30 Jahre Mauerfall

Wie weit ist die deutsche Einheit im Sport, Frau Braun?

10:42 Minuten
Einlauf der Mannschaften vor Beginn des innerstädtischen "Fußball-Gipfels" zwischen Hertha BSC und Union Berlin am 27.01.1990 im Olympiastadion in Berlin. Hertha gewann 2:1. | Verwendung weltweit
Januar 1990: das allererste Spiel von Hertha BSC gegen Union Berlin. © Thomas Wattenberg/dpa / picture alliance
Jutta Braun im Gespräch mit Thomas Wheeler · 28.07.2019
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Sport verbindet: Nur Wochen nach dem Mauerfall trafen sich Sportler aus Ost und West auf dem Spielfeld. Aber auch 30 Jahre später ist noch nicht alles zusammengewachsen, was zusammengehört, sagt Historikerin Jutta Braun. Etwa in der Dopingforschung.
Thomas Wheeler: Jeder hat sicherlich andere Erinnerungen, wenn um das Zusammenwachsen des deutschen Sports nach dem Mauerfall geht. Bei mir sind zwei Bilder im Kopf: das Freundschaftsspiel der beiden Fußballklubs Hertha und Union im Januar 1990 im Berliner Olympiastadion und die erste gemeinsame deutsche Olympia-Mannschaft nach der Wiedervereinigung bei den Winterspielen 1992 in Albertville.
Jutta Braun ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Wie ist es bei Ihnen Frau Braun, gibt es auch für Sie ein spezielles Sport-Ereignis, dass Sie mit den ersten Jahren nach der Wende verknüpfen?
Jutta Braun: Ja, hier in der ehemals geteilten Stadt Berlin erinnern sich die Menschen, glaube ich, vor allem daran, wie schnell nach dem Mauerfall ost- und westdeutsche Aktive zum gemeinsamen Sporttreiben sich zusammenfanden, das war schon wenige Tage nach dem Mauerfall. Besonders emotional denke ich war der erste Gesamtberliner Neujahrslauf im Januar 1990, der schon durch das Brandenburger Tor lief. Das war für viele ein sehr, sehr berührender Moment. Das Zweite, das haben Sie gerade erwähnt, das ist das Wiedervereinigungsspiel von Hertha und Union. Das war ja auch deswegen so brisant, weil die Fans von Hertha und Union ja in der Zeit des Kalten Krieges nur ganz heimlich und quer zum Eisernen Vorhang ihre Fanfreundschaft pflegen konnten und dieses erste offizielle Spiel, was gegeneinander stattfand, im Berliner Olympiastadion, war einfach ein Fest für die Ost-West-Fankultur und ist deswegen vielen in Erinnerung geblieben.

Sport zur Steigerung des Prestiges der DDR

Wheeler: Wenn wir so 'n bisschen jetzt ins Detail gehen, dann hat einmal Erich Honecker bereits 1948 gesagt für die DDR, "Sport ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck", das hat er so ein Jahr vor Gründung der Deutschen Demokratischen Republik bereits formuliert. Ist das denn letztendlich auch so gewesen, dass Sport genau so in der DDR betrieben wurde, wie er es damals halt mehr oder weniger als Marschroute vorgegeben hat?
Die Historikerin Jutta Braun, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Ihrem Büro beim Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Die Historikerin Jutta Braun.© privat
Braun: Das ist richtig, Sport wurde ganz gezielt zum Zweck der Mehrung des Prestiges der DDR betrieben, und hier hat man sehr systematische Maßnahmen ergriffen, also schon '54 gab es die Sportclubs als Eliteclubs, 1969 hat man die gesamte Sportlandschaft entlang olympischer Bedürfnisse modelliert, das heißt es wurden nur noch die medaillenintensiven Sportarten besonders gefördert, also ein sehr auf Effizienz gebürstetes System. '74 gab's den Dopingstaatsplan, und ja, diese Maßnahmen hatten dann ja auch eindeutige Ergebnisse. Seit '68 konnte die DDR immer die Bundesrepublik bei Olympischen Spielen schlagen, 1976 haben sie sogar die USA geschlagen und 1984 sogar den großen Bruder Sowjetunion, worüber sich die Sowjetunion nicht nur gefreut hat. Aber es zeigt, mit welcher Durchschlagskraft hier dieses kleine Land agiert hat.

Medaillen für das "bessere Deutschland"

Wheeler: Waren dann Medaillen letztendlich auch immer das Ziel, das oberste Ziel der DDR-Staatsführung?
Braun: Medaillen waren das Ziel, aber auch Medaillen waren natürlich Mittel zum Zweck, die DDR kämpfte ja um zwei Dinge, so wie der gesamte Ostblock, um die Anerkennung des Sozialismus als das bessere Gesellschaftssystem und speziell die DDR darum, das bessere Deutschland zu verkörpern. Und auf anderen Gebieten war man eben nicht konkurrenzfähig gegenüber der Bundesrepublik, nur im Leistungssport schien das doch sehr gut zu klappen. Und insofern hat man diesen Weg dann sehr konsequent beschritten.
Wheeler: Wenn wir jetzt also davon ausgehen, dass das, was Erich Honecker da formuliert hat, genauso umgesetzt wurde, wie würden Sie dann die Gegenthese für die Bundesrepublik zu Zeiten der beiden Blöcke formulieren beziehungsweise aufstellen? Haben Sie da eine?
Braun: Also eine scharfe Gegenthese kann man gar nicht formulieren, denn alle Sportnationen haben den Spitzensport immer genutzt, um ihr außenpolitisches Prestige zu mehren. Das ist auch heute in der Bundesrepublik so, Spitzensportler sollen das Ansehen Deutschlands in der Welt vertreten. Das ist insofern aber durchaus bedenkenswert, weil das Beispiel der DDR ja eigentlich eine völlig andere historische Lehre erteilt hat. Denn das Beispiel DDR zeigt ja, dass Medaillenerfolg kein schlüssiger Indikator ist für wirtschaftlichen Erfolg, für soziale Zufriedenheit oder gar für politische Gerechtigkeit in einer Gesellschaft. Also sportlicher Erfolg als pars pro toto für den Erfolg oder die Qualität einer Gemeinschaft ist eben nicht so leicht herzuleiten, aber diese historische Lehre ist, glaube ich, verpufft.

Aufgabe Wiedervereinigung "unterschätzt"

Wheeler: Nun ist nach der Wiedervereinigung von Politikern und auch von Sportfunktionären viel darüber geredet worden, es müsse jetzt zusammenwachsen, was zusammengehört. War das nicht vom Ansatz her von Anfang an möglicherweise viel zu überfrachtet, ist man da mit viel zu großen Erwartungen rangegangen?
Braun: Ich glaube eher, dass man die Aufgabe unterschätzt hat. Ganz am Anfang haben ja viele Sportfunktionäre und auch die Sportpolitiker gedacht, dass das Zusammenwachsen des deutschen Sports im Spitzensport ein Vereinigungsgewinn für den bundesdeutschen Sport sein würde. Sie erwähnten bereits Albertville, und genau das schien sich ja eben dort abzuzeichnen. In Albertville konnte sich das bundesdeutsche Team erstmals überhaupt auf Platz eins der Medaillenliste setzten. Also schien dieses Konzept aufzugehen.
Was man erst später begriffen hat, war, dass man auch ein völlig marodes Breitensportsystem geerbt hatte in den fünf neuen Ländern und dass man große Investitionen tätigen musste, um hier Sportstätten zu sanieren. Das hat man dann 1992 mit dem sogenannten "Goldenen Plan Ost" initiiert, der dann auch lange lief, über 15 Jahre, aber dieses Verhältnis zwischen Spitzen- und Breitensport hatte man, glaube, ich am Anfang nicht ausreichend im Blick.

Deutsch-deutsche Dopinghistorie

Wheeler: An welchem Punkt sehen Sie momentan die Aufarbeitung der Doping-Vergangenheit in Ost und West?
Braun: Die Dopingsysteme in Ost und West sind, das haben Sie richtig gesagt, eher getrennt erforscht worden, ich würde dafür plädieren, den Blick zu öffnen, den historischen Blick, und zwar in drei Richtungen. Zum Einen wäre es wünschenswert die Phase ab '89 in den Blick zu nehmen, also die sogenannte Phase der Transformation. Was ist eigentlich nach dieser Epochenzäsur 1989 passiert? Welche Kontinuitäten hat es gegeben? Welche Elitenkontinuitäten? Welche Brüche hat es gegeben, was Mentalitäten betrifft, oder welche Brüche hat es gerade nicht gegeben? Das ist immer aus historischer Sicht eine sehr, sehr interessante Frage, und die sollte man eben auch auf die Dopingpraxis anwenden.
Eine zweite Sache, die mich sehr interessiert sind die Kontakte von Sportmedizinern in Ost und West. Da gibt es interessante Dokumente, dass sich Mediziner, die in ihr jeweiliges Dopingsystem verstrickt waren, regelmäßig getroffen haben und sich auch über Schädigungen durch Anabolika ausgetauscht haben, also die Kooperation auf einer Fachebene hat hier sehr eng stattgefunden und man hat gefordert, intern, man solle das Doping abrüsten, wie bei den Salt-II-Gesprächen, also man hat im internen Sprachgebrauch Doping tatsächlich schon mit Atomwaffen gleichgesetzt und das zeigt wie stark den damals Beteiligten auch die Gefährlichkeit der Sache bewusst war. Also die Interaktion zwischen Ost und West in der Zeit des Kalten Krieges wäre eben das Zweite, was ich wichtig finde.
Und das Dritte, was ich sehr wichtig finde, dass man die ganze Dopingproblematik stärker in die generelle Biopolitik der Diktaturen im 20. Jahrhundert einordnet, denn alle Diktaturen des 20. Jahrhunderts hatten immer das Anliegen, lebendige Kampfmaschinen zu züchten, und das war vor allem für drei Felder interessant: für den sportlichen Wettbewerb, dann für die Produktionsschlachten und natürlich auch für die militärische Auseinandersetzung. Und insofern hängen Sportphysiologie, Arbeitsphysiologie und Militärmedizin sehr, sehr eng zusammen, und hier sollte man eben den Sport in das große Ganze einordnen.

Der trojanische Krieg gegen Doping-Seilschaften

Wheeler: Das ist es, was wir rückbetrachtend reflektieren müssen, was wir aufarbeiten müssen, weiterhin, wenn wir jetzt auf den Ist-Zustand 2019 schauen, die Bundesrepublik Deutschland, meint die das wirklich ernst mit dem Anti-Dopingkampf?
Braun: Das denke ich schon, wenn man bedenkt, welche Gelder geflossen sind, in Richtung NADA (Nationale Anti-Doping-Agentur Deutschland), dann die ganzen Diskussionen, die ja schwierig waren, um die Dopinggesetzgebung und um das Strafrecht. Das Problem ist ja weniger der Staat Bundesrepublik Deutschland, sondern die informellen Netzwerke im Sport, die sich weiterhin kriminell verhalten, und der Kampf gegen diese informellen Netzwerke, das ist wie der trojanische Krieg, in ganzer epischer Breite und Länge.
Und was einem so archaisch dabei vorkommt oder mir mittlerweile, ist, dass man immer wieder in den gleichen Argumentationsschleifen feststeckt. Schon vor 30 Jahren hieß es, es gibt bestimmte Bestmarken, die sind nur durch Doping erreichbar, das war eine Klage, die haben Athleten und auch Verbandspräsidenten schon vor 30 Jahren geführt und heute stehen wir an genau der gleichen Stelle. Also es scheint sich nicht wirklich etwas zu bewegen in der Grundsatzdiskussion.

Funktionen der Stasi für den DDR-Sport

Wheeler: Netzwerke, die mit Blick auf die Dopingverstrickungen bestanden und bestehen und die möglicherweise auch wenn man auf die Vergangenheit, was die Staatssicherheit angeht, wo Sportler involviert waren, Trainer, Funktionäre, Ärzte, möglicherweise genauso existiert haben. Ist auch dieser Teil der Vergangenheit aus Ihrer Sicht hinreichend aufgearbeitet?
Braun: Die Staatssicherheit ist natürlich für den DDR-Sport ein ganz, ganz wichtiges Thema, wobei die Stasi sehr ambivalent agiert hat, zum Einen hat sie durch ihre dauernde drohende Präsenz natürlich das Dopingsystem und das Sportsystem stabilisiert und auch diszipliniert, gleichzeitig findet man aber immer wieder Fälle, dass die Staatssicherheit erfolgreiche Sportler ausdelegieren wollte, weil die als politisch nicht zuverlässig galten und somit im Grunde genommen den sportlichen Interessen zuwidergehandelt hat. Also die Stasi war da schon ein ganz eigener gefährlicher Faktor, der nicht immer mit den Sportfunktionären konform ging.
Gleichwohl, nach 30 Jahren DDR-Forschung kann man sagen, dass die Grundfunktionen der Stasi im Sport offengelegt sind und auch in verschiedenen Werken beschrieben sind. Das heißt aber nicht, dass jeder Einzelfall aufgeklärt ist, und aus meiner Sicht liegt es in der Verantwortung der Vereine und Verbände hier darauf zu drängen und darauf zu achten, dass mögliche Opfer der Vergangenheit rehabilitiert werden, dass Belastungen aufgeklärt werden. Da muss man die Verantwortung aber sozusagen an den Sport und an die Gesellschaft zurückgeben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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