50 Jahre Debütalbum von Ton Steine Scherben

Magische Songs von revolutionärer Kraft

07:59 Minuten
Rio Reiser liegt bei einem Konzert seiner Band Ton Steine Scherben in der UFA Fabrik 1984 auf dem Rücken.
Musik mit Körpereinsatz: Rio Reiser bei einem Konzert seiner Band Ton Steine Scherben in der Berliner UFA-Fabrik 1984. © imago images / Roland Owsnitzki
Christiane Rösinger im Gespräch mit Carsten Beyer  · 10.06.2021
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"Rio wird in seinen Songs weiterleben", sagt Christiane Rösinger. Über das Gezerre um die Umbenennung des Kreuzberger Heinrichplatzes würde sich der verstorbene Scherben-Sänger Rio Reiser kaputtlachen, staatsfern wie er war.
Es gibt wohl nur wenige Musiker, an denen man die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den 70er-Jahren so gut festmachen kann wie an Rio Reiser und der Band "Ton Steine Scherben". Für die einen waren sie gefährliche Radikale und geistige Brandstifter, andere haben sie auf einen Sockel gestellt und ihre schonungslose Abrechnung mit dem Kapitalismus und seinen Auswüchsen gefeiert. 1971, also vor 50 Jahren, erschien ihr Debütalbum "Warum geht es mir so dreckig?", auf dem auch das bekannte Lied "Macht kaputt, was Euch kaputt macht" ist.

"Wir müssen hier raus"

Christiane Rösinger macht Musik in Bands wie den Lassie Singers und Britta. Sie hat auch den Scherben-Song "Wir müssen hier raus" gecovert, zuletzt auch ein Musical über die Wohnungsnot in Berlin am Theater Hebbel am Ufer gemacht. Es gibt also genug thematische Anknüpfungspunkte zu der Band um Rio Reiser und R.P.S. Lanrue, die auch für die Hausbesetzerbewegung eine wichtige Rolle gespielt hat. So ist der "Rauch-Haus-Song" eine Hymne der Besetzer und wurde von Reiser nach der Räumung des besetzten Bethanien durch die Polizei 1972 geschrieben. Für Rösinger gibt es auch eine sehr persönliche Geschichte.
Ein Gig von Ton Steine Scherben sei eines ihrer ersten Konzerte überhaupt gewesen, sagt die heute 60-Jährige: "Die haben doch seltsamerweise in dem kleinen Muggensturm in der Nähe von Rastatt gespielt. Dann habe ich das Lied gehört. Ich habe gedacht, jetzt musst du dein Leben ändern. Wo ist hier raus? Wegziehen aus dem Badischen, am besten nach Berlin. Du musst hier raus."
So schlimm wie im Text – "Das ist die Hölle, wir leben im Zuchthaus" – sei es in Rastatt zwar nicht gewesen, sagt Rösinger rückblickend: "Aber es ist einfach dieses Lebensgefühl, weil man einfach eingeengt ist, weil man eine Lehre macht, weil die Arbeitsbedingungen schlecht sind", erinnert sie sich. "Das Lied hat mich das ganze Leben lang begleitet." Das sei einer der Gründe gewesen, warum sie genau das Lied mit ihrer Band gecovert habe.

Die Wut von Ton Steine Scherben ist aktuell

Rösinger will nicht davon sprechen, dass die Songs von Ton Steine Scherben heute noch hochaktuell wären: "Diese Kapitalismuskritik würde man heute anders formulieren, weil es auch heute andere Themen gibt. Aber für mich als Musikerin waren Ton Steine Scherben einfach so zielsetzend für den Umgang mit der Sprache. Auch diese Wut, die in den Songs drin war, das ist natürlich heute immer noch inspirierend."
"Es sei der Band gegönnt, dass sie sich zum 50-Jährigen feiert", sagt Rösinger. "Aber ich finde es eigentlich wichtiger, dass die Songs weiterleben." Auf Mietendemos liefen die Lieder immer noch, "'Das ist unser Haus' und "Schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus" – kein Mensch weiß mehr, wer diese Politiker damals waren", sagt sie, "aber die Lieder werden immer noch gesungen."
Schwarz-Weiß-Bild einer Hausbesetzung in Kreuzberg in den 80er-Jahren. Menschen sitzen und stehen vor einem besetzten Haus.
Hausbesetzerszene in Kreuzberg in den 80er-Jahren. Für die Szene waren Ton, Steine, Scherben sehr wichtig.© picture alliance / akg-images
In dem Sinne seien die Lieder immer noch sehr aktuell: "Einfach auch diese Wut, die diese Band ausgestrahlt hat", sagt die Musikerin. "Es hieß ja damals, nach jedem Scherben-Konzert wird irgendwo ein Haus besetzt oder passiert irgendwas. Das war, glaube ich, das Außergewöhnliche: dass die Lieder einfach so eine Kraft haben, dass sie fast eine revolutionäre Kraft haben, heute immer noch."
Sie selbst bekomme heute immer noch Gänsehaut, wenn sie den Song irgendwo höre, wenn jemand die Lautsprecher ins Fenster gestellt habe und dann Ton Steine Scherben laufen lasse. "Das hat schon was Magisches in diesen Songs."
Rösinger bedauert allerdings, dass die Band und ihre Lieder auch von der falschen Seite instrumentalisiert werden: "Die Scherben werden heute von vielen benutzt, leider auch von rechten Gruppen." Songs wie "Allein machen sie dich ein" würden auch in einem rechten Kontext gehört, aber dafür könne Rio Reiser, die Band und auch sonst niemand was.

Ärger um den Rio-Reiser-Platz

An den Vorgängen um den Heinrichplatz in Berlin, der am kommenden Wochenende in Rio-Reiser-Platz umbenannt werden sollte, lässt sie kein gutes Haar. Weil einige Anwohner Einspruch eingelegt haben, wurde die Umbenennung verschoben. Rösinger finden die ganze Idee peinlich:
"Rio Reiser war ein sehr staatsferner Mensch im besten Sinne: Wenn man die Platten hört, will man mit dem Staat nichts zu tun haben, man lehnt diese Institution ab", erläutert Rösinger.
"Damals war die Hausbesetzerszene in Berlin: der Mariannenplatz war blau, das Rauch-Haus", setzt Rösinger an, die selbst in Kreuzberg lebt. "Jetzt haben wir hier in Kreuzberg eine grüne Regierung und eine grüne Bezirkspolitik, die der Gentrification und der Touristifizierung alle Türen öffnet", empört sie sich.
"Dann nimmt man so einen Säulenheiligen wie Rio Reiser, der nichts damit zu tun haben wollte – der würde sich kaputtlachen, wenn er noch leben würde, um dieses Hin und Her – und nimmt ihn als Feigenblatt. 'Wir sind ja so aufgeschlossen, wir nehmen so einen schwulen Sänger, der antikapitalistisch war, der gegen den Staat war – nach dem benennen wir jetzt einen Platz.'"
Rösinger lehnt das vehement ab: "Ich finde, dass das nicht zu einer Figur wie Rio Reiser passt. Deswegen finde ich es wichtig, dass der Platz nicht so benannt wird. Ich finde, Rio wird in seinen Songs weiterleben. Da braucht es nicht so einen Staatsakt, so einen Platz. Das ist lächerlich."
(mfu)
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