30 Jahre Mauerfall

Gefühlsarbeit mit 60 Frauen und einem Punk

12:48 Minuten
Eine Gruppe Menschen, zum Teil mit roten Sturmmasken vermummt, stehen hinter einem Transparent.
Die Fenster der Freiheit aufgestoßen: Mit Reden wollen Künstlerinnen und Künstler am 4. November an eine Großdemonstration in Berlin vor 30 Jahren erinnern. © Ronald Spratte
Moderation: Susanne Burkhardt · 02.11.2019
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Es soll ein "Theater der Revolution" werden: Das Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen will am 4. November die Großdemonstration für Freiheit, Demokratie und einen "Sozialismus, der des Namen wert ist" von vor 30 Jahren auf dem Alexanderplatz wiederbeleben.
Es war die größte Demonstration der DDR: Vor 30 Jahren, am 4. November 1989, versammelten sich auf dem Berliner Alexanderplatz eine halbe Million Menschen - darunter Künstler und Schriftsteller wie Christa Wolf und Stefan Heym:
"Es ist als habe einer die Fenster aufgestoßen", sagt Heym damals. "Und heute Ihr, die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist."

Feministischer Blick auf die Kundgebung

An diese Riesenkundgebung vom 4. November erinnern jetzt gleich zwei Theaterprojekte in Berlin: "Ost-Berlin - Revue einer verpassten Gelegenheit" heißt ein Abend an der Volksbühne.
Auf dem Alexanderplatz inszeniert das Theaterkollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen ein "Theater der Revolution" - mit 60 Frauen und einem Punk. Die Regisseurin Susann Neuenfeldt erklärt, warum sie die revolutionären Stimmungen und Reden von damals wiederbeleben wollen:
"Feministische Anliegen waren in der Aufbruchszeit genauso aktuell wie heute. Sie durften nur nicht sprechen als Redner auf dem Alexanderplatz".
Stattdessen hätten vor allem "staatstragende weiße Männer, die intellektuelle Elite der DDR und bekannte Künstler" gesprochen. Nicht vorgesehen als Rednerinnen waren, so Neuenfeldt, andere Gruppen wie ein Antifa-Block, die Lila-Offensive oder ein Öko-Block.
In der Neuinterpretation der Demonstration vom 4. November werden, so Neuenfeldt, nun aktuelle Positionen zu erleben sein. Die historischen Reden, würden teils original rezitiert, teils stark abgewandelt und aktualisiert von Performerinnen vorgetragen - wie einer Fridays-for-future-Aktivistin oder einer antifaschistischen Aktivistin, die ihre Rede selbst schreiben.
Zwei Frauen schauen in die Kamera, sie stehen in einer großen Halle.
Nicht nur Wiederbelebung, sondern Gefühlsarbeit an ein untergegangenes Land: Regisseurin Susann Neuenfeldt und Choreografin Maike Möller-Engemann© Frauke Jürgens
Der Schriftsteller Stefan Heym werde von einem Punk gespielt, der das berühmte Zitat Heyms "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen" in die weibliche Form umwandele: "Es ist, als habe eine die Fenster aufgestoßen."
Auch die Ambivalenz der sehr unterschiedlichen Redner - zwischen Künstlern und SED-Funktionären werde eine wichtige Rolle spielen. So sei die Rede von Günter Schabowski, dem SED-Funktionär, zu dem die Demonstranten eine große Distanz hatten, eine mutige Rede gewesen. "Der hat sich hingestellt und gebrüllt. Theatral liefert der ja wahnsinnig Material."

Neue Formen für linke Perspektiven

Choreografin Maike Möller-Engemann hat die Demonstrationsmenge von damals genau studiert und für ihre Arbeit im Theaterprojekt neu interpretiert: "In den historischen Aufnahmen sieht man, dass sie sehr unbeweglich ist, dass nicht viel Körperarbeit passiert. Es passiert Gefühlsausdruck, aber hauptsächlich stimmlich, nicht körperlich, wie wir es machen."
In der Wiederbelebung der Demonstration als Theaterereignis lässt sie auch neue Bewegungen wie Pussy Riot und Femen einfließen. Gleichzeitig beziehe sie sich aber auch auf körperliche Protestformen der 90er-Jahre, wie den Sitzstreiks gegen die Treuhandanstalt. "Da hat sich dann das historische und das heutige Material verbunden", so Möller-Engemann.
Wichtiges künstlerisches und politisches Ziel der Produktion "4-11-89 Theater der Revolution" ist, etwas gegen eine "Vereinnahmung der Aufbruchsstimmung durch die Rechte" zu setzen. "Was so wichtig ist für das Heute", betont Neuenfeldt, "dass diese Proteste in den 90ern gegen den vereinnahmenden Kapitalismus nicht erzählt wurden. 30 Jahre später brauchen wir empowernde Narrative für die Geschichte in den 90er-Jahren, für die Aufbruchsgeschichte der Ostlerinnen und Ostler, nicht von rechter Perspektive, sondern von linker Perspektive und empowernder Perspektive."

"4-11-89 Theater der Revolution" am 4. November 2019 ab 17.30 Uhr auf dem Alexanderplatz. Anschließend ab 20 Uhr in der Berliner Volksbühne: "OstBerlin - Revue einer verpassten Gelegenheit".

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