30 Jahre Weltkulturerbe Lübeck

Eine Altstadt im Aufbruch

Die Altstadt von Lübeck
Die Altstadt von Lübeck © imago/Westend61
Von Balthasar Hümbs · 10.08.2017
Seit 30 Jahren zählt die Lübecker Altstadt zum UNESCO Weltkulturerbe. Doch die Pflege der Altstadt stellt auch eine Herausforderung dar: Man will einerseits die Tradition bewahren, andererseits soll die Stadt lebendiger Raum bleiben.
Tobias Stahl befindet sich auf dem Weg zu seinem Lieblingsplatz in der Lübecker Altstadt: "Das ist die Teufelstreppe, das fand ich auch sehr charmant."
Eine schmale Steintreppe. Sie liegt eingezwängt zwischen alten Backsteinmauern. Im Rücken die idyllische Trave, rundherum verwinkelte Giebelhäuser:
"Und wenn man direkt einmal hingeht… Auch wirklich den direkten Blick auf den Dom. Besonders schick an der Stelle finde ich, dass die alte Gaslaterne noch hängengelassen wurde. Ich finde, auch das gehört einfach zu dieser typischen Atmosphäre hinzu. Und die Efeuranken runden dann eigentlich das ganze Bildchen ab."
Tobias Stahl ist nicht irgendein Lübecker. Er ist einer von zwölf Welterbe-Botschaftern - 30 Jahre alt und begeistert von der Altstadt. Er und die elf anderen sind die Gesichter der Kampagne "Plötzlich 30" zum dreißigjährigen Welterbe-Geburtstag. Damit will das Stadtmarketing die Lübecker fürs Welterbe begeistern.

Die mittelalterliche Hansestadt als Weltkulturerbe

1987 wurde die Lübecker Altstadt zum Weltkulturerbe erklärt – als Prototyp einer mittelalterlichen Hansestadt. Sie liegt auf einer ovalen Insel, ringsherum fließen Trave, Wakenitz und der Elbe-Lübeck-Kanal. Das weltbekannte Holstentor, das prächtige Rathaus und die fünf Altstadtkirchen sind die bekanntesten Bauwerke. Dazwischen: mal ehrwürdige Kaufmannshäuser, mal bescheidenere Bauten für Handwerker und Fischer. Und dann ist das noch der Stadtgrundriss.
"Der Stadtgrundriss war ein stückweit auch ein Exportschlager, es haben viele andere Städte an der Ostsee oder in den Hansestädten nachgemacht", sagt Christine Koretzky, Welterbebeauftragte der Hansestadt. Im historischen Gebäude der Bauverwaltung hat sie ihren Arbeitsplatz - nur 100 Meter von Tobias Stahls Teufelstreppe entfernt. "Und was in Lübeck so besonders ist, dass der Stadtgrundriss erhalten geblieben ist und zwar seit den ersten Tagen. Wenn ich jetzt aus der Stadtgründung mich nach heute beamen würde, würde ich mich immer noch zurechtfinden."

500 Meter weiter, im Norden der Altstadtinsel, ist Manfred Finke unterwegs. Er biegt durch einen schmalen Durchgang in einer Hausfassade in einen der Lübecker Gänge ein: "Das ist also der Lünengrenzgang, zwei von durchgehenden Gängen, wo zwei Straßen verbunden werden."
Manfred Finke kennt in der Altstadt fast jedes Haus - und oft auch den Besitzer oder gleich die ganze Baugeschichte. Er steht vor einem dreigeschossigen Total-Sanierungsfall:
"So, hier saniert ein Architekt für sich und ich nehme an, dass man dann auch die Qualität dieser Häuser wiederentdecken kann. Also die hohen Decken, das hohe Erdgeschoss hier, wie in den großen Kaufmannshäusern, sehr hoch, fast vier Meter und oben dann Speicherboden, also Wohnkammern natürlich."

Wiederentdeckung der Altstadt

Es wird saniert in der Altstadt. Mit viel Aufwand und Geld wird die alte Bausubstanz gerettet und wieder schick gemacht. Um jede alte Treppe, jeden Balken, jedes Fenster wird gekämpft. Das war nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man für alte Häuser und enge Gassen wenig übrig. Im Fortschrittsrausch der Wirtschaftswunderzeit zählten breite, autogerechte Straßen und moderne Kaufhäuser. Viele alte Häuser wurden zerstört oder verfielen. Manfred Finke und viele andere wollten den Abriss ihrer Altstadt nicht mehr hinnehmen. Sie gründeten die "Bürgerinitiative Rettet Lübeck".
"Also die Fassade zu der Nummer 30 ist ja die früheste aus der Gotik, die noch erhalten ist", sagt Manfred Finke. Er steht vor einem mächtigen Treppengiebel-Haus in der Königstraße. Eigentlich sollte es das Haus gar nicht mehr geben. 1976 wollte ein Bekleidungsgeschäft hier eine neue Filiale bauen. Der Abriss des maroden Hauses war beschlossen, sogar die Bagger waren schon da.
"Jedenfalls waren wir hier schwarz auf der Baustelle, sind da rumgestiefelt und haben alles fotografiert, dokumentiert und das ganze Material haben wir dann einem uns bekannten Statiker zugesandt. Der wiederum mit einem Architekten, den wir auch gut kannten gesprochen hat. Dann wurde das ganze stillgelegt, weil die nämlich angefangen hatten, hinten abzubrechen."

Vom Schandfleck zum Schmuckstück

Nun hatte auch die Denkmalpflege den Wert des Hauses erkannt. Danach übernahmen Martin und Birgit Voigt das heruntergekommene Denkmal. Sie sanierten es und eröffneten ihrerseits ein Bekleidungsgeschäft. Das gibt es noch heute.
"Es funktioniert deswegen, weil die Leute das Haus eben schön finden. Gerade eben die aus dem Ruhrpott kommen, die kennen sowas nicht. Und das Haus spielt sein Geld ein", sagt Martin Voigt.
Blick auf den Lübecker Dom und die Altstadt
Blick auf den Lübecker Dom und die Altstadt© imago/Chromorange
Das Denkmal erhalten und damit Geld verdienen: es funktioniert. Immer mehr Häuser wurden saniert. Die Altstadt wurde vom Schandfleck zum Schmuckstück. Heute findet man kaum noch eine heruntergekommene Fassade. Die Lübecker schätzen ihre alten Häuser. Trotzdem sind manche Probleme noch nicht gelöst.

Belastung Busverkehr

Der Koberg, ein Platz im Norden der Altstadt. Auf der einen Seite steht das Heiligen-Geist-Hospital, ein Backsteinbau aus dem 13. Jahrhundert. Rechts daneben: die fast 100 Meter hohe Jakobikirche, gegenüber eine Reihe prächtiger Kaufmannshäuser. Es könnte hier so schön sein.
Im Minuten-Takt rumpeln schwere Gelenkbusse über den historischen Platz, 600 am Tag. Auch wenn die Altstadt heute stark verkehrsberuhig ist: Busse und Autos sind im Welterbe ein Problem. Viele sorgen sich um die alten Gemäuer, darunter auch Manfred Finke:
"Erst das Welterbe, das ist prioritär, und was wir damit machen ist sozusagen nachrangig. Es muss also dann der Verkehr so zurechtgeschnitten werden, dass das Welterbe nicht drunter leidet."

Die Altstadt soll viele Funktionen übernehmen

Doch so einfach ist das nicht. Die Altstadt ist nicht nur steinerne Zeugin alter Hansepracht. Sie ist auch das Zentrum der Großstadt Lübeck. Sie soll Shopping-Paradies sein, Touristen-Hotspot und Wohnstandort. Mehr als zehn Museen liegen im Welterbe, das Stadttheater und sogar ein Schwimmbad. Und ganz nebenbei haben hier mehrere Schulen und große Teile der Stadtverwaltung ihren Sitz.

Auch der Arbeitsplatz der stellvertretenden Bürgermeisterin und Kultursenatorin Kathrin Weiher liegt hier – in einem schmucken Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert:
"Natürlich muss man in der Altstadt schön wohnen können, und da gibt’s ja auch herrliche Dielenhäuser usw. die wunderbar saniert worden sind. Man muss aber in einer Altstadt eben auch leben können und zum Leben gehört, dass es da auch schöne Geschäfte gibt, schöne Cafés, schöne Galerien, gute Museen, Theater und so weiter, wir brauchen dieses lebendige Miteinander."
Doch dieser Nutzungs-Mix verändert sich.

Krise des Einzelhandels

Der Abstieg einer Einkaufsstraße. Stadtrundgang der besonderen Art mit Olivia Kempke vom Lübeck Management. Sie vertritt in der Altstadt die Interessen der Einzelhändler. Doch die werden immer weniger:
"Wir haben eine aktuelle Leerstandquote von zwölf, 13 Prozent. Tendenz aktuell steigend, leider."
Dem Innenstadthandel laufen die Kunden weg und das trotz traumhafter Altstadtkulisse und großer Geschäftsvielfalt auf engstem Raum. Vor allem die Shopping-Center auf der Grünen Wiese machen Olivia Kempke Sorgen. Wenn jetzt noch Busse und Autos aus der Altstadt verbannt werden, sieht sie rot:
"Viele Händler sagen: Dann verlieren wir die Kunden total, dann kommen die Kunden nicht mehr. Wenn der mit dem Auto kommen will, dann tut der das auch und wenn der das nicht kann, dann kommt er nicht mehr."

Reform des Altstadtkonzepts geplant

Die Altstadt steckt im Zwiespalt: zwischen einem welterbegerechten Umgang mit der alten Bausubstanz und den Anforderungen an eine lebendige Großstadt. Das aktuelle Verkehrskonzept aus den 90er Jahren war der Versuch, es allen recht zu machen. Doch so richtig glücklich ist niemand damit. Die komplizierten Verkehrsregelungen verstehen nicht mal die Lübecker.
Aber jetzt plant die Stadt den großen Wurf. Und die Bürger sollen mitreden. Welterbebeauftragte Christine Koretzky bereitet das Beteiligungsverfahren vor:
"Ich vermute mal, dass wir zwei, drei Tage zusammensitzen mit Bürgern an verschiedenen Tischen, da wird es nicht nur um Mobilität gehen, sondern auch Einzelhandel, auch Welterbe, auch Tourismus. Wie viel Tourismus verträgt die Stadt? Ich hoffe, dass es nochmal so ein richtig großes Thema wird: Was ist unsere Altstadt, wofür steht sie und wo wollen wir alle hin?"
Am Ende sollen die Lübecker eventuell sogar in einem Bürgerentscheid über die Zukunft ihrer Altstadt abstimmen. Welterbebotschafter Tobias Stahl, wünscht sich weiterhin ein so belebtes Welterbe mit vielen Geschäften und Restaurants:
"Wir haben ja auch eine gewisse Pflicht, zu zeigen, was wir hier Schönes haben, und warum sollten die Leute noch weiterhin herkommen, wenn man auf der Altstadtinsel selbst nichts machen kann, außer einen Kaffee trinken, gucken, wie schön alles ist und dann wieder zu gehen? Also ich glaube, das wäre der falsche Weg, weil wir auch unser Erbe damit verleugnen."
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