25 Jahre Wirtschaftsrevolution in Indien

"Eine sehr egoistische Form des Kapitalismus"

Ein Zug-Ochse in Old-Delhi
Ein Zug-Ochse in Delhi: Ein alltägliches Bild im modernen Indien. © Jürgen Webermann / ARD Studio Delhi
Jürgen Webermann im Gespräch mit Nana Brink · 13.05.2016
1991 lockerte der indische Staat seine Wirtschaftspolitik - staatliche Reglementierungen wurden aufgehoben. Es begann ein Wirtschaftsboom, von dem die große Mehrzahl der Inder allerdings nicht profitiert, meint Korrespondent Jürgen Webermann.
Bis zum Jahr 1991 war die Wirtshaft in Indien quasi sozialistisch organisiert. Vorher war es Firmen ohne Lizenz der Regierung kaum möglich, auch nur eine Schraube zu importieren.
Nach den Reformen setzte ein Boom ein, der das Land nachhaltig veränderte, aber auch eine extreme Form des Kapitalismus hervorbrachte.

600 Millionen Menschen ohne Toilette

Einige sind "unfassbar reich geworden", berichtete Korrespondent Jürgen Webermann im Deutschlandradio Kultur – aber 600 Millionen Menschen in Indien leben zum Beispiel unter untragbaren hygienischen Bedingungen.
Jürgen Webermann: "Indien hat die höchste Zahl an Multimillionären weltweit mittlerweile, aber gleichzeitig haben 600 Millionen Leute noch immer keine Toilette. Das heißt, man hat durch diese Veränderungen immer so Wohlstandsinseln oder Fortschrittsinseln geschaffen (…), aber direkt gegenüber findet man dann eben Slums, wo die Leute unter unvorstellbaren Bedingungen hausen müssen.
Es gibt Tagelöhner, es gibt teilweise mittelalterliche Verhältnisse. (…) Es gibt zwei Indien, von denen man sprechen muss: Das mittelalterliche Indien, vor allem auf den Dörfern, wo es praktisch noch so aussieht wie vor Jahrzehnten. Und das wirklich moderne Indien, das sich rasant ändert."

"Kriminelle Energie, um sich hochzuarbeiten"

Auch spiele Korruption in Indien eine große Rolle:
"Da muss man zum Teil auch kriminelle Energie aufbringen, um sich hier hochzuarbeiten.. (…) Reiche Leute nutzen jede Lücke und jede Verbindung, um eben noch reicher zu werden. Und wer es nicht schafft, zum Beispiel eine vernünftige Schule zu besuchen, der bleibt auch unten. Und es gibt hier im Grunde auch kaum Anreize seitens des Staates, die Leute aus dieser Armutsfalle herauszuholen. Es ist schon eine sehr egoistische Form des Kapitalismus, die hier gelebt wird."
Insgesamt nähmen überhaupt nur 300 Millionen Inder am Wirtschaftskreislauf teil, sagte Webermann: Das heißt, eine Milliarde Menschen sind davon abgekoppelt. 90 Prozent der Arbeitsplätze seien informelle Arbeitsplätze. Er glaube daher nicht, dass Indien in absehbarer Zeit zu den entwickelten Nationen gehören werde. Diese Erwartung halte er eher für eine Selbstüberschätzung der Inder:
"Die Armut ist noch so extrem und so extrem verbreitet, dass man fast schon sagen kann: Es werden mehr Leute in Armut geboren, hier in Indien derzeit, als aufsteigen in die Mittelklasse."
Männer in Indien warten auf Arbeit
Männer in Indien warten auf Arbeit© Jürgen Webermann / ARD Studio Delhi
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