3D-Zeugnis einer Holocaust-Überlebenden

Antworten aus dem Jenseits

09:44 Minuten
Die 97-jährige Holocaust-Überlebende Zilli Schmidt sitzt in einem Sessel und schaut in die Kamera.
Hunderte Fragen musste die 97-jährige Holocaust-Überlebende Zilli Schmidt für das Projekt "Interaktive digitale Zeugnisse" beantworten. © Deutschlandradio / Ernst-Ludwig von Aster
Von Ernst-Ludwig von Aster · 27.10.2021
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Zeitzeugen beantworten Fragen – auch nach ihrem Tod. Das ist die Idee des "Interaktiven digitalen Zeugnisses". Derzeit dokumentieren Historiker die Erinnerungen der letzten Auschwitz-Überlebenden mit Hightech, auch das der 97-jährigen Zilli Schmidt.
Renate sucht Kaffee und Filter in der Küche. Zilli Schmidt sitzt in ihrem großen Sessel mit dem Fußhocker davor und gibt Ratschläge. Die kleine Frau mit den großen Perlenohrringen schüttelt immer wieder den Kopf, neckt ihre Schwiegertochter. Kaffee-Ritual in einem Mannheimer Vorort.
Renate findet erst den Kaffee, dann den Filter. Zilli nickt zufrieden, greift zur Zigarette. Der Ärmel ihres blauen Kleides rutscht etwas nach oben, gibt eine Tätowierung auf dem Unterarm frei. "Die habe ich in Auschwitz gekriegt, von Bogdan. Guck, das war das Z , Zigeuner. Siehst du, das habe ich mit der Rasierklinge versucht, ging aber nicht weg, kam immer wieder."
Am 11. März 1943 sticht im sogenannten Zigeunerlager in Auschwitz ein Mithäftling die Tätowierung in Zillis Unterarm: "Z 1959". Für die Nazis ist die 19-Jährige von da an nur noch eine Nummer. In den folgenden Wochen bringen Züge Tausende Sinti und Roma in das Vernichtungslager. Auch Zillis Vater, Mutter, Zillis kleine Tochter, ihre Schwester mit sechs Kindern, ihre beiden Brüder. "Da vergeht keine Woche, wo ich da nicht träume. Da laufe ich hier herum und weine und rauche Zigarette. Da bin ich in Auschwitz."
Ihre Tochter Gretel, ihre Eltern, ihre Schwester mit sechs Kindern – sie alle wurden am 2. August 1944 in Auschwitz vergast. Bei der sogenannten "Liquidation des Zigeunerlagers". Nur Zilli und ihre beiden Brüder überlebten. (*)

Eine der letzten Auschwitz-Überlebenden

"Es ist in großes, großes Glück, dass Zilli Schmidt so spät in ihrem Leben – salopp gesagt – noch die Kurve zum Erzählen gekriegt hat, nein, dass sie noch die Kraft gefunden hat, ihre Geschichte öffentlich zu machen", sagt Jana Mechelhoff-Herezi. Die Historikerin arbeitet für die Stiftung Denkmal, betreut die Erinnerungsarbeit über das Schicksal der Sinti und Roma.
2018 trifft sie Zilli Schmidt das erste Mal. Es folgen stundenlange Interviews, immer wieder treffen sich die Historikerin und die alte Sintezza. "Bei einer hochbetagten Überlebenden wie Zilli Schmidt, sie ist dieses Jahr 97 geworden, sitzt einem sozusagen immer die Sorge im Nacken, wie lange das noch gut geht, wie lange sie noch sprechfähig sein wird. Sie ist ja tatsächlich eine der Allerletzten. Was passiert, wenn das nicht mehr gegeben ist?"
2019 spricht Zilli Schmidt das erste Mal öffentlich über ihre Geschichte. Ein Jahr später gibt die Stiftung Denkmal ein beeindruckendes Buch mit ihren Lebenserinnerungen heraus. Und nun mit 97 Jahren nimmt sich Zilli Schmidt noch einmal Zeit für ein Geschichtsprojekt. "Es geht letztlich um 3D-Projektionen und interaktive Zeugnisse. Wir sprechen auch von interaktiven Biografien von Überlebenden des Völkermords", sagt Markus Gloe, Professor und Geschichtsdidaktiker an der Universität München und einer der Koordinatoren des Projekts. Zeitzeugen-Erinnerungen dokumentieren und digitalisieren und sie so einer vor allem jungen Öffentlichkeit zugänglich machen – das ist die Idee.
Zeitzeugen in 3D. Ein technisches aufwendiges Verfahren: In einem Mannheimer Hotel beantwortete Zilli Schmidt vier Tage lang einige hundert Fragen, gefilmt von zwei hochauflösenden Kameras, befragt von Jana Mechelhoff. "Es ist schon eine besondere Situation, räumt diese ein. "Es ist ja alles synthetisch in diesem Hotelzimmer. Es ist ja alles schwarz, damit diese Aufnahme in der höchstmöglichen Qualität erfolgen kann. Es ist warm natürlich. Sie sitzt da in einem Stuhl. Dann wird immer an einem Kissen in ihrem Rücken rumgerückt, die Jacke muss immer gleich sitzen, das sind so viele äußere Bedingungen, die dann passen müssen." Damit am Ende ein digitales 3D-Bild entsteht. Die Vorbilder kommen aus den USA und Großbritannien. Der Ansatz ist immer derselbe. Die Zeitzeugen beantworten Hunderte von Fragen. Die Antworten werden aufgezeichnet, bearbeitet und gespeichert.
Wenn Interessierte dann später Fragen an Zilli Schmidt stellen, bringt eine Spracherkennungssoftware Frage und Antwort zusammen. Die Zeitzeugen erscheinen dabei hochauflösend in 3D. Die interaktiven Zeugnisse von zwei jüdischen KZ-Überlebenden haben Gloe und seine Kollegen bereits in diesem Format erstellt.

Hunderte Fragen beantworten

"Insgesamt treffen wir auf ein großes Interesse, eine große Begeisterung." Vor allem sähen die Leute ein Mehrwert darin, dass sie eine Möglichkeit haben, ihre eigenen Fragen zu stellen." Schülerinnen und Schülern konnten in einem ersten Testdurchlauf ihre Fragen stellen. Beobachtet von den Wissenschaftlern. "Für uns auch erstaunlich war, dass sie gar nicht so sehr Fragen stellen, die sich auf die Zeit des Völkermordes kaprizieren, sondern, dass sie auch ganz viele Fragen stellen, die vor allem auf die Zeit nach dem Dritten Reich fokussiert sind." Beispielsweise: Wie hat man wieder Fuß gefasst, wie konnte man weiterleben, wie hat man das verarbeitet? Bis hin zu den Fragen, ob man heute noch Opfer von Diskriminierungen oder Opfer von antisemitischen Äußerungen wird. "Das fanden wir dann schon überraschend, der Fokus dessen, dass es eher auf der Nachkriegszeit liegt als auf den Erinnerungen und Erlebnissen während des Nationalsozialismus."
Erfahrungen, die für zukünftige Zeitzeugen-Befragungen interessant sind, legt doch das Fragengerüst die Grundlage für die digitale Erinnerungsstruktur. Allerdings sei es manchmal kompliziert, komplexe Erinnerungen mit einfachen Fragen zu erfassen, sagt Gloe.
Bei Zilli Schmidt habe es nicht ganz so gut funktioniert, "dass man eben gerade dieses Springen, von einem Erlebnis in eine ganz andere Zeit, zu einem anderen Erlebnis". Deshalb hätten sie sich beim Dreh ein Stück weit umentschieden. "Wir bleiben in bestimmten thematischen Gebieten und fragen zu diesen thematischen Gebieten, sodass wir hoffen, dass damit auch eine gute Interaktion möglich sein wird." Denn die 97-jährige Zilli Schmidt liebt das Erzählen: lebhaft und anekdotenreich.

Eine neue Form des Erinnerns

Dabei geht es nicht nur um Verfolgungs-, Flucht- und Auschwitz-Erfahrungen: "Auch hier wurde wieder viel gelacht", sagt Mechelhoff. "Wir haben uns auch über die Qualität von Lippenstiften unterhalten: Dass man nur französische Lippenstifte einer ganz bestimmten Marke kaufen sollte, weil alles andere Murks ist. Zilli hatte eine ganz große Leidenschaft für Schuhe, die wurden in Hamburg eingekauft, weil es da die besten hochhackigen Schuhe gab. Solche Passagen habe es in dem Interview auch gegeben. "Es war dann nicht nur ganz schwer und belastend."
Ob das interaktive, digitale Zeugnis auch diese Wesenszüge der 97-Jährigen abbilden kann, oder ob das Frage-Antwort-Konzept dafür zu eng ist, das ist für Jana Mechelhoff dann auch noch eine unbeantwortete Frage. "Wenn man eine Überlebende eines Völkermords befragt, das sind immer eher schwere Fragen, das sind hoffentlich auch Fragen nach Widerstand oder woher sie Hoffnung schöpfte oder Fragen nach Solidarität." Die anderen Fragen, "die ganz individuell, persönlich sind und die Person auch ganz stark konturieren, da fällt es mir schwer vorzustellen, wie die in solchen Formaten Platz finden könnten."
Was bedeutet: Es gibt noch viel Arbeit für die Programmierer und Digital-Chronisten, und falls Frage und Erzählung dann doch nicht zueinander passen sollten, darauf hat Zilli Schmidt auch eine Antwort.
"Zilli, wir müssen jetzt mal ein paar technische Sachen machen, wenn du das einfach einmal sagst: ‚Dazu haben wir leider keine Antwort aufgezeichnet.‘"
"Leider habe ich da keine Antwort drauf, richtig?"
"Das war dann eher lustig. Das war dann so ein Stakkato, dann habe ich es ihr gesagt, dann hat sie mir das nachgesagt, dann hat sie es ein bisschen gesagt, das war eigentlich einer der lustigsten Teile, eigentlich."
Derzeit arbeiten Programmierer und Filmproduzenten an der Endfassung des digitalen Zilli-Zeugnisses. Eine neue Form des Erinnerns. Die vielleicht Interesse wecken kann, noch tiefer in die Geschichte einzusteigen.
(*) Redaktioneller Hinweis: Wir haben eine Jahreszahl korrigiert.
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