200. Geburtstag von Henry David Thoreau

Individualist, Asket und Störenfried

Der Philosoph Henry David Thoreau, Porträt von 1861
Der Philosoph Henry David Thoreau, Porträt von 1861 © imago / ZUMA press
Philosoph Dieter Thomä im Gespräch mit Stephanie Rohde · 09.07.2017
Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau zog sich 1845 gezielt in die Wälder nahe Boston zurück, um nicht nur die Vielfalt der Natur, sondern auch die Vielfalt in sich selbst zu entdecken. Was kann er uns heute lehren?
Für Thoreau, so Dieter Thomä, war die Natur "das größte Kunstwerk". Sie hebt uns heraus aus dem profanen Dasein, ermöglicht uns, das Leben auf "eine höhere Stufe" zu stellen. Dem amerikanischen Philosophen ging es gleichwohl nicht nur um ästhetischen Genuss, die Natur war für ihn vielmehr "ein Raum", in dem man lebt.
Tatsächlich hatte sich Thoreau zeitweise in die Wälder zurückgezogen: Sein wohl bekanntestes Werk "Walden" erzählt von dieser Erfahrung der Einsamkeit und Intensität. Thoreau, sagt Thomä, sei es darum gegangen, das "Mark des Lebens auszukosten", ganz und gar in der Gegenwart zu leben und dafür den Tand des profanen Alltags abzustreifen. Sinn und Geist zusammenzubringen, das sei sein Ziel gewesen. Thoreau wollte gleichsam mit seinem Geist "eintauchen" in die Natur, durchaus auch in ihrer Dramatik und Brutalität, und dabei die Vielfalt entdecken: Die Vielfalt der Beeren, des Holzes, der Stimmen.

Raus aus dem Selbstvergleich mit anderen

Thoreau war ein Asket, meint Thomä, aber nicht im antiken Sinne, er war kein Diogenes in der Tonne, auch kein Müßiggänger im eigentlichen Sinne, war er doch immer auch streng, ja hart gegen sich selbst. Perfektionierung sei ein erklärtes Ziel Thoreaus gewesen, so Thomä: "Er will da etwas aus sich herausholen", sich in der Natur entfalten. "Seid für die Welten in euch selbst ein Kolumbus", zitiert er Thoreau, der in der Natur sich selbst entdecken und entwickeln wollte.
Der Schweizer Philosophieprofessor Dieter Thomä
Der Schweizer Philosophieprofessor Dieter Thomä© picture alliance/dpa/Karlheinz Schindler
Dennoch, meint Thomä, sei Thoreau der heutige Trend zu Körperkult und Selbstoptimierung gänzlich fern gewesen. Den Sklaventreiber in uns hat er verachtet, auch Selbstkontrolle lehnte er ab. Dem heutigen Zwang zum ständigen Vergleich mit anderen, wie er sich in der Quantified Self-Bewegung manifestiert, hätte Thoreau eine klare Absage erteilt: Man könne nach Thoreau sein Selbstwertgefühl nicht daraus ableiten, wie andere sich fühlen.

Die Welt ist für die Individuen da

Thoreau erhob seine Stimme für die Freiheit in der Gesellschaft, aber auch für die Freiheit von der Gesellschaft. Die Welt ist für die Individuen da, nicht umgekehrt die Individuen für ihr Land. "Meine Worte sind Mord am Staat", zitiert Thomä Thoreau, denn der amerikanische Philosoph war ein entschiedener Verfechter des zivilen Ungehorsams, inspiriert hat er unter anderem Mahatma Gandhi, wobei Thoreau Gewalt durchaus als probates Mittel in Erwägung zog.
Thoreaus Ablehnung eines starken Staates habe vor allem die politische Rechte angesprochen: "I love my country but I hate my government", zitiert Thomä einen beliebten Aufkleberspruch auf amerikanischen Autos. In Wahrheit aber habe Thoreau mit einem Patriotismus, gar einer Politik eines Donald Trump nichts zu tun. Anders als für diesen habe für Thoreau immer der Mensch und die Natur im Mittelpunkt gestanden, nicht die Ökonomie.
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