25 Jahre Neue Länder

Sachsen-Anhalt, das vernarbte Land

Eine Schaulustige verfolgt am Freitag (24.06.2011) das Geschehen des 15. Sachsen-Anhalt-Tages in Gardelegen (Altmarkkreis Salzwedel) neben einer Sachsen-Anhalt-Fahne.
Nicht viel los: In den Gemeinden Sachsen-Anhalts fehlen Bewerber für politische Ämter. © dpa / picture alliance / Jens Wolf
Von Christoph Richter · 24.09.2015
Oft wird Sachsen-Anhalt im Zusammenhang mit Misserfolgen genannt, Berichte von Arbeitsplatzabbau und Strukturwandel stehen im Fokus. Dabei hat das Land auch einiges an Erfolgsgeschichten zu bieten. Die erzählt nur niemand.
Und so sind wir schon mitten im Thema. Nämlich die 25-jährige Geschichte Sachsen-Anhalts mal aus der Erfolgsperspektive zu erzählen. Hierzulande eine weitgehend unbekannte Disziplin. Lieber spricht man von Tristesse und Grauköpfigkeit statt von einem Wirtschaftswunder. Ein Problem, das der frühere LEUNA-Manager Reinhard Kroll gut kennt. Von 1992 an hat der Ostdeutsche die Total-Raffinerie maßgeblich mit aufgebaut.
"Ich finde, Sachsen-Anhalt hat so viele positive Dinge, es wird leider Gottes nur über die negativen Nebeneffekte gesprochen. Über das Positive, was normal ist, kommuniziert man nicht."
"Also in gewisser Weise, wenn man es vergleicht mit dem, was vor 1990 war, ist dieses Land eine blühende Landschaft",
so der Liberale Karl-Heinz Paqué. Von 2002 bis 2006 war er der Finanzminister Sachsen-Anhalts. Heute lehrt der studierte Volkswirt Internationale Wirtschaft an der Universität Magdeburg.
Ein Industriegebiet Mitte der 60er-Jahre in der DDR
Nicht nur in der Region um Bitterfeld gehörte die Belastung der Umwelt durch die Industrie zum Alltagsleben.© picture alliance / Klaus Rose
Ein schwierigeren Start als Sachsen-Anhalt hatte keines der ostdeutschen Länder, ergänzt noch Wirtschafts-Experte Paqué. Die Öko-Katastrophe, sie hatte drei Namen: Braunkohle, Chemie-Dreieck und Bitterfeld. Alles in Sachsen-Anhalt, weshalb man es immer noch das Land der Kombinate nennt. Ex-Leuna Manager und Chemiker Reinhard Kroll steckt der Gestank von gestern noch heute in der Nase.
"Wenn Sie mit dem Zug von Halle nach Weißenfels gefahren sind, haben Sie sich durch die Zugstrecke gerochen. Das stank. Das zog in den Zug rein. Da konnten Sie – wenn Sie Chemiker waren – entscheiden, in welchem Bereich der Chemie Sie sich befinden. Die ganze Entschwefelung von Verbrennungsstoffen, die war nicht so wie heute. Das war bei Inversionswetterlagen so dramatisch, dass Schwefel schmeckbar war. Das machte so ein taubes Gefühl auf der Zunge, das hat sogar die Lichtintensität vermindert."
Von alldem ist heute nichts mal mehr zu ahnen. Viele der Tagebaue sind re-naturiert, bei Bitterfeld ist eine Gewässerlandschaft entstanden, wo im Sommer die Surfsegel im Wind knattern. Es duftet nach Holunder.
In der Goitzsche – einem ehemaligen Tagebau-Loch – will man jetzt gar Bernstein fördern, der im tiefen Grund lagert. Erste Probebohrungen gab es bereits. Von 900 Tonnen ist die Rede, vom weltweit einzigen Bernsteinsee wird gesprochen. Um Touristen anzulocken, die die Meisten noch als Synonym für die dreckigste Region Europas im Kopf haben.
"Mit dem Bernstein muss es uns gelingen, die Tourismus-Intensität zu erhöhen, die Leute zum Wiederkommen zu animieren. Das ist die große Kunst vor der wir stehen und das ist die große Aufgabe."
So der 45-jährige Bitterfelder CDU-Landtagsabgeordnete Lars-Jörn Zimmer. Vorsitzender des Tourismusverbandes Sachsen-Anhalt.
Starke Strukturbrüche in kurzen Zeit
Das Wirtschaftswachstum in Sachsen-Anhalt ist von 1990 bis 1997 um 60 Prozent gewachsen, ähnlich wie zu Wirtschaftswunderzeiten in den 1950er-Jahren in der alten Bundesrepublik. Dass es sich danach abschwächte, ist nach Angaben einer KfW-Studie mit dem erreichten hohen Niveau zu erklären. Auch gebe es keinen gravierenden Rückstand mehr zu den Einkommen im Westen. Zuletzt hat er bei 84 Prozent gelegen, schreiben die Autoren. Auch die Arbeitslosigkeit hat sich von einem hohen zweistelligen Bereich, auf eine Quote von 9,5 Prozent verlagert. Die besser bezahlten Jobs seien allerdings bis heute nicht in Sachsen-Anhalt zu finden, schreibt Oliver Holtemöller vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle.
Und: Bis heute leidet Sachsen-Anhalt unter dem Strukturwandel. Weltweit gibt es keine Region, das so starke Strukturbrüche in so einer kurzen Zeit erleben musste, wie Sachsen-Anhalt. Beispiel Chemiepark Leuna.
"Das waren 27.000 Menschen, die hier in Brot und Lohn standen, von denen sind 23.500 Menschen innerhalb von drei Jahren nicht mehr beschäftigt gewesen. Der Bestand ist bis auf 3.500 Mitarbeiter in einer rasenden Geschwindigkeit runtergegangen."
Das hat weh getan, sagt der heute 62-jährige Leuna Ex-Betriebschef Kroll, der für den Umbau mit verantwortlich war.
"Da kann ich Ihnen sagen, das hat nicht wirklich viel Spaß gemacht. Und das ging in einer Geschwindigkeit, die wir uns heute nicht mehr vorstellen können."
Heute gilt die Raffinerie als eine der modernsten Europas. Nachts leuchtet sie so hell, dass man meinen könnte, mitten in Manhattan zu stehen.
Sicherheit, Konsens, Rückzug vom Politischen
Dass dem nicht so ist, zeigen tiefe Narben. Eine ganze Generation entlassener Industriearbeiter sieht sich bis heute um ihre persönliche Lebensleistung gebracht. Wunden, die noch lange nicht verheilt sind. Wunden, die den Wunsch der Sachsen-Anhalter nach Sicherheit, Konsens, Rückzug vom Politischen sowie Misstrauen nähren.
"Die inneren Kräfte der Selbstgestaltung sind weitgehend schwächer als in anderen Bundesländern", lautet die Diagnose von Thomas Kliche. Politik-Psychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
"Ich würd mal sagen, ganz platt, es fehlt den Menschen sowas wie kapitalistische Sozialisation. Das heißt, Menschen, die lernen, unternehmerisch zu denken und zu handeln. Deswegen ist auch Sachsen-Anhalt, was Gründungen angeht, weit hinter den anderen Bundesländern. Es fehlt an Menschen, die mit Unsicherheit und Risiko umgehen, es fehlt an Menschen, die in Nischen reingehen, um da was zu investieren, zu gestalten."
Mit einer Selbständigen-Quote von acht Prozent gehört Sachsen-Anhalt immer noch zum Schlusslicht. Bundesweit. Die Risikobereitschaft ist gering ausgeprägt, viele wollen sich fest anstellen lassen. Nach Angaben der Wirtschaftsdatei Creditsafe haben sich in Sachsen-Anhalt im ersten Halbjahr 2015 lediglich 342 Firmen gegründet, im Vorjahreszeitraum war es das Doppelte.
Musik: Land der Frühaufsteher – Grebe
Gerade bei dieser Nummer von Rainald Grebe hauen sich viele Menschen – landauf, landab - amüsiert auf die Oberschenkel.
Immer ist von Misserfolgen die Rede, den Jammer-Ossis, nie aber von Erfolgsgeschichten. Die Berliner Schriftstellerin Monika Maron vermutet, dass die Ostdeutschen womöglich ihre eigenen Erfolgsgeschichten überhaupt nicht kennen.
Beispiel FAM - Förderanlagen Magdeburg. Der einstige "VEB Förderanlagenbau 7. Oktober" produziert Schüttgutanlagen, Tagebau – und Hafentechnik, die weltweit im Einsatz ist, die Kunden kommen aus den USA, Kanada und Russland.
Aber man könnte auch die vielen kleinen kreativen Unternehmen nennen, wie IFA Rotorion in Haldensleben, Marktführer bei Gelenkwellen. Oder die Quedlinburger Bowdenzugmanufaktur. Seilzüge aus Sachsen-Anhalt, die in der U-Bahn von Sao Paulo im Einsatz sind. Aber auch den Namen des kleinen Hallenser Bio-Tech-Unternehmens Icon Genetics sollte man sich merken. Hier wird ein weltweit einzigartiges Verfahren entwickelt, um das lebensrettende Ebola – Medikament ZMapp zur Produktreife zu bringen. Eine unvollständige Liste.
Die Narbe der Nach-Mauerfall-Zeiten
Narrative, die kaum bekannt sind. Stattdessen ist der Niedergang von Q-Cells und des Bitterfelder Solar-Valley den Menschen bestens vertraut. Als Ende der 1990er-Jahre enthusiastische Ingenieure den Versuch starteten, mit Sonnenergie in Sachsen-Anhalt eine bessere Welt zu schaffen und wegen der Solarkrise scheiterten. Damit war der große Traum von einer strahlenden Zukunft in Sachsen-Anhalt geplatzt, das Trauma wieder aufgebrochen. Und da war sie auch wieder, die Bitterkeit, die Narbe der Nach-Mauerfall-Zeiten, der immer mit dem Verlust Tausender Arbeitsplätze verbunden war.
Ein Feld in Sachsen-Anhalt nach der Ernte. Im Hintergrund stehen Windräder.
Ein Feld in Sachsen-Anhalt© imago/Westend61
Sachsen-Anhalt sollte sich aber nicht mit den Misserfolgen der Vergangenheit beschäftigen. Stattdessen den demografischen Wandel selbst anpacken, sagt Politik-Psychologe Thomas Kliche. Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung schrumpft die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt bundesweit am stärksten. Im Jahr 2030 schreiben die Autoren leben voraussichtlich nur noch 1,95 Millionen Menschen im Land, 2012 waren es noch 2,26 Millionen. Herausforderungen, denen sich das Land mehr stellen muss als bisher, sagt Kliche. Und nennt das Land zwischen Arendsee und Zeitz auch Modellland.
"Also demografischer Wandel und ländliche Gebiete ist ja was, was auf dem Vogelsberg oder der Schwäbischen Alb genauso passiert, wie in den Highlands von Schottland oder in Inner-Irland oder oben in Spanien, im Baskenland. Und da kann man voneinander lernen. Und im Grunde hätte Sachsen-Anhalt gerade mit der Dynamik von Leuten, wir wollen uns um was kümmern, wir wollen etwas besser machen, ne Chance, was auf die Beine zu stellen."
Hierbei sei es aber wichtig, Gelder im Hochschul- und Wissenschaftsbereich – sowas wie die Lebensversicherung Sachsen-Anhalts – aufzustocken, statt zu kürzen, wie es aktuell passiere. Nur so könne man die Dinge anpacken, ein Umdenken starten, ergänzt Kliche. Doch dazu brauche es politische Visionen. Aber genau da hapere es, denn während Unternehmer vieles versuchen, versuchen Politiker eher wenig. Seien apathisch.
"Naja ein Effekt dieser Traumatisierung durch den Untergang des sogenannten Sozialismus war auch, dass sich keiner mehr traut, sowas wie große Vorstellungen von einem guten Leben in der Zukunft zu entwickeln. Das wird hier von außen implantiert. Es gibt Niemanden, der die Stärke, die Organisation oder die Bereitschaft hätte, sich mit so einer Vision hinzustellen. Und zu sagen, guckt mal, so sollte unser Land aussehen. Das ist toll und wir kriegen das hin. Wir sind nicht nur das Material für andere Länder, dass hier seine Fachkräfte holt und irgendwie ein paar Rentner schickt, sondern wir sind ein Land, dass eigene Kernpunkte, ein eigenes Programm und ein eigenes Wesen hat."
Um letztlich mit universitären Ausgründungen, kleinen innovativen Unternehmen eine Art Silicon Valley Ost zu gründen. Keine Hochstapelei. Ist möglich, sagt Thomas Kliche. Um aus dem vernarbten Land Sachsen-Anhalt in Zukunft vielleicht ein echtes Wirtschaftswunderland zu machen. Muss man nur wollen.
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