200 Jahre Dostojewski

Aufzeichnungen eines Spielers

Schwarzweiß Zeichnung von Dostojewskij, der auf einem Stuhl sitzt und Fliege trägt.
Wurde nach eigenen Angaben zweimal geboren: der Autor Dostojewskij. © picture alliance / akg-images
Von Uli Hufen · 06.11.2021
Wer von Dostojewski erzählen will, steht vor Problemen. Sein Werk ist gigantisch und sein Leben vielschichtig. Er war Vieles und wollte Vieles sein in seinem Leben. Aber vor allem war er ein begnadeter Schriftsteller.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski führte ein Leben wie in einem Roman. Er litt an schwerer Epilepsie, war über Jahre dem Glücksspiel verfallen, seine erste Frau starb früh an Tuberkulose und hinterließ zwei Kinder. Das Leben stieß Dostojewski zu. Mitte der 1840er-Jahre war er bereits - mit 25 Jahren - ein berühmter Schriftsteller und die große Hoffnung der aufgeklärten, progressiven Bürger Russlands.
Der Literaturwissenschaftler Friedrich Hitzer formulierte 1966: "Er galt als Entdecker und Überwinder der menschlichen Laster, als Tiefenpsychologe und Existenzialist, Philosoph, Prophet und vieles anderes, als Nihilist und Atheist auf dem Weg zum Christentum, als Aufrührer und Versöhner."
Am 23. April 1849 wird Dostojewski zusammen mit vierzehn andern jungen Männern verhaftet. Der Vorwurf: Verbreitung verbotener Literatur und Ideen. Aufruhr gegen den Staat. Im europäischen Revolutionsjahr 1848/49.

Wladimir Kaminer zu Dostojewski [AUDIO]
Schriftsteller Wladimir Kaminer wuchs in der Sowietunion auf und kam daher schon früh mit Dostojewski in Berührung. In seiner Zeit in Moskau gab es kein Theater, an dem nicht Dostojewski aufgeführt wurde. Das hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen – Kaminers Kater trägt den Namen Fjodor Dostojewski.

© imago images / Future Image
Seine Romane sind klug und tief, aber auch nervenzerreißend spannend, herrlich unterhaltsam, zuweilen grandios sentimental und auch komisch. Gut geschriebene, clever gebaute "Pageturner". Sie sind voller großartiger Figuren. Dostojewskis amerikanischer Kollege David Foster Wallace hat das einst schön formuliert:
"Das Besondere an Dostojewskis Figuren ist, dass sie leben. Und damit meine ich nicht nur, dass sie erfolgreich gestaltet, glaubhaft und 'rund' sind. Die besten seiner Figuren leben in uns, für immer, wenn wir ihnen einmal begegnet sind."
Dostojewski ist ein Risikomensch, das gehört zu seinem Habitus. Er selbst reflektiert das auch: "Das Risiko gehört für mich dazu. Ich kann nicht anders: ohne Risiko, ohne Druck, ohne den Abgrund vor mir zu haben, kann ich überhaupt nicht produktiv sein."

"Arme Leute" - Start einer literarischen Karriere

Dostojewskis Ambitionen sind gigantisch, sein Einsatz hoch. 1844 nimmt er seinen Abschied aus dem Staatsdienst, fortan ist er auf sich selbst gestellt. Er pokert und gewinnt. Zunächst.
Im Januar 1846 erscheint sein Debüt, der Briefroman "Arme Leute". Er wird ein Hit beim Publikum und ist schon zuvor einer bei der Kritik, allen voran bei dem Mann, der in diesen Jahren im literarischen Leben Russlands entscheidet: Wissarion Belinskij.
Belinskij lobt "Arme Leute" als mustergültig, weil er sozialkritischen Realismus darin erkennt, kleine Leute, niedere Schichten. Dass Dostojewski sich im Grunde weniger für soziale Not interessiert als für psychologische Zwänge, entgeht Belinskij.

Gefängnisjahre

Vier Jahre verbringt Dostojewski als Häftling in Ketten in einem Zwangsarbeitslager im sibirischen Omsk. Die sogenannte Katorga ist nach der Todesstrafe die schwerste Strafe im Russischen Zarenreich. Er ist 27 Jahre alt, als Zar Nikolaus I. ihm kurz vor der Hinrichtung das Leben schenkt. Und es ist wohl keine Übertreibung, wenn man sagt, dass Dostojewski, den die Welt heute als einen der größten Schriftsteller der Geschichte feiert, erst an diesem Tag geboren wurde. Am 22.Dezember 1849. Er sagte es auch selbst.

"Aufzeichnungen aus dem toten Haus"

Für den Schriftsteller Dostojewski ist es naheliegend, wahrscheinlich selbstverständlich, dass seine Rettung in der Literatur liegen wird. Aus der Erniedrigung, aus dem Elend, aus den Schmerzen, aus der ganzen grausamen vierjährigen Einsamkeit und Isolation kann und muss Literatur werden. Schon während der Kettenhaft in Omsk hat Dostojewski ein Buchprojekt im Kopf. Er will seine Erfahrungen produktiv machen. Im Lazarett, wo er wegen seiner wohl im Arbeitslager einsetzenden Epilepsie häufig ist, gelingt es Dostojewski, Notizen zu machen. Zum Beispiel über die Art, wie die kriminellen Strafgefangenen "aus dem Volk" eigentlich sprechen. Dostojewski schreibt seinen Katorga-Text nach der Rückkehr in Sankt Petersburg. Als das Buch 1861/62 erscheint – wie alle Werke Dostojewskis zunächst als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift – bekommt es den Titel "Aufzeichnungen aus einem toten Haus".
Es ist das zweite Debüt des inzwischen halb vergessenen Schriftstellers. Fünfzehn Jahre sind vergangen seit den "Armen Leuten". Wieder ist der Erfolg groß, wieder wird Dostojewski gefeiert. Doch es gibt einen riesigen Unterschied. Die "Aufzeichnungen aus dem toten Haus" sind anders als "Arme Leute" ein wahrhaft revolutionäres Buch. Inhaltlich wie formal. Dostojewski literarisiert seine Erfahrungen. Die "Aufzeichnungen aus dem toten Haus" sind nicht seine Aufzeichnungen, sondern die des adligen Mörders Alexander Gorjantschikow, der seine Ehefrau aus Eifersucht erschlagen hat. So steht Dostojewskis Buch am Beginn des modernen, aus bekannten Gründen überaus fruchtbaren russischen Literaturgenres der Gefängnis- und Lagerliteratur.
Viele Männer ent- oder bekleiden sich auf einer Bühne, einige sind komplett nackt, andere steigen gerade in Hosen oder ziehen T-Shirts oder Hemden an. Alle Stoffe sind in Grau-, Beige- und Weißtönen gehalten.
94/ Oper: AUS EINEM TOTENHAUS, Ensemble in der Berliner Staatsoper im Schiller Theater am 29.09.2011, Premiere am 03.10.2011, Oper in drei Akten von Leos Janacek, Nach dem Roman von Fjodor Dostojewski© imago images / POP-EYE
Der Mann, der 1859 nach zehn Jahren aus Sibirien ins europäische Russland zurückkehrt, ist ein anderer Dostojewski. Er ist ein Ex-Häftling, den die Geheimpolizei noch für viele Jahre überwachen wird. Er ist ein frisch bekehrter Sünder, der allem revolutionären Ungeist abgeschworen hat. Und er ist ein anderer, ein sehr viel besserer Schriftsteller. Die "Aufzeichnungen aus dem toten Haus" sind das erste Werk dieses neuen Dostojewski.

"Schuld und Sühne"

"Verbrechen und Strafe" ist ein Krimi, bei dem von Anfang an bekannt ist, wer der Täter ist. Die Spannung ergibt sich allein aus der Frage, wie die Strafe für das Verbrechen aussehen wird." Guski formuliert das Thema in "Verbrechen und Strafe", bekannt auch unter dem Titel "Schuld und Sühne", so: "Die Strafe besteht darin, dass er die Schuld selbst erkennen muss. Dieser Prozess der Selbsterkenntnis und der Sühne, die erst zum Schluss passiert, ist die eigentliche Strafe, der er ausgesetzt ist. Nicht die Zuchthausstrafe selbst."
Russland und der Westen. Der rationale, wurzellose, auf Gewinn und Individualität bedachte Mensch der Moderne und sein Gegenüber: der Mensch, der in der Gemeinschaft ruht, in Traditionen und im Glauben. Das sind die Konfliktlinien. Aber "Verbrechen und Strafe" ist auch ein philosophischer Roman zur Zeit. Dostojewski schreibt seinen metaphysischen Thriller um politische und philosophische Fragen zu stellen. Es ist ein Bestseller, ein Pageturner, ein Buch, das man nicht aus der Hand legt. Aber wie hat Dostojewski das gemacht? Es ist ein Roman. Und schon das war neu, ja revolutionär.

Babylon "Europa"

Während Dostojewski durch Europa tourt, in Spielhallen verliert und einer jungen Frau nachjagt, liegt seine Ehefrau in Petersburg im Sterben. Tuberkulose. Die Schulden wachsen. Doch Dostojewski reist. Was er bei seinen Reisen in Europa sieht, zerfällt in zwei Teile. Das eine sind Sehenswürdigkeiten, Kunst, das Erbe der Vergangenheit. Doch was missfällt ihm in Europa?
Laut Guski ist es "In erster Hinsicht das Erwerbsstreben, das bürgerliche Erwerbsstreben, dass nur noch gearbeitet wird, um Besitz zu haben und nicht mehr gearbeitet wird um mit dem Besitz, den man erarbeitet hat, mit den Gütern, dem Geld, das Leben genießen zu können. Diese totale Entfremdung, die stört ihn vor allen Dingen. Am Kapitalismus stört ihn das Scheinheilige."
Den Inbegriff dieser modernen Lebensweise fand Dostojewski auf der Zweiten Weltausstellung in London, die im Mai 1862 eröffnet wurde, mehr als 28.000 Aussteller aus 36 Länder versammelte und sechs Millionen Besucher anzog. Die Ausstellung war, kurz gesagt, eine Leistungsschau des modernen Kapitalismus und der industriellen Revolution, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, und in seinen Augen der Beginn der Apokalypse: "Sollte das schon das erreichte Ideal sein? fragen Sie sich. Ist das nicht das Ende? Ist das nicht die der Tat schon die ,eine Herde’? Wird man das hier nicht tatsächlich für die volle Wahrheit halten und für immer verstummen müssen? (…) Es ist wie ein biblisches Bild, etwas Babylonisches, eine Prophezeiung der Apokalypse, die vor unseren Augen Wirklichkeit wird. Sie spüren, daß es großer, in Jahrhunderten gereifter geistiger Gegenwehr und Verneinung bedarf, um standzuhalten, um nicht dem Eindruck zu erliegen, um nicht vor dem Faktum das Haupt zu beugen und Baal anzubeten, das heißt, um nicht das Bestehende als das eigene Ideal zu betrachten.

Von "Der Idiot" zu "Dämonen"

Extravagante Rhetorik, wie so oft bei Dostojewski. Keine Scheu vor biblischen Vergleichen und heftiger Polemik. Babylon, Apokalypse. Aber eins ist klar: Hier schreibt einer der ersten visionären Kritiker jener erbarmungslosen Fortschrittsideologie, die die Welt seit damals und bis heute eisern im Griff hat. Und Dostojewski will nicht, dass Russland so wird.
Und Dostojewski schreibt. In Genf entstehen die ersten Teile des neuen Romans "Der Idiot", der im Laufe des Jahres 1868 erscheint. Gleichzeitig sammelt Dostojewski bereits Eindrücke und Ideen für einen weiteren, großen Roman: "Dämonen".
Auf der Bühne sitzen zwei Personen an einem Tisch, ums sie herum werden mehrere verschiedene Videos projiziert.
Eine Szene aus 'Dämonen' im Yauza-Theater in Moskau.© imago images / ITAR-TASS
Die Handlung der "Dämonen": Zwei junge Männer kommen im Herbst 1869 aus dem Ausland zurück in eine namenlose, verschlafene Kleinstadt. Der eine der beiden heißt Nikolaj Stawrogin, ist ein im Leben verlorener, dämonischer. Der andere heißt Pjotr Werchowenskij, ist der Sohn von Stawrogins ehemaligem Hauslehrer und plant, Russland mit Hilfe eines Netzwerks kleiner lokaler Terrorzellen in Schutt in Asche zu legen. Innerhalb eines Monats verwandeln die beiden das verschlafene Städtchen in ein Tollhaus. Es gibt Morde und Selbstmorde, Streiks, Skandale und Affären. Über dem Geschehen in der Kleinstadt liegt mehr als nur ein flüchtiger Hauch von Wahnsinn.
Bei aller Komik, bei allem Irrsinn: Die Toten sind real und das Böse auch. Daran besteht nie ein Zweifel. Stawrogin ist jede Vorstellung von Moral abhandengekommen. Er ist ein Mann, der Gewalt unterhaltsam finden kann. Er tötet, wenn nötig, aber lustlos.

Schriftsteller oder Prophet?

Fjodor Dostojewski starb am 28. Januar 1881 an einem Lungenemphysem. An der Trauerprozession sollen mehrere zehntausend, vielleicht sogar 100.000 Menschen teilgenommen haben. Zwei Monate später stürzte ein neuerliches, diesmal erfolgreiches Attentat auf Zar Alexander II. Russland in eine neue, tiefe Krise. Dostojewski musste nicht mehr erleben, wie seine Warnungen vor den Dämonen des revolutionären Terrorismus, vor sozialistischen Ideen und der westlichen Lebensweise neue, dramatische Aktualität gewannen. Aber damit war die Geschichte nicht zu Ende. Noch lange nicht.

Literatur:
Fjodor Michailowitsch Dostojewski: "Arme Leute", Verlag: Reclam, Ditzingen, 1985
Fjodor Michailowitsch Dostojewski: "Verbrechen und Strafe", übersetzt von Swetlana Geier, Frankfurt 2017
Fjodor Michailowitsch Dostojewski: "Die Dämonen", Berlin 2021
Andreas Guski: "Dostojewski : Eine Biographie", München 2021
Friedrich Hitzer und Alexander Eliasberg: "Gesammelte Briefe 1833 – 1881", München 1966

Das vollständige Skript zu dieser Langen Nacht finden Sie hier.

Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur/Deutschlandfunk 2021.

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