30 Jahre Deutsche Einheit

Zeit für mehr Vielfalt?

86:53 Minuten
19.09.2020, Brandenburg, Potsdam: Musiker des «Bergmusikkorps Saxonia Freiberg» spielen bei der «Einheits-Expo» zum Tag der Deutschen Einheit am Pavillon Sachsen auf ihren Blasinstrumenten.
Halbzeit "Einheits-Expo" © dpa / Fabian Sommer
Moderation: Vladimir Balzer  · 26.09.2020
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Am 3. Oktober wird gefeiert: 30 Jahre Deutsche Einheit. Aber wer feiert da eigentlich? Ist es ein Fest für die "Biodeutschen" aus Ost und West? Was verbinden Migrant*innen mit diesem Datum? Ist es nicht endlich Zeit für mehr Vielfalt?
Der 3. Oktober ist ein Tag der Erinnerung und der Bilanz: Wie weit sind wir zusammengewachsen in Ost und West? Was eint, was trennt uns? Nur, wer ist eigentlich mit "Wir" gemeint? Wo bleibt bei all den Analysen und Feierlichkeiten die Perspektive der Migrant*innen und People of Color, die ebenfalls seit Generationen in Deutschland leben?

Plädoyer für einen "Tag der Vielfalt"

"Ich fände es schön, wenn wir statt des deutschen Einheitstages einen vielfältigen Einheitstag feiern würden", sagt die Publizistin Ferda Ataman. Es sei eben keine "Wiedervereinigung von weißen Westdeutschen mit weißen Ostdeutschen" gewesen. Zugewanderte wie ihre Eltern, die aus der Türkei ins damalige Westdeutschland gekommen waren, hätten den Mauerfall ebenfalls miterlebt und auch begrüßt. Doch die Einheit sei für viele von ihnen zum Alptraum geworden: "Nach den Freudentränen entpuppte sich die Wende für Ausländer und People of Color als Zeit der Abwertung - egal ob in den neuen oder alten Bundesländern."
Dreh- und Angelpunkt ist für sie der Spruch: "Wir sind das Volk": "Wer war damals drin? Wer ist heute drin – und wer ist rausgefallen?" Damit beschäftigt sie sich auch in ihrem Buch "Ich bin von hier. Hört auf, zu fragen!" Darin schreibt sie: "Deutschland ist längst eine plurale Republik. Auch Ahmet und Yeganeh werden als Deutsche geboren." Es sei höchste Zeit, dass in den Debatten deutlich wird: "Das ist auch unser Land! Wir brauchen ein neues Narrativ. Eins, das auch uns mitnimmt und einschließt."

"Wucht des Umbruchs wird unterschätzt"

"Sind wir ein Land, sind wir ein Volk?", diese Frage beschäftigt auch Martina Weyrauch, sie leitet seit 20 Jahren die Landeszentrale für politische Bildung des Landes Brandenburg. "Womit ja immer wieder die Sehnsucht verknüpft ist, alles wird gut, irgendwann ist man angekommen, kann sich kuschelig einrichten. Aber nein, es gibt kein kuscheliges Happy End, es gibt kein Ende der unerwarteten Situationen und Verwerfungen."
Das habe sie als gebürtige Ostberlinerin in vielen Situationen nach der Wiedervereinigung erlebt. "Die Wucht dieses gesellschaftlichen Umbruchs wird bis heute unterschätzt. Wir saßen in unseren Wohnungen, und außer unserem Namen hat sich alles geändert. 50 Prozent der Industrie-Arbeitsplätze fielen weg – das kann man sich heute kaum mehr vorstellen. In meiner Familie wurden alle arbeitslos." Das habe selbst stabile Menschen umgehauen. "Und dann schlagen manche um sich – und es trifft die Schwächsten der Schwachen." Damit wolle sie die fremdenfeindlichen Übergriffe in den neuen Bundesländern nicht entschuldigen.

"Einigkeit liegt in gemeinsamer Verantwortung"

Letztlich könnten die gesellschaftlichen Herausforderungen nur gemeinsam geschafft werden. Dies sei Teil ihrer bildungspolitischen Arbeit, bei der es auch um die Situation der ehemaligen Vertragsarbeiter aus Vietnam geht, die zu DDR-Zeiten angeworben wurden. "Die Einigkeit liegt in der gemeinsamen Verantwortung für ein konstruktives, solidarisches und friedliches Deutschland, egal wo jemand geboren ist: ob in Neuruppin, Münster, Warschau, Hanoi oder Damaskus."
(sus)

30 Jahre Deutsche Einheit – Zeit für mehr Vielfalt?
Darüber diskutiert Vladimir Balzer heute von 9.05 bis 11 Uhr mit der Publizistin Ferda Ataman und mit Martina Weyrauch, Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung in Brandenburg. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 0800 2254 2254 sowie per E-Mail unter gespraech@deutschlandfunkkultur.de.
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