40 Jahre Mitbestimmungsgesetz

Vom Arbeitnehmer zum "Bürger im Betrieb"

Reiner Hoffmann, Vorsitzender der Deutschen Gewerkschaftsbunds
DBG-Chef Reiner Hoffmann: Keine Angst vor Globalisierung und demografischen Wandel © imago stock & people
Reiner Hoffmann im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 30.06.2016
Wo Mitbestimmung praktiziert werde, seien die Arbeitsbedingungen deutlich besser, betont DGB-Chef Reiner Hoffmann. Die Mitbestimmung habe sich "mehr als bewährt". Vor 40 Jahren trat ein Gesetz in Kraft, das Mitarbeitern Zugang zu Aufsichtsräten und Vorständen in der Montanindustrie eröffnete.
Anlässlich von 40 Jahren Mitbestimmungsgesetz fordert der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, einen weiteren Ausbau der Beteiligung von Arbeitnehmern an den Entscheidungsprozessen in den Unternehmen
Die Mitbestimmung sei Ausdruck von Wirtschaftsdemokratie, sie mache die Arbeitnehmer zu Bürgern im Betrieb, sagt er. Das habe sich "mehr als bewährt". Denn dort, wo Mitbestimmung praktiziert werde, seien die Arbeitsbedingungen besser. Zukünftig müsse es deswegen mehr Mitbestimmung geben.

Die Arbeit der Zukunft muss "gute Arbeit" sein

Hoffmann widerspricht dem Eindruck, dass die Gewerkschaften nur noch Rückzugsgefechte führen. Das sei falsch, sagte er. Die Gewerkschaften wollten die "Arbeit der Zukunft" gestalten. Das solle "gute Arbeit" sein. Der DGB sei nicht blind für die Veränderungen durch Globalisierung und demografischen Wandel, so Hoffmann.
"Wir erkennen durchaus die Risiken, aber wir sitzen (…) nicht wie ein Kaninchen vor der Schlange und sind lediglich Kritiker des Wandels", sagte er.

Mitbestimmung in den Betrieben ist rückläufig

Hoffmann räumt allerdings ein, dass die Anzahl der Unternehmen, in denen das Mitbestimmungsgesetz Anwendung findet, zurückgegangen ist. Das geschehe vor dem Hintergrund der europäischen Niederlassungsfreiheit: Über die Umwandlung von Firmen in eine ausländische Rechtsform oder in eine europäische Aktiengesellschaft werde das Gesetz umgangen, betonte er.
Vor 40 Jahren, am 1.Juli 1976, trat das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Kraft, das die Aufnahme von Arbeitnehmervertretern in die Aufsichtsräte der Unternehmen regelt. Zuvor war allerdings, trotz einer sozialliberalen Parlamentsmehrheit, der Versuch gescheitert, die paritätische "Montanmitbestimmung" auf alle Großunternehmen auszuweiten.

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Unsere lieben französischen Nachbarn kämpfen ja gerade nicht nur auf dem Platz, sondern auch auf der Straße. Heftige Demos gegen Arbeitsmarktreformen, angeführt von den Gewerkschaften, die da seit jeher lieber streiken als verhandeln und häufig mit einer Mischung aus Ver- und Bewunderung auf die deutschen Gewerkschaftskollegen schauen, die nämlich ganz häufig mit am Tisch sitzen, wenn Unternehmen Entscheidungen treffen. Am 1. Juli 1976 trat das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Kraft. Das wollen wir kritisch feiern mit dem Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, mit Reiner Hoffmann. Guten Morgen!
Reiner Hoffmann: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Das klingt heute wie ein Sieg, aber damals war es ja eigentlich auch eine kleine Niederlage für die Arbeitnehmer. Sie hatten sich damals mehr erhofft, nämlich die wirkliche Gleichberechtigung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Aufsichtsrat der großen Konzerne. Können Sie trotzdem feiern heute?

Arbeitnehmer sollten an wirtschaftlichen Entscheidungen beteikgt werden

Hoffmann: Ich glaube, wir haben allen Grund, selbstbewusst auf 40 Jahre Mitbestimmung in Deutschland zurückzublicken. Und eigentlich schauen wir auf 65 Jahre zurück. Weil, Sie haben zu Recht angesprochen, dass wir seinerzeit 1976 keineswegs zufrieden waren, die Gewerkschaften sind angetreten, um die paritätische Mitbestimmung durchzusetzen, das heißt die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an wirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmen. Und das war vor 65 Jahren Gegenstand, Grundlage der Montanmitbestimmung. Und wenn wir heute 40 Jahre auf die Unternehmensmitbestimmung zurückschauen, dann, kann ich nur sagen, sollten wir uns auch an der Montanmitbestimmung orientieren und aus ihr lernen und sie nicht einfach in die Geschichtsbücher verdammen.
Frenzel: Die Tatsache, dass wir heute etwas feiern, das damals als eher kleine Lösung gefunden wurde, zeigt das, wie stark die Arbeitnehmerseite an Bedeutung verloren hat im Vergleich zu den 70ern? Damals war ja die Rede von der Wirtschaftsdemokratie.
Hoffmann: Davon reden wir auch heute noch, weil, die Mitbestimmung ist schon auch ein Ausdruck von Wirtschaftsdemokratie. Die Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an unternehmerischen Entscheidungen, Arbeitnehmer werden mit der Mitbestimmung, wenn Sie so wollen, Bürgerinnen und Bürger im Betrieb und das hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als bewährt.
Und wir sind allerdings auch selbstbewusst genug zu sagen: Wir leben in Zeiten eines weitreichenden wirtschaftlichen Wandels, durch Globalisierung oder auch Digitalisierung vorangetrieben, und wir müssen heute nach 40 Jahren auch reflektieren: Wie können wir die Mitbestimmung in Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern zukunftsfest machen?
Frenzel: Zukunftsfest, heißt das, dass wir mehr Mitbestimmung brauchen als im Moment?
Hoffmann: Ich denke, wir brauchen auf jeden Fall mehr Mitbestimmung, weil, bei allen Erfolgen und bei aller Anerkennung, die die Mitbestimmung auch bei den Arbeitgebern – nicht bei allen, aber doch bei ganz vielen – heute genießt, müssen wir feststellen, dass die Zahl der mitbestimmenden Unternehmen zurückgegangen ist. Wir haben heute noch 635 Unternehmen, wo die 76er-Mitbestimmung gilt, wir waren mal bei knapp 780 Unternehmen, die unter die Mitbestimmung gefallen sind. Und wir erleben, dass gerade auf dem Hintergrund der europäischen Niederlassungsfreiheit Unternehmen die Umgehung der Mitbestimmung praktizieren, indem sie sich in eine ausländische Rechtsform umwandeln oder europäisches Recht zur Anwendung bringen wie beispielsweise die Europäische Aktiengesellschaft.
Frenzel: Das ist eine Entwicklung, aber es gibt ja auch die andere Entwicklung: Start-ups, aber eben nicht nur dort, viele Unternehmen, die heute mit flachen Hierarchien arbeiten … Hat sich da was entwickelt, wo Sie als Gewerkschaft gar nicht mehr die große Rolle spielen?

Direktere Formen der Partizipation in Start-ups

Hoffmann: Ich glaube, das ergänzt sich, weil wir gerade auch in den Start-ups sehen, in kleineren Unternehmen, dass Menschen partizipieren, beteiligt werden wollen. Und in den kleineren Start-ups sind natürlich viel direktere Formen der Partizipation anzutreffen. Wir erleben allerdings auch: Wenn diese Unternehmen dann erfolgreich wirtschaften und auch wachsen im Hinblick auf die Anzahl der Beschäftigten, dann erhält auch dort die Mitbestimmung einen großen Stellenwert. Wir erleben das beispielsweise bei der SAP, dem großen bundesrepublikanischen Software-Hersteller, wo wir durchaus nach vielen Jahren kritischer Auseinandersetzung auch heute über einen Aufsichtsrat, einen mitbestimmenden Aufsichtsrat verfügen und die Konflikte, die Auseinandersetzungen, die wir noch vor wenigen Jahren hatten, doch in eine wesentlich konstruktivere Form der Kooperation gemündet sind. Das ist ein Entwicklungsprozess und an dem müssen wir weiter arbeiten.
Frenzel: Weiter arbeiten ist ein gutes Stichwort, Herr Hoffmann. Viele Menschen – und ich glaube, das darf ich mal so pauschal sagen – haben den Eindruck bei den Gewerkschaften häufig, dass sie nur Verteidigungskämpfe führen, nur Rückzugsgefechte, den Status quo verteidigen. Wie kommt das eigentlich?
Hoffmann: Ich glaube, dieser Eindruck ist schlicht und ergreifend falsch. Wir sind angetreten, um die Arbeit der Zukunft zu gestalten, gute Arbeit. Und wenn wir auf die Mitbestimmung zurückschauen, dann sehen wir doch ganz klar, dass da, wo wir Mitbestimmung praktizieren, sind die Arbeitsbedingungen deutlich besser, werden Tarifverträge eingehalten. Das ist ein Markenzeichen von guter Arbeit und wir sind ja nicht blind für die Veränderungen, die eben mit Globalisierung oder mit dem demografischen Wandel einhergehen, sondern wir sagen: Wenn wir diese Herausforderungen meistern wollen im Sinne von guter, qualifizierter Arbeit, dann muss sich auch die Mitbestimmung, müssen sich die Gewerkschaften darauf einstellen.
Und ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, wenn wir sagen, wollen selbstbewusst die Arbeit der Zukunft gestalten, wir erkennen durchaus die Risiken, aber wir sitzen lange nicht wie ein Kaninchen vor der Schlange vor den Risiken und sind lediglich Kritiker des Wandels, sondern wir identifizieren die Chancen, die sich beispielsweise ergeben, auch für neue Arbeitszeitarrangements, wo Arbeitszeitsouveränität für die Beschäftigten einen größeren Stellenwert spielen werden, wo wir neue Belastungsformen in der digitalen Arbeit erkennen, wo wir andere Formen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes brauchen. Alles das sind Tätigkeitsbereiche von praktizierter Mitbestimmung, die wir offensiv nach vorne gewandt angehen und uns nicht sozusagen, wie ja häufig uns vorgeworfen wurde, uns als die Dinosaurier der Industriegesellschaft gebaren.
Frenzel: Herr Hoffmann, eine Frage, auf die Sie bitte mit Ja oder Nein antworten, eine Ausblicksfrage: Heute in 40 Jahren, wird es da mehr oder weniger Mitbestimmung geben als heute?
Hoffmann: Mehr Mitbestimmung.
Frenzel: 40 Jahre Mitbestimmung in Deutschland, dazu im Interview der DGB-Chef Reiner Hoffmann. Herr Hoffmann, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Hoffmann: Ich danke Ihnen ganz herzlich, Herr Frenzel!
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