33 Jahre nach Tschernobyl

Strahlende Wildschweine im deutschen Wald

10:28 Minuten
Ein Wildschwein steht im Wald.
Viele schätzen sein Fleisch: das Wildschwein. Aber seit Tschernobyl ist es nicht mehr überall bekömmlich. © imago/ blickwinkel/ S. Meyer
Von Karl Urban · 25.04.2019
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33 Jahre ist die Katastrophe in Tschernobyl bereits her, doch noch immer sind die Auswirkungen des Reaktorunfalls hierzulande messbar. In manchen Regionen Süddeutschlands ist jedes fünfte Wildschwein radioaktiv belastet. Ihr Fleisch darf nicht verkauft werden.
"Sie wollen überwiegend wissen, was die Wildschweine hier so tun?"
"Was die Wildschweine so tun: Vielleicht können wir mal einen Ansitz hochklettern."
Michael Datz kennt sich aus mit einem heimischen Wildtier, das derzeit viele Menschen in Deutschland beschäftigt. Über Jahrzehnte sind die Bestände in den Wäldern immer weiter gewachsen. Landwirte fürchten, dass es die Afrikanische Schweinepest überträgt und verbreitet. Das Wildschwein verstärkt zu jagen, ist daher Gebot der Stunde. Doch das Tier ist klug, geländegängig und stark. Und sein Fleisch ist mancherorts noch immer radioaktiv belastet.
Jäger nachts auf der Pirsch nach Wildschweinen zu begleiten, das geht natürlich nicht. Schon nach meiner ersten Frage wären die hinter dem nächsten Busch verschwunden. Deshalb fahren wir bei Tag in das Jagdrevier, auf einen bewaldeten Höhenzug und suchen Fährten.
"Rechts und links vom Weg ist alles aufgewühlt. Jetzt haben wir hier ypsilonförmig eine große Fläche als Wildwiese angesät. Und da können wir dann hoffen, dass das Wild herkommt."
Auch Topinambur hat Michael Datz gepflanzt. Die Wildschweine kommen gerne vorbei, um die schmackhafte Wildkartoffel auszugraben. Vom Hochsitz fällt der Blick dorthin, wo nachts die Schweine wühlen.

Wildschweine sind kluge Tiere

Michael Datz kennt allerlei Tricks, die klugen Tiere vor seine Flinte zu locken. Doch das Fleisch ist nicht überall bekömmlich. Es sind die Nachwehen von Tschernobyl: Manche Wildschweine strahlen bis heute.
"Diese Cäsiumbelastung rührt noch von dem Fallout 1986 her, als die radioaktiven Wolken sich regional ausgeregnet haben. Das sind hauptsächlich Gebiete im Bayerischen Wald, sehr regional, dann im Thüringer Wald und in Oberschwaben."
Torsten Reinwald vom deutschen Jagdverband will das Problem nicht größer machen, als es ist – denn bundesweit betrachtet spiele radioaktiv belastetes Wildschweinfleisch kaum eine Rolle.
Was im Wildschwein strahlt, ist das Isotop Cäsium-137. Seine Halbwertszeit liegt bei 30 Jahren und somit müsste die Hälfte davon inzwischen wieder aus der Umwelt verschwunden sein.
"Ich heiße Georg Steinhauser und ich bin Radiochemiker. Ich komme aus Österreich, wie man hört, und beschäftige mich vor allem mit Umweltradioaktivität, insbesondere mit Freisetzungen aus Nuklearunfällen. Was die Wildschweine so ganz besonders macht, ist, dass sie sich nicht an die Naturgesetze halten, möchte ich jetzt unter Anführungszeichen sagen, die wir für andere Lebensmittelkategorien kennen."

Konstante radioaktive Cäsiumwerte im Fleisch

Das langlebigere Cäsium-137 wurde in tiefe Bodenschichten gewaschen, wo es für Pflanzenwurzeln und andere Organismen in der Nahrungskette offenbar kaum noch erreichbar war. Nur das Wildschwein ist auffällig geblieben.
"Wenn man die ganze Thematik anschaut, dann ist es eindeutig und geradezu frappierend, dass die Konzentrationen, das heißt der Gehalt an radioaktivem Cäsium, im Wildschweinfleisch konstant bleibt, teilweise sogar noch leicht ansteigt. Das heißt, wir haben jetzt zum Teil höhere Gehalte an radioaktivem Cäsium im Wildschweinfleisch als es vor 30 bis 32 Jahren der Fall war."
Für Forscher ist bis heute nicht ganz klar, warum einige Wildschweine noch immer so stark belastet sind. Georg Steinhauser wagt aber eine These:
"Es wird etwas mit der Ernährung der Wildschweine zu tun haben. Eine Spezies ist besonders in den Fokus gerückt - und das ist Hirschtrüffel. Es dürfte schon damit zusammenhängen, wie viele Hirschtrüffel so ein Wildschwein zu sich nimmt und frisst und dass das den Grad der Kontamination quasi diktiert."
Fressen also nur einzelne Wildschweine die unterirdisch wachsenden Hirschtrüffeln – und das auch nur manchmal?
"Es sind nicht alle Hirschtrüffel verstrahlt. Es sind nicht alle Wildschweine verstrahlt, aber es gibt halt so Flecken, wo dann beides zusammentrifft, sodass dann die Halbwertszeit gar nicht viel ausmacht, weil die Dosis immer noch groß genug ist."
Oliver Keuling, Wildtierbiologe an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Wild schmeckt vielen. Die Frage lautet daher: Landet das belastete Fleisch auch auf dem Teller? Der bayerische Jagdverband gibt Entwarnung. Auf der Webseite des Verbands heißt es zwar einschränkend, in wenigen Falloutgebieten würden circa 20 Prozent der gemessenen Wildschweine eine erhöhte Radiocäsium-Belastung aufweisen.

Zu viele Wildschweine in der Kulturlandschaft

Man könnte die Tiere aus belasteten Regionen einfach in Ruhe lassen. Doch das ist kein gangbarer Weg: Schon heute leben viermal so viele Wildschweine in Deutschland wie noch 1986. Und Wildtierökologe Oliver Keuling schätzt, dass das Nahrungsangebot der Wälder noch zehnmal mehr Wildschweine ernähren würde. In unserer Kulturlandschaft könnten wir das kaum tolerieren.
"Die Probleme, die sich daraus ergeben, sind Schäden in der Landwirtschaft, weil sie in den Feldern fressen, uns unsere Nahrung oder das Futter für unser Vieh wegfressen oder einfach viel umwühlen. Und dann kommt natürlich dazu, dass Krankheiten übertragen werden können."
Die am meisten gefürchtete Krankheit hat Deutschland noch gar nicht erreicht: die Afrikanische Schweinepest. Die Seuche grassiert seit mehreren Jahren in Osteuropa und dem Baltikum, aber auch in Polen und Belgien. Sie kann Wildschweine wie Hausschweine gleichermaßen befallen. Für den Menschen ist sie ungefährlich, aber Schweinemastbetrieben droht die Keulung des gesamten Tierbestands.

Neue Jagdmethoden

Die Jagd auf Wildschweine soll intensiviert werden, vorbeugend und notfalls sogar mit technischen Mitteln, die in der Jagd bislang verpönt oder illegal waren.
"Bei der Seuchenübung ist der Plan, dass wir versuchen, das Waldstück zu überfliegen."
Die Drohne überfliegt ein nahes Waldgebiet, an Bord eine Wärmebildkamera. Bislang hätten sie Drohnen vor dem Mähdreschereinsatz nur über Felder fliegen lassen, um Rehkitze zu entdecken, erläutert Kreisjägermeister Dieter Mielke.
"Wir haben bei 45 Einsätzen 75 Rehe gefunden. Und ein Abfallprodukt der Rehwildsuche ist jetzt natürlich: Wir versuchen nur Schweine zu lokalisieren. Das ist das Einzige, was wir mit Drohnen können, das muss man ganz klar sagen."
Zusätzlich werden derzeit die Drückjagden immer zahlreicher, bei denen eine Gruppe von Jägern und Hunden ein ganzes Waldgebiet durchstreift und Wildschweine aus ihren Verstecken vor die Flinte treibt. Die Schonzeit für die Tiere in den Frühlingsmonaten, wenn die meisten Bachen ihre Frischlinge werfen, ist mittlerweile aufgehoben worden.

Bisher noch kein belastetes Fleisch im Handel

Bis heute ist kein nennenswert belastetes Fleisch im Handel entdeckt worden. Die Behörden sagen: Weil solches Fleisch auch nicht verkauft werde.
Helmut Rummel dagegen meint: Es werden schlicht zu wenige Daten überhaupt zusammengetragen und ausgewertet. Obwohl es sie sehr wohl gibt. Wenn schon nicht beim Bayerischen Jagdverband, dann doch zumindest bei den Kreisverwaltungsbehörden: Jeder Jäger, dessen erlegtes Wildschwein über dem Grenzwert für Radiocäsium liegt, kann nämlich eine Entschädigung erhalten. Dafür hat er einen Antrag zu stellen – und muss das Messprotokoll einreichen.
Diese Daten sind es, die Helmut Rummel bei vielen südbayerischen Landratsämtern abfragte und zu seiner umfangreichen Liste zusammenführte:
"Die Information des Landesamtes für Umwelt ist absolut untauglich und verstößt gegen das Strahlenschutz-Vorsorge-Gesetz Paragraph 1: Vereinfacht ausgedrückt, die Strahlenexposition der Menschen durch angemessene Maßnahmen so gering wie möglich zu halten, heißt es dort. Der Verbraucher kann sich ja nur adäquat verhalten, wenn er die zum Teil extrem hohen Messwerte überhaupt erfährt. Aber in Bayern erfährt man diese Messwerte nicht."

Die Behörden wollen den Ball flach halten

Zumindest die Jäger könnten so unwissentlich ein Risiko eingehen. Denn nicht jeder Jäger dürfte den Weg zu einer Messstelle in Kauf nehmen, wenn er das Tier selbst verzehren möchte.
Der Radiochemiker Georg Steinhauser hat Verständnis für die bayrischen Behörden, die den Ball vermutlich flach halten wollten.

"Das Thema Radioaktivität ist extrem emotional vorbelastet. Da gibt es wahrscheinlich kaum ein vergleichbares Thema, wo die Emotionen derart hoch gehen. Und das Einzige, was dagegen helfen kann, ist letztlich die Vermittlung von Wissen und Bildung. Wenn wir die Leute entsprechend aufklären, dass selbst eine Überschreitung des Grenzwertes noch nicht das Schicksal des Krebstods besiegelt."
Die Sorge des Verbrauchers vor radioaktiv belastetem Wildschweinfleisch ließe sich derweil leicht ausräumen: Wie in Baden-Württemberg könnten auch im am stärksten betroffenen Bundesland Bayern alle gesammelten Messwerte transparent veröffentlicht werden.
Das jedenfalls könnte auch den zahlreichen Jägern in Bayern helfen, in deren Jagdrevieren überhaupt keine belasteten Tiere gefunden werden.
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