30 Jahre nach Tschernobyl

Weißrussland hat keine Angst vor Atomkraft

Im Bau befindliche Atomkraftwerk Ostrowez, direkt an der weißrussisch-litauischen Grenze.
Im Bau befindliche Atomkraftwerk Ostrowez, direkt an der weißrussisch-litauischen Grenze. © Deutschlandradio / Ute Zauft
Von Ute Zauft · 25.04.2016
Die Nuklearkatastrophe in der Ukraine ereignete sich am 26. April 1986 in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl nahe der Stadt Prypjat. Kein Nachbarland der Ukraine hat unter den Folgen so stark gelitten wie Weißrussland: 70 Prozent des radioaktiven Fallouts gingen auf den Süden der damaligen Sowjetrepublik nieder. Jetzt wird an dem ersten Atomkraftwerk des Landes gebaut.
Das weißrussische Städtchen Ostrowez ist mit rund 10.000 Einwohnern überschaubar - aber der Ort wächst: Erst vor gut einem Jahr wurde im Neubaugebiet ein vierter Kinder-garten eröffnet. Er ist das Reich von Pawel Rynkewitsch, dem Chef von 58 Angestellten und über 200 Kindern. Eine riesige Kamillenblüte auf der hellblauen Hauswand hat dem Kindergarten seinen Namen gegeben - Romaschka. Die Fußböden sind frisch gefliest, die Wände mal zartgelb, mal zartgrün gestrichen. Rynkewitsch ist Ende 30, hat ein rundes, freundliches Gesicht und sehr kurz geschnittene Haare. Federnden Schrittes eilt er über die langen Flure und öffnet eine Tür nach der anderen:
"Das ist die Computerklasse. Hier stehen zehn Computer, die eine Hälfte der Gruppe be-schäftigt sich dann hier, der zweite Teil macht etwas anderes, entweder Unterricht oder Sport oder Schwimmen."
Seine Einrichtung sei eine der modernsten im gesamten Verwaltungsgebiet, erklärt der Kindergarten-Chef mit sichtbarem Stolz. Im Fitnessraum für die Zwei- bis Sechsjährigen stehen Trimm-Dich-Rad und Hantel-Bank im Mini-Format.
Pawl Rynkewitsch im Fitnessraum seiner Kita
Pawl Rynkewitsch im Fitnessraum seiner Kita© Deutschlandradio/ Ute Zauft
Die Kleinstadt Ostrowez liegt im Nordwesten des Landes, nur 15 Kilometer von der litauischen Grenze entfernt, und genau hier wird seit 2012 das erste Atomkraftwerk des Landes gebaut. 2018 soll der erste Reaktorblock ans Netz gehen, 2020 der zweite. Aus diesem Grund wächst die Stadt:
"Der Kindergarten wurde gebaut, weil es hier schon seit einigen Jahren eine große Baustelle gibt - groß für Weißrussland und besonders für Ostrowez. Hier wird das weiß-russische Atomkraftwerk gebaut. Und im Zusammenhang damit entwickelt sich die Infrastruktur. Es ziehen immer mehr Menschen her, nicht nur aus Weißrussland, sondern auch Spezialisten aus benachbarten Ländern. Um sie unterzubringen, wurden viele neue Wohnhäuser gebaut. Dementsprechend gibt es natürlich auch kleine Kinder, die Betreuung brauchen. Deswegen wurde die Entscheidung getroffen, diesen Kindergarten zu bauen, außerdem eine Schule, die sich auch innerhalb dieses Komplexes befindet."

Ganz nah am neuen Atomkraftwerk ist der Super-GAU kein Thema

Kein Nachbarland der Ukraine hat unter den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl so stark gelitten wie Weißrussland: Ein Großteil des radioaktiven Fallouts ging im April 1986 auf den Süden und Osten der damaligen Sowjetrepublik nieder. Jeder fünfte Weißrusse war direkt oder indirekt vom Atomunglück betroffen, fast 140.000 Menschen im Land mussten ihre Wohnungen und Häuser verlassen und an anderen Orten ganz von vorn anfangen. Doch hier - ganz nah an der Baustelle des ersten eigenen Atomkraftwerkes des Landes - ist der Super-GAU von vor 30 Jahren kein Thema. Das sei so lange her, ruft die stellvertretende Leiterin des Kindergartens Galina Wosarewa, die ihrem Chef nicht von der Seite weicht:
"Außerdem wird bei uns das sicherste Atomkraftwerk überhaupt gebaut, in das alle Erfahrungen aus den bisherigen eingeflossen sind. Ich kann das nicht so genau erklären, wie ein Experte das könnte, aber es ist das zuverlässigste und das sicherste Atomkraftwerk überhaupt."
Eine weitere Tür führt zu einem gekachelten Raum mit Schwimmbecken - nicht groß genug, um darin Bahnen zu ziehen, aber zum Plantschen und Schwimmenlernen reicht es. Im Neubaugebiet rund um den Kindergarten wohnen rund 2.000 Zuzügler - aus Weißrussland, aber auch aus Russland und der Ukraine. Darunter sind die Bauarbeiter, die im zwei-Wochen-Rhythmus auf der Baustelle arbeiten und dann auf Heimaturlaub gehen, aber auch all die Fachkräfte, die den Bau überwachen und das Kernkraftwerk einst betreiben sollen. Sie sind gleich mit ihren Familien hierher gezogen. Der Blick aus dem Fenster des Kindergartens fällt auf eine Gruppe von Baukräne, die in der Ferne in den Himmel ragen: Am zweiten Neubaugebiet der Stadt wird bereits gebaut, ein drittes soll folgen. Diese Entwicklung sei in der ganzen Stadt zu spüren, erklärt die stellvertretende Kindergarten-Chefin voller energischer Begeisterung.
"Alle leerstehenden Wohnungen, die zum Verkauf standen, konnten verkauft werden. Selbst Höfe, alleinstehende Häuser in den Dörfern - bei uns ist alles ausverkauft."
Angst vor der Atomkraft im eigenen Land wird man hier nicht zu hören bekommen. Nicht nur, weil der Ort sich entwickelt und Arbeitsplätze entstehen, sondern auch weil der Kindergarten, wie praktisch alle im Land, staatlich ist. In jedem der Gruppenzimmer, findet sich eine Tischchen, über dem eine Landkarte Weißrusslands hängt:
"Das ist unsere Ecke der weißrussischen Kultur, wo wir den Kindern schon in jungen Jahren Heimatliebe und Patriotismus beibringen. Dazu gehören auch Verantwortungsbewusstsein, Sorgsamkeit und ihre Pflichten als Bürger dieses Landes."
Eingerahmt von zwei rot-grünen Landesflaggen, steht dort auch ein Porträt von Alexander Lukaschenko, dem seit 1994 autoritär regierenden Präsidenten des Landes. Zur symbolischen Grundsteinlegung des Kernkraftwerkes in Ostrowez war er 2012 höchstpersönlich angereist.

Polizei behindert Atomkraftgegner

Die Baustelle des Atomkraftwerkes liegt 18 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Eine neu gebaute Trasse führt vorbei an langgestreckten Feldern und durch kleine Wälder - bis am Horizont der erste von zwei geplanten Kühltürmen auftaucht. Nikolaj Ulosewitsch hat sein Haus im benachbarten Ort Warniany. Mal sehen, ob sie uns einsammeln, sagt er im Auto auf der Suche nach einem passenden Ort für das Gespräch - und meint mit "sie" die Polizei. 2008 hat er mit sechs Mitstreitern die Initiative "Ein AKW in Ostrowez ist ein Verbrechen" gegründet:
"Direkt nach unserer Gründung haben wir angefangen, den Ostrowezer Boten herauszugeben. Ein kleine Publikation, von der zwei Ausgaben erschienen. Aber eines Tages hat einer unserer Kollegen, der uns half die Zeitung herauszugeben, die nächste Ausgabe auf unserer Internetseite angekündigt, noch bevor wir sie in den Händen hielten. Als wir sie dann tatsächlich verteilen wollten, war die Polizei sofort da. Sie kamen gleichzeitig zu meinem Kollegen Iwan und zu mir zur Hausdurchsuchung. Seitdem kamen sie bei jeder unserer Aktionen, sie hielten uns fest, erhoben Vorwürfe gegen uns, durchsuchten unsere Häuser. Das hat einige von uns beunruhigt und hatte natürlich Einfluss auf unsere Aktivitäten."
Ulosewitsch steht auf einem Feldweg, hinter ihm rumort die Baustelle. Auf einem Gelände von einem Quadratkilometer wird an dem Atomkraftwerk gebaut - mitten auf dem freiem Feld. Allein 2015 wurden hier 230.000 Kubikmeter Beton verbaut. Neben dem ersten Kühl-turm wirkt die Schar von Kränen fast zierlich. Vor dem Schutzzaun aus Betonplatten und Stacheldraht sind Parkbänke rund um eine kreisrunde Grünfläche arrangiert. Man fragt sich, wer hier einst in der Sonne sitzen soll. Sichere Atomkraftwerke gibt es nicht, sagt Ulosewitsch und verschränkt die Hände knapp unterhalb seines Bauches. Das habe nicht zuletzt Fukushima vor fünf Jahren gezeigt. Der 65-jährige Geograph mit der schmalen Brille im runden Gesicht ist ein streitbarer Mensch. Als 2002 sein Lehrergehalt zu lange auf sich warten ließ, zog er vor Gericht - und gewann. Doch kurz darauf wurde sein Vertrag nicht verlängert. Im Kampf gegen das Atomkraftwerk ist es vor Ort inzwischen allerdings ruhig geworden:
"Vielleicht wenn ich jünger wäre, 25 oder 30, dann würde ich weiterkämpfen. Aber meine Frau ist an Krebs erkrankt, ich muss meine Möglichkeiten und Kräfte einteilen und die Konsequenzen eines solchen Einsatzes abschätzen, die ja nicht nur mich betreffen. [lange Pause] Es ist so, wie es ist."

Aktive Atomkraftgegner sind vor allem in Minsk

Will man diejenigen finden, die noch gegen den Bau des Atomkraftwerks aktiv sind, muss man sich nach Minsk beziehungsweise an den Stadtrand der Hauptstadt begeben. Von der Endstation der Straßenbahn aus sind es noch gut 15 Minuten zu Fuß, direkt hinter dem Haus an der Ausfallstraße scheint die Stadt aufzuhören. Hier hat die Umweltorganisation "Öko-Haus" ihr Büro, und von hier aus haben ihre Aktivisten 2006 die weißrussische Antiatomkraft-Kampagne "Bajak" gestartet:
Irina Suchij ist Anfang fünfzig, sieht mit ihrem blonden, krausen Haar, das etwas ungeordnet vom Kopf absteht, aber jünger aus. Ihre Füße stecken in robusten Wanderschuhen. Sie ist der Kopf und das Herz von "Öko-Haus" und scheint ihre Aufmerksamkeit überall gleichzeitig zu haben. Mit ihr im Zimmer sitzt die Buchhalterin, die sich mit einer Kollegin gerade durch die Abrechnung eines Projektes kämpft. Zum Zeitpunkt des Atomunglücks von Tschernobyl war Irina Suchij 23 Jahre alt:
"Das war wahrscheinlich der Auslöser dafür, dass ich überhaupt angefangen habe, mich für ökologische Probleme zu interessieren. Mein ganzes Leben und meine heutigen Aktivitäten sind im Grunde mit diesem Moment verbunden. Nach dem Unfall habe ich verstanden, dass wir der menschlichen Technik nicht vertrauen können, und dass sie zu großer Zerstörung und Tragödie führen kann - für die Menschheit insgesamt. Meine ökologischen Aktivitäten haben mit diesem Moment begonnen."
Nachdem die sowjetische Führung den Atomunfall zunächst tagelang verschwiegen hatte, verlor sie als junge Frau sämtliches Vertrauen in den Staat:
"Als sie 2006 verkündeten, dass ein Atomkraftwerk gebaut werden soll, dachte ich des-wegen bei mir: Das wird Euch nie gelingen! Jetzt wird es einen Machtwechsel geben, jetzt werden alle Weißrussen auf die Straße gehen, die Eisenbahnschienen blockieren und so weiter - aber dann: einfach nur Stille. Ich war damals sehr überrascht über diese Reaktion. Aber ich denke, die Leute bei uns glauben nicht daran, dass sie auf irgendetwas Einfluss ausüben können und deswegen verdrängen sie solche Dinge einfach aus ihrem Bewusstsein."

Weißrussland will bei der Stromproduktion unabhäniger werden

Gegen dieses Verdrängen kämpft sie nun an. Große Hoffnung hatten sie und ihre Kollegin Tatjana Nowikowa auf die sogenannte Aarhus Konvention gesetzt. Mit der Unterschrift unter diese internationale Vereinbarung hatte sich Weißrussland verpflichtet, die Öffentlichkeit bei Entscheidungen, die auch die Umwelt betreffen, zu informieren und zu beteiligen. Die Aktivisten erhoben Anklage, dass Weißrussland im Fall des AKW gegen die Konvention verstoßen habe - und bekamen 2014 Recht. Doch die Mechanismen seien schwach, klagt Suchij und schüttelt den Kopf. Am Ende seien lediglich Empfehlungen ausgesprochen worden, wie die Regierung die Gesetzgebung in diesem Bereich verbessern könne.
Das Hauptargument des weißrussischen Energieministeriums für den Bau des Kernkraftwerkes ist die immer wieder beschworene nationale Energiesicherheit: Das Land müsse unabhängiger werden von seinem Nachbarn Russland. Derzeit werden über 90 Prozent des weißrussischen Strombedarfs mit Hilfe von Erdgas aus Russland produziert. Wieder schüttelt Irina Suchij den Kopf:
"Wenn wir ein russisches Atomkraftwerk mit russischer Technologie bauen, das mit russischem Uran betrieben wird, ändert sich an der Abhängigkeit nichts. Die Energiequelle ändert sich, aber nicht der Staat, von dem wir abhängen, und es gibt keinerlei Diversifikation."
Weißrussland kann die beiden Reaktoren nur Dank eines russischen Exportkredites im Wert von zehn Milliarden US-Dollar finanzieren. Der Kredit deckt 90 Prozent der Baukosten, nur zehn Prozent bringt das Land aus eigener Tasche auf. Gebaut wird das Kernkraftwerk von einer Tochtergesellschaft des russischen Staatskonzerns "Rosatom".
Drei Frauen stehen an einem Laden ein.
Der Markt von Mosyr© Deutschlandradio/ Ute Zauft
Gut 300 Kilometer südlich von Minsk steht Valentina Dorofejewa in ihrer Heimatstadt Mosyr am Ufer des Pripjat. Es ist der Fluss, nach dem auch die Stadt benannt wurde, die zusammen mit dem Kernkraftwerk von Tschernobyl für dessen Arbeiter hochgezogen wurde. Von hier fließt das breite, flache Gewässer direkt durch die bis heute bestehende Sperr-zone auf weißrussischer und ukrainischer Seite. Valentina Dorofejewa ist fast 55, arbeitet in einer Schulbibliothek, ist klein, schmal und spricht sehr leise. Plötzlich zeigt sie auf zwei lange, schmale Ruderboote im Wasser.
"Unserer Kanuten trainieren schon wieder. Wir haben eine sehr starke Ruderschule. Unsere Jungs aus Mosyr haben sogar bei den Olympischen Spielen gewonnen."
Fast ein Viertel des weißrussischen Staatsgebietes wurde von den nach der Explosion des Reaktorblocks freigesetzten radioaktiven Stoffen verseucht: Cäsium 137, Strontium 90 und Plutonium 239. Mehr als 1,3 Millionen Menschen wohnen nach wie vor in den vom Fallout betroffenen Gebieten. Auf den Karten, die die Belastung des Landes allein mit Cäsium 137 anzeigen, fallen zwei dunkelrote Gebiete auf, die sich wie Wasserflecken ausbreiten und am Rand immer heller werden: Einer im Westen des Landes und einer hier im Süden. In Mosyr ist aus dem Dunkel- zumindest ein Hellrot geworden:
"Die Menschen sammeln im Wald Pilze oder Waldfrüchte, sie haben oft eine erhöhte Radioaktivität. Oder zum Beispiel die Felder, auf denen das Getreide für unser Brot wächst oder auf dem das Vieh grast, sie befinden sich in der Nähe dieser Wälder, das heißt auch dort gibt es erhöhte Strahlendosen. [Pause] Aber irgendwie haben wir uns daran gewöhnt und nehmen das mit einer gewissen Gelassenheit hin."
Cäsium 137 und Strontium 90 haben eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren - das heißt, die über das Land verteilten radioaktiven Stoffe wurden bisher erst zur Hälfte abgebaut. Doch vor wenigen Jahren wurde die Stadt Mosyr zu einer sogenannten sauberen Gegend erklärt: Ackerböden waren ausgetauscht, Straßen neu geteert und Schulhöfe dekontaminiert worden. 2011 hat Präsident Lukaschenko für das gesamte Land die Parole ausgegeben, dass in Zukunft der Fokus nicht mehr auf der Beseitigung der Tschernobyl-Folgen liegen solle, sondern darauf, die betroffenen Gebiete wirtschaftlich zu stärken. Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht riechen, nicht hören. Als direkte Folge des Atomunglücks wird von staatlicher Seite allein eine erhöhte Rate von Schilddrüsenkrebs besonders bei Kindern und Jugendlichen anerkannt. 30 Jahre nach dem Unglück gelangt die Strahlung vor allem in Form von Cäsium und Strontium in die Nahrungsmittelkette und lagert sich in den Organismen der Bewohner ab. Die Folgen sind umstritten, doch Kritiker gehen davon aus, das sie vor allem zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. Von offizieller Seite wird dagegen immer wieder betont, dass die Lebensmittel aus den betroffenen Regionen engmaschig kontrolliert würden.
"Auf der einen Seite ist das Atomkraftwerk natürlich nicht vollkommen ungefährlich. Aber auf der anderen Seite braucht das Land Stromenergie. Es gibt ein Sprichwort: Alles hat seine Schattenseiten. Ich glaube, dass die Wissenschaft in den vergangenen 30 Jahren nicht stillgestanden hat. Das Atomkraftwerk wird viel sicherer und moderner sein als Tschernobyl. Aus meiner Sicht wird das AKW für uns von Nutzen sein."

Die Recherche zu dieser Reportage wurde unterstützt von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.

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