jahr dieses Foto gemacht werden konnte, auch ausgerechnet am 24. Dezember: Alles kam zusammen, um hier fast eine Bestimmung zu sehen. Noch mehr hat diese große Bedeutung 1972 die zweite sogenannte "Blue Marble" erweckt, wo die Erde insgesamt, als große Kugel ohne Verschattung, zu sehen war: Die Erde ist ein Sonderfall, ein Staubkorn im Weltall, aber ein Sonderfall, weil sie bunt ist und unglaublich schön. Die Erde ist so schön, dass sie umsorgt werden muss, dass sie, in Anführungszeichen, in unsere Obhut gegeben werden muss. Unsere Heimat ist auch unser Garten, der gepflegt werden muss. Da verband sich also das Motiv des göttlichen Gärtnerns, des Behütens, dann der Ökologiebewegung in konkretem Sinn, mit den Allmachtsfantasien.

Eine real gewordene philosophische Utopie

Welty: Für Sie ist das Bild der Welt aus dem All ein wahres Weltbild, eine veritable Ikone des 20. Jahrhunderts. Was meinen Sie damit genau?
Bredekamp: Es ist der erste Perspektivwechsel. Immer haben Philosophen über die Möglichkeit gesprochen, dass der Mensch sich gleichsam über die Schulter sieht und auf sich selbst aus einer gewissen Distanz herabblickt oder sich von der Seite her über die Schulter blickt, um sich selbst erkennen zu können. Und hier ist erstmals diese philosophische Utopie real geworden, und das hat diese Aufnahme zu einem so großartigen Status gebracht: Erstmals blickt der Mensch distanziert in all seiner Macht, aber auch seinem Zwang sich und die Erde, in erster Linie, zu behüten. Diese drei Funktionen haben ja ausgerechnet am 24. Dezember diese Erhöhung bedeutet, die völlig zu Recht besteht.

Ein Bild mit Langzeitwirkung

Welty: Wie wird sich unser Weltbild weiter verändern, wenn es immer mehr Bilder gibt, unter anderem von der ISS und zum Beispiel von Astro-Alex?
Bredekamp: Beide Komponenten werden sich verstärken – sowohl die überwachende, die mit Macht versehene Fantasie wird sich immer stärker ausspielen, aber dann auch die umsorgende –, und es wird eine Frage sein, ob diese beiden Komponenten jemals gegeneinandergerichtet werden können.
Wenn wir uns mit unseren Handtelefonen durch die Straßen oder auf fahrbaren Automobilen, wie auch immer, Fahrrädern bewegen und Google Earth benutzen, dann ist das die langzeitige Folge dieses vor einem halben Jahrhundert gemachten Bildes. Wir orientieren uns über die Orientierung in den Himmel auf der Erde, aber zugleich werden wir mit jedem Schritt überwacht. Das ist die Doppelseite, die mit der Langzeitwirkung dieses Bildes versehen ist, und es kommt darauf an, ohne jede Frage, beides in ein Gleichgewicht zu bringen und nicht die eine oder die andere Seite dominieren zu lassen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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