1971 – Carole King publiziert "Tapestry"

Als der Pop erwachsen wurde

10:21 Minuten
Porträt einer jungen Frau mit langen braunen gewellten Haaren und schwarz-weiß-gelb bedruckter Bluse. Sie strahlt über das ganze Gesicht - vor ihr ein Mikrofon. Vermutlich handelt es sich um eine Bühnensituation, der Hintergrund ist schwarz.
Die Sängerin Carole King im Jahr 1972: Nach der Trennung von Ehemann Gerry Goffin kommt für sie eine grandiose Solo-Karriere. © picture alliance / Avalon/Retna | Michael Putland
Klaus Walter im Gespräch mit Vivian Perkovic · 10.02.2021
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Vier Grammys gab es einst für „Tapestry“ von Carole King, das zu den meistverkauften Alben zählt. Es bringt die Stimmung der beginnenden 70er auf den Punkt, wie der Musikjournalist Klaus Walter meint.
Klaus Walter: Carole King kommt 1942 als Carole Klein in einer jüdischen Familie in Manhattan zur Welt. 1971 ist sie also schon ziemlich alt für einen Popstar. "Tapestry" erscheint genau einen Tag nach ihrem 29.Geburtstag. Es ist ihr zweites Solo-Album, das erste war ein Flop. Aber andererseits hat Carole King 1971 schon eine grandiose Karriere hinter sich.
Vivian Perkovic: Wie das? Was für eine Karriere?

Walter: Mit ihrem Ehemann Gerry Goffin bildet Carole King eines der produktivsten und erfolgreichsten Songschreiber-Gespanne der 60er Jahre. Wer in den 60ern ein Teenager war, der kam nicht vorbei an Hits wie "One Fine Day" oder "Up on the Roof" und "Oh no not My Baby". Schwelgerische, schwärmerische Drei-Minuten-Soundtracks zu den Tragödien und Komödien der Pubertät. Viele große Stars nehmen die Songs von Goffin & King auf.
Perkoviv: Wer denn zum Beispiel?
Walter: Die Byrds und die Monkees, Dusty Springfield und Aretha Franklin, Bryan Ferry oder Roberta Flack. Von John Lennon und Paul McCartney ist überliefert: "Unser Ziel ist es, Lieder zu schreiben, die das Format von Goffin & King-Kompositionen haben."
Kein Wunder, dass sich auf den frühen Alben der Beatles gleich vier Coverversionen von Goffin & King-Songs finden. Das ist also die erste Karriere der Carole King bevor sie anfängt, ihre eigenen Songs zu singen.
Perkoviv: Wie kommt es dann dazu, dass sie die Seiten wechselt und ihre eigenen Lieder aufnimmt?
Walter: Das hat mehrere Gründe. Einer ist sicher die Trennung von Gerry Goffin, er war ihr Ehemann und ihr Partner im Songwriter-Gespann Goffin & King.
Mit den 60er Jahren endet beides: Die Songwriter-Partnerschaft und die Ehe. So liegt eine Art Endzeitstimmung über dem gesamten Album "Tapestry", aber auch der Wunsch nach einem Neubeginn, eine Aufbruchsstimmung. Das gilt ganz besonders für den größten Hit des Albums, "It's too Late".
Perkovic: Worum geht es in dem Song?
Walter: Es ist die Bilanz einer gescheiterten Beziehung, einer verflossenen Liebe. Im Text heißt es:
"Es wird wieder gute Zeiten geben für dich und mich, aber zusammenbleiben können wir nicht, spürst du das nicht auch? Dennoch bin ich froh für das, was wir hatten und wie ich dich einst liebte..."
Der Kritiker Dave Marsh spricht von einem 'illusionslosen Blick auf die praktischen Perspektiven dieser Trennung', sieht einen Zusammenhang mit dem aufkommenden Feminismus dieser Zeit, wobei interessanterweise der Text zu "It´s too Late" gar nicht von King stammt, sondern von Toni Stern.
Eine Schwarzweißfotografie zeigt ein Paar bei einem festlichen Anlass. Die Frau (links) trägt eine Robe und offenes, langes lockiges Haar. Der Mann (rechts) trägt einen Anzug mit weißem Hemd und Fliege, dazu Sonnebrille. Er hat langes lockiges Haar und einen Vollbart.
Die US-amerikanischen Singer-Songwriter Carole King und Gerry Goffin – aufgenommen in New York im Jahr 1987© picture alliance / dpa | Sam Teicher Collection For Songwriters
Perkovic: Was macht "Tapestry" darüber hinaus zu einem besonderen Album?
Walter: Prätentiös gesprochen, ist "Tapestry" ist ein "rites de passage"-Album, ein Album der Übergänge. Der Übergänge zwischen zwei Lebensstadien: bei King das Ende der Ehe, das Ende der Jugend. Und zugleich markiert es eine Übergangsphase, was das Soziale und das Politische angeht.
Carole King formuliert auf "Tapestry" Erfahrungen, die ganz viele Leute ihres Alters machen: Die 60er mit all ihren Hoffnungen und Utopien sind zuende, vieles hat sich nicht erfüllt. Beziehungen sind zerbrochen. Es gibt die ersten Toten, sei es im Krieg in Vietnam, sei es durch Drogen. Also ein Album über den Abschied von der Jugend, auch ein Album, das den Schritt vom Wir zum Ich macht. Von den kollektiven Erlebnissen der 60er zur Vereinzelung der 70er.
Perkovic: Was genau verstehen Sie unter Vereinzelung der 70er?
Walter: Zweierlei, einerseits das Soziale und Politische, andererseits das Musikalische. Die 60er waren das Jahrzehnt der Bands und der Kollektive, der großen Festivals von Monterey bis Woodstock. Die 60er enden mit dem Albtraum-Festival von Altamont mit Mord und Totschlag.
Die 70er beginnen mit dem Ende der Beatles, aus den Fab Four werden vier Individuen. Aus Carole King, die mit ihrem Ehemann Hits für andere schreibt, wird Carole King, die Singer-Songwriterin, eine Frau, die selbst singt, in der ersten Person Singular, ihre eigenen Songs. Der Begriff Singer-Songwriterin ist gewissermaßen ein Spaltprodukt dieses Übergangs vom Wir zum Ich.
Perkovic: Und das Soziale und Politische, das sie angesprochen haben, was hat es damit auf sich?
Walter: Da sind wir bei der "Me Decade", Ich-Dekade, so bezeichnet der Autor Tom Wolfe die 70er. Die Abkehr von kollektiven Kämpfen, Abschied von gemeinsamen Utopien, hin zur sogenannten Selbstverwirklichung, zur Selbstbespiegelung, zu einem ich-zentrierten Hedonismus.
Man könnte auch von einer Entpolitisierung der Hippies reden: Gestern noch kämpferisch in einer Bewegung, heute zurückgezogen auf den Freundeskreis. Das ist ja auch die Stimmung von einem anderen Hit auf "Tapestry".
Perkovic: Carole King, "You´ve got a Friend", inwiefern verkörpert dieser Song die Stimmung der frühen 70er?
Walter: Der Text ist ein Hilfsangebot: Wenn du Sorgen hast, wenn's dir nicht gut geht, du kannst jederzeit zu mir kommen, denn du weißt, in mir hast du einen Freund. Das entspricht eben der psychischen Lage vieler nicht mehr ganz junger Leute nach den turbulenten 60ern. Der Song wird dann ein Riesenhit in der Version von James Taylor, der übrigens auch auf "Tapestry" als Gastsänger dabei ist, ebenso wie auch Joni Mitchell. So gesehen ist "Tapestry" eine Art Gründungsdokument des Singer-Songwriter-Pop oder des Adult Pop, Pop ist nicht mehr nur Teenagermusik, Pop ist Erwachsenenmusik von Erwachsenen für Erwachsene.
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