35 Jahre Tschernobyl

"Kernenergie ist ein Elitenprojekt geworden"

06:52 Minuten
Schwarzweiße Luftaufnahme eines zerstörten Atomreaktors.
Der zerstörte Atomreaktor von Tschernobyl, aufgenommen wenige Tage nach der Katastrophe. Bis heute wirkt der Super-GAU nach. © picture alliance / Associated Press / Anonymus
Frank Bösch im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 26.04.2021
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Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl jährt sich zum 35. Mal – für die historische Forschung der ideale Abstand für eine Einschätzung, erklärt der Historiker Frank Bösch. Auch für einen Rückblick in Kunst und Medien ist diese Spanne ideal.
Liane von Billerbeck: Am 26. April 1986 zerstören zwei Explosionen einen der vier Reaktorblöcke des Atomkraftwerks von Tschernobyl. Radioaktives Material wird in die Atmosphäre geschleudert und verseucht weite Teile der Ukraine, Russlands und von Belarus. Die Wolke zieht bis nach Mitteleuropa und zum Nordkap. Es ist der bis dahin größte Unfall in der Geschichte der Kernenergie – mit Folgen bis heute. Begriffe wie "Wolke", "Sarkophag" oder der "Störfall", wie Christa Wolf ihren Roman darüber genannt hat, bekamen seitdem eine ganz neue Bedeutung.
Und jetzt? Da ist die hochgelobte Miniserie "Tschernobyl" plus entsprechender Doku bei ProSieben, da ist der Film "Supergau" über eine fiktive Katastrophe in Luxemburg, da sind Kunstaktionen und Ausstellungen. Man fragt sich: Woher kommt das aktuelle große Interesse an dieser Katastrophe?
Frank Bösch ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und lehrt deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er ist Experte zur Rezeptionsgeschichte historischer Ereignisse.

Eine Generation Abstand

Herr Bösch, Ihr Buch "Zeitenwende 1979" ist 2019 erschienen, also 40 Jahre später. Tschernobyl liegt heute 35 Jahre zurück. Ist so eine Generation Abstand eine gute Zeitspanne für den Historiker, um Dinge zu sortieren?
Bösch: In der Tat hält die Geschichtswissenschaft etwa 30 Jahre Abstand, eine Generation. Dann öffnen sich die Archive. Vor allen Dingen hat man dann auch genug Abstand, um zu sehen, welche Ereignisse tatsächlich eine größere Bedeutung entfaltet haben.
von Billerbeck: Warum genau diese 30 Jahre?
Bösch: Es ist eine Generation, das ist tatsächlich ein zeitlicher Abstand, in dem vieles auch wieder neu verhandelt wird. Meistens halten Historiker sogar noch ein bisschen mehr Abstand. Bei meinem Buch zu "1979" habe ich etwa den Atomunfall in Harrisburg thematisiert, den damals schwersten Unfall, der dann in Verbindung mit Tschernobyl diese gewaltige Wirkung von 1986 noch mal verstärkt hat.
Der Historiker Frank Bösch im Porträt
Frank Bösch ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor an der dortigen Universität.© imago / Mike Schmidt
Hier zeigt sich, dass es ein Zusammenspiel gibt, was für die Zeitgenossen von 1979 etwas völlig Neues ist, was sich dann weiterentwickelt. Erst aus diesem Abstand sehen wir, wie sich die Dinge, die erst mal ganz offen und zufällig sind, in ihrer historischen Bedeutung entfalten.

Atmokatastrophen als Wendepunkte

von Billerbeck: Wie wird denn heute auf diese Reaktorkatastrophe geblickt? Es gibt ja noch viele, die sich daran erinnern können. Ist es trotzdem etwas Abgeschlossenes, das mit uns heute nicht mehr so viel zu tun hat?
Bösch: Das hat noch immer sehr viel mit uns zu tun. Beide Unfälle waren Wendepunkte. Zusammen mit Fukushima haben wir drei, die wechselseitig aufeinander Bezug nehmen. Das sind Wendepunkte, weil einige Länder danach beschließen, aus der Atomenergie auszusteigen – Italien etwa macht nach Tschernobyl eine Volksabstimmung, die ein Moratorium durchsetzt, Schweden beispielsweise schon nach Harrisburg.
Eine neue Schutzhülle über dem Sarkophag unter dem der vierte Reaktor des Atomkraftwerks in Tschernobyl verschlossen ist.
Tschernobyl heute: Ein Sarkophag schützt die Umwelt vor der bis heute austretenden Strahlung.© imago / Ukrinform / Volodymyr Tarasov
In anderen Ländern steigt die Verunsicherung, auch in Deutschland beispielsweise, wo die SPD sich nach Tschernobyl entschließt, nicht mehr auf die Atomenergie zu setzen und die Gewerkschaften sich mehrheitlich gegen die Atomenergie wenden. Insofern ist der Ausstieg aus der Atomenergie, der nun auch in Deutschland eingeleitet wurde, etwas, was viel mit der Gegenwart zu tun hat, aber auch sehr viel mit diesen historischen Ereignissen.

Die DDR-Staatsmedien berichteten verspätet

von Billerbeck: Sie haben schon ein paar Reaktionen in der Bundesrepublik erwähnt. Auch die Grünen erlebten in dieser Zeit einen Aufschwung. Waren die Reaktionen überall ähnlich wie in Westdeutschland? Wir hatten ja auch noch die DDR, die ja von der Sowjetunion und deren Unglück ebenfalls betroffen war.
Bösch: In Westdeutschland gab es zunächst sehr unterschiedliche Reaktionen. Es gab vor allen Dingen konservative Stimmen aus der CSU und auch Teilen der CDU, die sagten: Die deutschen Atomkraftwerke sind die sichersten der Welt, Derartiges könne hier nicht passieren. Andere Bundesländer, wie zum Beispiel das SPD-regierte Hessen, waren deutlich vorsichtiger und ängstlicher. Sie haben auch mit mehr Sicherheitsmaßnahmen reagiert.
Demonstranten ziehen mit Transparenten durch die Straße und protestieren gegen Atomkraft.
Der Super-GAU in Tschernobyl gab der Anti-Atombewegung in ganz Europa Auftrieb. Hier im Bild: eine Demonstration in Bern im August 1986.© picture alliance/ Keystone / Str
In der DDR waren die Reaktionen noch mal ganz anders. In der Sowjetunion wurde ja eine Nachrichtensperre verhängt. Das wahre Ausmaß wurde, trotz Gorbatschow, verschleiert und die DDR musste sich als "kleiner Bruder" daran halten.
Gleichzeitig haben die DDR-Bürger aber natürlich über das Westfernsehen mitbekommen, was dort passiert ist, sodass die DDR Schritt für Schritt auch in ihren staatsgelenkten Medien zumindest andeuten musste, was dort passiert war. Um die Bevölkerung zu beruhigen, sprach sie nicht von einem Supergau oder Ähnlichem, sondern von einem Unglück oder Unfall mit zwei Toten, bei dem begrenzt Radioaktivität ausgetreten sei.

Breite Ablehnung der Kernenergie

von Billerbeck: Und das erst Tage nach dem Unglück und in sehr dürren Worten. Wer in der DDR gelebt hat, weiß auch noch, dass plötzlich mehr Gemüse in den Kaufhallen lag, das eigentlich nach West-Berlin exportiert werden sollte. Das wollte dort keiner mehr haben. Wenn man aber mal auf die Gegenwart Jahr schaut, auf die Rezeption dieses Ereignisses vor 35 Jahren, hat man den Eindruck, dass es derzeit gefühlt besonders viele Serien, Ausstellungen, Kunstaktionen zu Tschernobyl gibt. Was sagt Ihnen das?
Bösch: Ich glaube, die Rezeption war vor allen Dingen zum 25-jährigen Jubiläum 2011 besonders stark, weil das genau mit Fukushima zusammentraf. Vielleicht wurde auch Fukushima deswegen 2011 noch stärker entsprechend gedeutet, weil sich das überlagerte. Jetzt haben wir wieder Jahrestage, und das hängt sicher damit zusammen, dass das Zeitalter der Kernenergie nicht nur in Deutschland langsam zu Ende geht. Die Kernenergie ist weltweit rückläufig.
In vielen Ländern, wo sie noch stark vertreten ist, insbesondere in Frankreich als das Land mit den meisten Atomkraftwerken der Welt, ist die Bevölkerung in starkem Maße dagegen. Das heißt: Die Kernenergie ist ein Elitenprojekt geworden. Diejenigen, die daran festhalten, machen das meistens gegen die Mehrheit der Bevölkerung.
Das ist natürlich ein interessantes Spannungsverhältnis. Es gibt Ängste in der Bevölkerung, es gibt einen Wandel, etwas wird historisch langsam, und damit wird es auch für die Medien interessant, mit dieser Angst und Dramatik der Story bei Tschernobyl zu spielen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Auch in der DDR hat die Katastrophe von Tschernobyl die Umweltbewegung beflügelt. Unser Korrespondent Alexander Moritz hat sich umgehört, was die Protagonisten von damals heute machen:
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