200 Jahre Rheinhessen

Nicht Pfalz - und schon gar nicht Hessen

Helle Weintrauben (Sorte unbekannt) hängen an einem Rebstock auf einem Weinberg
Rheinhessen präsentiert sich gerne als "Land der Tausend Hügel" © picture-alliance / dpa / Alexandra Schuler
Von Anke Petermann · 07.07.2016
Rheinhessen ist nicht Hessen, selbst wenn die hügelige Weinlandschaft bis 1945 dazu gehörte: Darauf bestehen die selbstbewussten und bodenständigen Bewohner des Landstrichs. Den Menschen hier gelingt allerhand - auch die Integration von Flüchtlingen.
"Willkommen insbesondere die Gäste, die nicht aus Siefersheim sind. Schön, dass Sie sich mit anschließen!"
Start im tiefen Westen – dort, wo Rheinhessen bei Bad Kreuznach das Nahe-Land berührt. Treffen auf einer Wiese außerhalb von Siefersheim. Ein Weindorf, wie fast alle Orte im größten deutschen Anbaugebiet.
Die Wiese ist der neue ehrenamtlich hergerichtete Besucherparkplatz. Im Jubiläumsjahr haben sich die Siefersheimer damit für die vielen Auswärtigen gewappnet, die von hier zur Küstenwanderung aufbrechen wollen.

Siefersheim liegt am Meer

Küstenwanderung? Richtig gehört. Das 1300-Einwohner-Dorf mit zehn hauptberuflichen Winzern liegt am Meer, nicht nur am Rebenmeer. Doch dazu später mehr.
"Das war jetzt meine Frage: Wollen wir den direkten Weg gehen? Wollen wir'n bisschen ausschweifen? Wir haben also Zeit genug."
Die Frage beantwortet sich von selbst.

Schnurstracks? Geht hier nicht

Schnurstracks auf einen der tausend Hügel, mundartlich Hiwwel, zu rennen, dort kurz über das weite Land zwischen Hunsrück und Taunus zu blicken und wieder runter zu rennen, wäre ganz und gar unrheinhessisch. Wer von außerhalb hierherkommt, sucht ja genau das: das Schlenkern und Schweifen, gelegentlich auch Ausschweifen. Elke Zydziun, Chefin der Siefersheimer Landfrauen, weiß das.
"Der höchste Punkt ist 271 Meter hoch, das Goldene Horn, wo wir natürlich auch die Weinsicht genießen werden, und ich denke fast, dass wir so ganz klein bisschen 'n Schwenker machen können."
Und so schweift ein Dutzend Wanderer an diesem für rheinhessische Verhältnisse ungewöhnlich grau-windigen Sonntagmorgen in Richtung Goldenes Horn aus, mit fast 300 Metern Höhe eine geradezu gewaltige Erhebung im welligen Rheinhessen. Das gemächliche Vorwärtsschlenkern - genau richtig, damit sich Auswärtige und Einheimische kennenlernen. Gisela Borchardt aus dem kleineren Nachbardorf Wonsheim zum Beispiel, aktiv im Vorstand der Siefersheimer Landfrauen, bestimmt ein echtes rheinhessisches Urgestein!
"Ich bin eigentlich aus Aachen und einmal durch Deutschland gezogen ungefähr und habe jetzt hier meinen Ruhestand gefunden, habe ein Häuschen gebaut, und jetzt kann ich hier sesshaft werden. Und das ist eine gute Gegend, um sesshaft zu werden. Weil die Leute so kontaktfreudig sind, weil die Landschaft so vielfältig ist und weil die Natur so vielfältig ist."
Hat die Aachen-Wonsheimer Rheinhessin denn gar nicht mitbekommen, dass es sie in eine Monokultur verschlagen hat? Reben auf 20 % der Landesfläche, dazu einige Rüben-Äcker. Wald – weitgehend abgeholzt. Obst-Plantagen und vereinzelte Baumgruppen - der eher kümmerliche Ersatz.

Wilde Kuhschellen im Naturschutzgebiet

Doch zumindest vereinzelt lassen Winzer Kräuter zwischen den Rebzeilen wachsen und Gemeinden säen gemeinsam mit Naturschützern an den Wegrändern weiße Schafgarbe, violette Flockenblume und gelbe Färberkamille. Das Siefersheimer Naturschutzgebiet Martinsberg ist bekannt für wild wachsende Kuhschellen. Küchenschellen heißen die violetten Frühlingsblüher auch.
"Eben so viele verschiedene Pflanzen, die man in manchen Gegenden gar nicht mehr sieht. Und obwohl ich immer Bedenken habe, dass vielleicht auch gespritzt wird oder so, und trotzdem: Orchideen wachsen hier, Heide wächst hier. Und das ist eben dieser besondere Reiz hier an dieser Gegend, dass so unterschiedliche Sachen in der Natur auch zu finden sind."
Das Geheimnis für Kuhschellen, Heidekraut und Orchideen liegt im mageren vulkanischen Boden. Eingebettet in die Hügel, darunter das Goldene Horn, liegt das fast 800 Jahre alte Dorf Siefersheim geschützt.
"Was sehr schön aussieht, finde ich, also wenn so ‘n Ort sich an so ‘n Berg kuschelt."
Witterungstechnisch erfüllt der zum Berg aufgewertete Hügel vor allem in diesem nassen Sommer seine Funktion.
"Also, wir haben, toi, toi, toi, nicht unbedingt viel mit Unwettern zu tun, weil das doch meistens links und rechts abgehalten wird."
Die rheinhessische Kulturbotschafterin lenkt die Wanderer einen kleinen Hang abseits vom Wirtschaftsweg hoch.

Abtauchen in die Erdgeschichte

Der Bewuchs wird spärlicher, der Boden sandiger, es tut sich ein Strand-Panorama auf: Der urzeitliche Sandstrand der einstigen Hornberg-Insel vor der subtropischen West-Küste des Mainzer Beckens.
"Stehen Sie jetzt hier irgendwie im Meer – sozusagen?"
"Ja, ja, noch mit Kopf unter."
Ein Porträt von Elke Zydziun, Chefin der Siefersheimer Landfrauen
Elke Zydziun, Chefin der Siefersheimer Landfrauen© Deutschlandradio / Anke Petermann
Nur im Urzeitmeer allerdings. Elke Zydziun führt die Gruppe wieder hangabwärts auf den Wirtschaftsweg zurück.
"Oben auf dem Horn hätten wir Glück. Hier wären wir noch Land unter. Auch hier viele Funde. Also, wenn Sie da oben anfangen, in dem Sand, in dem Kies zu graben, finden Sie ruckzuck Muscheln, und mein Sohn selbst hat mal einen Haifischzahn gefunden, das ist dann schon toll."
Acht bis zehn Zentimeter messen die Exemplare, die bislang von den größten der mehr als zwanzig Urzeit-Hai-Arten auftauchten. Finderglück am Tertiär-Strand. Wie lange her?
"Gut, das sind 35 Millionen Jahre, wo hier dieses Urmeer aktiv war. Reste davon sind jetzt hier an diesem Küstenweg auch dokumentiert. Der Küstenwanderweg zieht sich ja von hier bis nach Alzey über die verschiedenen Gemeinden, wo immer wieder Spuren des Urmeers zu finden sind, Muschelkalk, Sandböden. Wir haben hier diesen Lavastrom, also kein Vulkanausbruch, sondern eine unterirdische Aufwölbung durch den Lavastrom, und der erzeugte halt dieses Porphyr-Verwitterungsgestein, das letztendlich so ideal ist für unsere Weine."

Fossiles Brandungskliff im Weinberg

"Wollen Sie das Kliff mal sehen? – Ganz kurz."
Noch ein Blick auf ein soeben erst entdecktes und freigelegtes fossiles Kliff oberhalb eines Wingerts. Furchen in der mannshohen Felsformation - die Spuren urzeitlicher Brandung. Von oben schützt Gebüsch das Kliff wie ein Vordach. Im benachbarten Eckelsheim war Ende der neunziger Jahre ein weit größeres Brandungskliff in einem Steinbruch entdeckt worden. Nach Frostschäden bedeckte man das einzigartige Geo-Monument vor 14 Jahren wieder mit Sand, um es zu konservieren.
Vom Urzeitstrand weiter zur "Winzeralm", von einem Siefersheimer Weinbauern mit massiven Holzbänken und -tischen hergerichtet. Das Hochplateau in der sogenannten "rheinhessischen Schweiz" wurde soeben vom Deutschen Weininstitut zur schönsten "Weinsicht 2016" gekürt. Um das zu feiern, schenken acht von zehn Siefersheimer Winzern unter freiem Himmel Riesling, Grau- und Weißburgunder aus, Rosé und Secco, den leichten Perlwein.

Die Siefersheimer Jungwinzer arbeiten zusammen

Hinterm improvisierten Tresen stehen junge experimentierfreudige Nachwuchsunternehmer - die nächste Generation Weinbauern, viele davon studiert und mit Auslandserfahrung. Konkurrenz untereinander? Katharina Faust, Erik Sommer und Albrecht Möbus zucken die Schultern.
"Also, ich muss sagen, bei uns in Siefersheim net. Wir machen ganz viel zusammen. Da gibt’s eigentlich nichts."
"Jeder hat so seine eigene Vermarktungsschiene, und deswegen gibt’s im Großen und Ganzen keine Konkurrenz."
Sommer ist Bio-Winzer, Faust und Möbus bauen konventionell an. Gemeinsam sind sie stark.
"Genau. Gemeinsam sind wir stark. Das macht Siefersheim auch nach außen stark. Wir sind acht Winzer, mir hon uns geeinigt, von jedem ein Wein. Wenn jeder zwei Weine hätte, wär‘ die Auswahl zu groß. So hot ma schon ne gewissen Bandbreite, ma hot verschiedene Rebsorte und Geschmacksrichtungen, also von daher ist für jeden was dabei."
Jörg Zimmermann bewirtschaftet die Winzeralm an den Wochenenden, Wenn hier oben die weiße Fahne weht, wissen die Siefersheimer unten im Dorf, dass der Weinbauer gute Tropfen ausschenkt.

Weitblick in den Hunsrück und Taunus

Allein bleibt er an seinem Lieblingsplatz nie.
"Es ist der Weitblick, dass ma hinten Richtung Rheinböllen gucke kann, was vielleicht 50 Kilometer sin, das Binger Loch, 30 Kilometer, die Germania, ja. Und es ist auch so die Erinnerung, dass früher, wo die Zeit ruhischer war, mein Vatter dann mit mir am Wingert gehoggt hat und hat mir dann erklärt, was man sehen kann und hat immer gesagt, von hier aus kannst 53 Ortschaften sehen."
Ausgerechnet zum Jubeltag, an dem alle verfügbaren Wein- und Kommunal-Majestäten der Region angerückt sind, wird das Goldene Horn seiner Schutz-Funktion nicht gerecht. Ein gewaltiger Gewitter-Platzregen entlädt sich über der Winzeralm. Das Schwatzen und Lachen findet dennoch kein Ende. Im Gegenteil: Gedrängt unters schmale Zeltdach der improvisierten Tresen-Tischreihe fällt das Geschnatter noch lauter und lustiger aus.

Ohne Rhein wären sie Hessen

Wer als Auswärtiger jetzt noch nicht begriffen hat, wie Rheinhessen ticken, dem erteilt Birgitta Kalveram, einst Meenzer Meedsche, jetzt Siefersheimer Landfrau, lyrische Nachhilfe, der Regen prasselt dazu aufs Zeltdach.
"Ohne Rhei, da wär‘ mir Hesse,
ohne Wei ä dorschtisch Seel‘
dank dem Rhei,
sin mir Rheihesse,
dank dem Wei
an schönster Quell‘
Nix wär’ alles ohne Rebe,
ohne Rebe gäbs kei Moscht,
ohne Moscht kaa Wei, kaa Lebe
und auch net des Wörtchen 'Prost'!"
Erstaunlich, dass diese Rheinhessen, die so glücklich sind, keine Hessen zu sein, ausgerechnet die Besitzergreifungsurkunde eines hessischen Großherzogs vom 8. Juli 1816 zum Anlass für eine Jubiläumssause nehmen. Ludwig I. von Hessen-Darmstadt bekam die Provinz vor 200 Jahren als Ersatz fürs Herzogtum Westphalen, das er an die Preußen abgeben musste.

Ersatz-Westfalen? Sie feiern trotzdem

Andere würden sich schämen, wenn auf der Geburtsurkunde "Ersatz-Westfale" steht. Die Rheinhessen dagegen begraben die historische Schmach einfach unter dem Trubel von mehr als 500 Konzerten, Festen, Märkten, Ausstellungen und Wanderungen. Einer der ihren, ein Bärtiger mit Baskenmütze, wollte sich nicht damit abfinden, dass immer nur die Zugereisten den Landstrich lobten und sagten:
"'Ei, bei eisch kann man ja so weit gugge.' Un dann ham die Rheihesse gesaacht: 'Ei guggemoldoo!' Des hatte sie überhaupt noch net gemerkt, dass man so weit gugge kann, weil: Sie hatte beim Schaffe immer unner sisch geguggt. Beim Traubelese kann man sisch des vorstelle, weil wann man da net unner sisch guggt auf die Traube, da kann man sisch ja schnellemol in die Finger schneide, aber noch entscheidender ist das Riiebe-Hacke."
Beim Auftritt in der romanischen Martinskirche anlässlich der Wormser Kulturnacht schaut Volker Gallé prüfend ins Publikum.

Weitblick beim Rübenhacken macht depressiv

"Isch waaß net, wer von Ihne schon mal Riiebe gehackt hat, aber wenn man Riiebe hackt un man guggt ans End‘ vom Acker, wird man depressiv."
Und weil die Rheinhessen vor lauter Traubenlesen, Rübenhacken und sonstigem Schaffen vergessen, sich und ihre Aussicht zu loben, hat Gallé mit der Entdeckung der Geburtsurkunde Rheinhessens organisiert, dass das jetzt ein Jahr lang nachgeholt wird. Leider nur ein Schaltjahr lang, weshalb ein Selbstlob-Tag fehlt. Der Jubiläums-Erfinder, im Brotberuf Kulturbeauftragter der Stadt Worms, kompensiert das, indem er Rheinhessen täglich bis zu dreimal an verschiedenen Orten lobpreist.
"Weil des aber so schee war, dass denne Touriste Rheihesse gefall‘ hat, hab isch gedacht, dass mer so weit gugge kann und dass Rheihesse zu zwo Drittel aus Himmel und nur zu einem Drittel aus Erde besteht, do muschemol ä Lied mache, damit die sisch des merke kenne."
"Wann die Bach wischpert,
dann muschemol heere,
mojens die Sunn’ uffm Bauchnabel speere."
Merke: der rheinhessische Bach ist eine Frau und – sie wispert.
"Die Kerschbeem, sie blihe, nei guggemol hiie!
Doo is Rheihesse so schee,
vom Wind in de Beem kannsche alles versteh‘,
doo is Rheihesse so schee,
in Himmel un‘ Erd’ kannst spaziere du geh‘.
Leileileileileleileilalala …"
Der Mundart-Liedermacher singt gemäßigtes Rheinhessisch, damit ihn auch Auswärtige verstehen. Dem Original-Gebabbel lauschen lässt sich gut, wenn man durchs Wonnegau radelt: die Weinberge bei Worms, berühmt für ihre Schutzhütten, auch Trulli genannt wie die runden weißen, Kuppeldach-Häuschen in Apulien.

Wingertshajsche oder Trulli

Oberhalb von Flörsheim-Dalsheim hat ein Winzer sogar einen neuen Trullo gebaut. Davor steht ein Mittsechziger und erzählt Jüngeren aus der Gegend, wie sein Großvater Mitte der fünfziger Jahre das Wingertshajsche nutzte.
"Säit er: Buu isch komm heit obend net hom, isch schloof über Nacht doo, es sind so viel‘ Stare doo."
"Junge, ich komme heute Abend nicht nach Hause, ich übernachte hier", spricht der Opa. Es seien so viele Staren im Weinberg.
"Es waare ober kaa Stare doo, es waare die Flasch‘ doo!"
Von wegen Staren verscheuchen - Opa machte es sich mit einem Weinvorrat im "Wingertshajsche" gemütlich, genau dort, wo er den Enkel zuvor aufgestört hatte.
Touristen beim geselligen Zusammensein an einer kleinen Winzerhütte
Touristen beim geselligen Zusammensein an einer kleinen Winzerhütte© Deutschlandradio / Anke Petermann
"Isch bin von dem Kanapee runtergefallen."
"Kanapee" nennt der Winzer-Enkel das Sofa.

Französische Spuren überall

Das französische Intermezzo um die Wende zum 19. Jahrhundert hat Spuren hinterlassen. Rheinhessen fahren auf der Chossee und gehen auf dem Trottwaa. Anders als im Hochdeutschen werden die französischen Lehnwörter germanisch betont, also auf der ersten Silbe. So nimmt es jedenfalls der Fremde wahr. Der Mundart-Autor Volker Gallé korrigiert.
"Hier macht man ja beides. Das ist ja das Besondere. Hier betont man germanisch und romanisch, also mein Name zum Beispiel wird Gallé ausgesprochen - vorne un hinne gleichzeitisch hoch. Also das ist ne typische Mischform, die sich hier entwickelt hat, auch im Akzent."
Auf einem Weingut seines Heimatdorfs Mauchenheim an der Grenze zur Pfalz referiert Gallé vor Nordpfälzer GEW-Gewerkschaftern über die Besonderheiten von Mentalität und Mundart zwischen Bingen und Worms.

Markenzeichen: gesellig und pragmatisch

Der Rheinhesse versteht sich als Republikaner französischer Prägung und gewissermaßen als mediterrane Gattung Deutscher. Merkmal: außerordentlich gesellig.
"Das hat natürlich nicht nur mit ‘m Wein zu tun, schon auch, aber es hat auch was damit zu tun, dass die Leute in dieser fruchtbaren Landschaft sehr eng aufeinander leben. Sehr viele verschiedene Leute unterschiedlicher Herkunft, war auch immer ein Migrationsland."
"Die große Völkermühle, die Kelter Europas", nannte der in Nackenheim geborene, in Mainz aufgewachsene, vor den Nazis geflohene und wieder heimgekehrte Dramatiker Carl Zuckmayer den Landstrich. Dennoch findet Volker Gallé Rheinhessen eher kleinbäuerlich-kleinbürgerlich als kosmopolitisch.
"Wenn Sie mit jemandem nah zusammenleben, müssen Sie sich mit ihm arrangieren, das ist jetzt keine Toleranz aus philosophischen oder religiösen Erwägungen, sondern aus praktischen Erwägungen. Das ist ein starker Wesenszug der Rheinhessen: sehr pragmatisch und wenig ideologisch."

Quelle für Wortschöpfungen

Der Winzer, bei dem Gallé mit den Nordpfälzer Gewerkschaften sitzt, hat den 200 Jahre alten Viehstall zum stilvoll-schlichten Gastraum umfunktioniert. Genauso pragmatisch, wie sie alte Bausubstanz umnutzen, integrieren Rheinhessen die Sprache der französischen Nachbarn und sporadischen Besatzer - als Quelle für Wortschöpfungen und Redewendungen.
"Zum Beispiel so Begriffe wie sellemols, damals. Celle, französisch, und 'mal', deutsch. Oder wenn man sagt 'gib mir mol sell un' jenes' - dies und jenes, solche Begriffe haben sich schon lange gehalten. Mein Großvater zum Beispiel, der ja nie Französisch gelernt hatte, weil er Volksschule gehabt hat, hat mir so’n Spruch überliefert, den viele Rheinhessen noch kennen:
Le boeuf - der Ochs’
La vache - die Kuh
Fermez la porte
Die Tiir mach' zu.
Ich finde, es ist ne sehr sympathische Methode, denn sie tut nicht so, als sei das Fremde nicht fremd. Sie tut aber auch nicht so, als könne man sich das Fremde nicht aneignen."
Rheinhessisch ist flexibel. Vor dem Französischen hatte es schon das Jiddische integriert. Rheinhessen selbst sind nur bedingt anpassungsfähig: "Owwermaschores" mögen sie nicht.
"Sie können es nicht leiden, wenn jemand sich als Führer aufspielt."
Gleichheit und Brüderlichkeit gehörten schon vor der Französischen Revolution hierher. Gelassen und gut organisiert nehmen rheinhessische Dörfer derzeit Flüchtlinge auf.

Fünf gerade sein lassen

Wenn Volker Gallé bei seinen Konzerten die Nähe von rheinhessischer und orientalischer Mentalität anspricht, erntet er zunächst ungläubige Lacher. Wie in der Mauchenheimer Mühlwiesenhalle.
"Kimmsche heit or moje
Odder kimmsche iwwermoje
Odder gar net meh."
Es folgt erstaunt-amüsierte Selbsterkenntnis.
"Mach der jo kaa soje
Mach der jo kaa soje
Weil aach geschdern war mol moje
Unn is aach ferbei."
Als rheinhessisches Vorzeigedorf in Sachen Integration gilt Jugenheim südlich von Mainz. Die Initiative "Willkommen im Dorf" hat jüngst mit Unterstützung der evangelischen Kirche Hessen-Nassau einen Leitfaden zur Flüchtlingsarbeit erstellt, auf den ländliche Gemeinden bundesweit zurückgreifen.
Seit anderthalb Jahren leben Syrer, Iraker und Afghanen in Wohnungen mitten im Dorf. Sport und gemeinsame Feste schweißen Einheimische und Neuankömmlinge zusammen. Einige sprechen schon gut Deutsch, die ersten haben Jobs.

Ohne Kopftuch – keine Furcht mehr vorm Taliban

Sabine Klein erzählt von der alleinerziehenden afghanischen Mutter von zwei Kindern, um die sie sich kümmert.
"Sie trägt kein Kopftuch mehr – also von ganz allein. Ich würde da nie etwas sagen, aber sie will hier ankommen, ja."
Außerdem:
"Keine Angst mehr vorm Taliban."
Nach 18 Monaten immer noch kein Termin, um den Asylantrag zu stellen, das heißt für die Afghanin auch: kein Geld für einen Sprachkurs. Die Jugenheimer Willkommensinitiative finanziert die teure Monatsfahrkarte nach Mainz. Die Flüchtlingsfrau bezahlt den Integrationskurs selbst und verzichtet auf Vieles für ihre Kinder und sich.
"Aber die will, die möchte wirklich, und sie spricht am allerbesten von allen Flüchtlingen hier im Dorf Deutsch."
Ihre Tochter Monise geht in die erste Klasse. Da will ihre syrische Freundin nach den Sommerferien hin.
"Was ist schön im Wasser?"
"Plantschen, Schwimmen, Spritzen!"
"Und was machen wir immer zum Schluss?"
"Rutschen!"
Dass das syrische und das afghanische Mädchen nach ihrer Bootsflucht und überstandener Todesangst mit Spaß schwimmen gelernt haben – einer der vielen Erfolge der Willkommensinitiative - und für Sabine Klein ein Motivationsschub. Unlängst hat sie gemeinsam mit anderen Ehrenamtlichen eine Kleiderkammer eröffnet: für Flüchtlinge und alle sozial Benachteiligten auch aus den Nachbardörfern. Jugenheim, da sind sich die Alltagshelfer einig, ist mit dem Engagement für Flüchtlinge enger zusammengewachsen.
"Wann isch dann net do bin
Odder jemand annres do is
Wardsche bis isch kumm."

Der Orient grenzt direkt an Rheinhessen

In Mauchenheim hat derweil der Liedermacher Volker Gallé sein Publikum überzeugt: Der Orient ist nah.
"Geschdern odder moje
Odder iwwermoje
Odder aber vorgeschdern
Odder aach vor verzehn Taach."
Mehr zum Thema