1968 - und was heute daraus geworden ist

Eine Abkehr von Fragen der sozialen Gerechtigkeit

Polizisten wurden von den demonstrierenden Studtenten in - teilweise auch heitere - Gespräche verwickelt. Am 29.05.1968, dem Vortag der dritten Lesung der Notstandsgesetze im Bonner Bundestag, demonstrierten in München tausende Studenten, Schüler, Arbeiter und Angestellte. | Verwendung weltweit
Demonstration gegen Notstandsgesetze in München 1968 © dpa
Armin Nassehi im Gespräch mit Stephanie Rohde · 06.05.2018
Was unterscheidet die heutige Gesellschaft von den 68ern? Vieles von dem, worum es im öffentlichen Streit gehe, seien Anerkennungsdiskurse und viel weniger politische, sagt der Münchner Soziologe Armin Nassehi. Das betreffe vor allem die jüngere Generation.
Was meinen wir, wenn wir "68" sagen? Kein Ereignis, sagt der Münchner Soziologe Armin Nassehi, sondern eine grundlegende politische Umbruchsphase, in deren Zentrum das Motiv der Inklusion steht. Wo sich die Studentenbewegung als explizit links, teils sogar "links-revolutionär" verstand, war ihre Wirkung auf die Gesellschaft implizit links, argumentiert Nassehi:
"Die Gesellschaft konnte gar nicht mehr anders als Inklusionsschübe zu machen. Darunter verstehe ich, dass Bevölkerungsgruppen, die vorher eher ausgeschlossen waren aus Bildungskarrieren, von sozialem Aufstieg, Teilhabe von öffentlichen Diskursen nun in die Gesellschaft reingeholt worden sind. Man muss gar nicht links denken, um diese Politik zu machen, die linke Ziele verfolgt: nämlich Gleichheit und Gleichberechtigung herzustellen".

Reflexion, Moral und Pop im Dauerloop

Die zentrale Errungenschaft der 68er macht Nassehi allerdings an einem anderen Charakteristikum der jungen Wilden fest: Unwiderruflich hätten sie die "Dauerreflexion" eingeführt. Aufgebrochen hätten sie nämlich nicht nur verkrustete Strukturen, sondern viel weiterreichend bewirkt, was Jürgen Habermas die "Verflüssigung der Kommunikationsverhältnisse" nennt. Nassehi zufolge haben die 68er den ewigen Zweifel zum bundesrepublikanischen Grundmodus gemacht:
"Man kann sagen, dass seit Mitter der 60er Jahre bis heute die Nein-Stellungnahmen in der Gesellschaft größer werden. Wenn jemand etwas behauptet, kommt sofort jemand dazu und sagt: ‚Nein, das stimmt nicht‘ oder ‚Bitte, begründe mir das‘. Während man vorher eher davon ausgehen konnte, dass die Sätze – einfach dadurch, dass sie gesagt wurden – galten."
Den allumfassenden Zweifel der 68er sieht Nassehi verwoben mit einem zweiten Wesensmerkmal: der "Dauermoralisierung":
"Was man schon beobachten muss und das ist auch, was derzeit viele Kritiker von 68 auf den Plan ruft: Das war eine Generation, die die Gesellschaft mit starken moralischen Urteilen herausgefordert hat. Man war immer auf der Seite der Guten und alles, was im Leben passierte, musste auf den Prüfstand einer bestimmten Moral gestellt werden: private Lebensformen, Sexualität, aber auch die öffentliche Politik."

Diese Moralisierung hätte aber nicht nur eine politische, sondern auch eine entlastende Funktion gehabt: "Wer seine Ziele reflexiv nicht ganz erreichen kann, neigt zur Moralisierung". Der Reflexion in Endlos-Schleife hält auch der Pop etwas entgegen, meint Nassehi. Auch ihm schreibt der Münchner Soziologe eine soziale Entlastungsfunktion zu, deren Bedeutung für die 68er gar nicht zu überschätzen sei.
"Wenn Sie heute Leute nach ihren Erlebnissen und Erinnerungen befragen, dann können sie sich eher daran erinnern, welche Musik sie gehört haben, als was sie damals gesagt haben. Das ist schon sehr prägend gewesen. Und heute ist die Konsumkultur die Popkultur noch einmal potenziert".
Armin Nassehi leitet den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der LMU München
Armin Nassehi hat den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der LMU München inne.© Arne Dedert/dpa

"68" heute – Ästhetik statt Politik?

Diese drei Wesenszüge der 68er – Dauerreflexion, Dauermoralisierung und die Hinwendung zur popkulturellen Ästhetik – sieht Nassehi heute, in einer neuen Generation auf neuartige Weise vermischt:
"Wir haben es heute mit einer Generation zu tun, die sehr stark an Identitätsansprüchen, an Anerkennung, an einer ästhetischen Form der Selbstdarstellung hängt. Vieles von dem, worum es heute im öffentlichen Diskurs und Streit geht – vor allem in einer jüngeren Generation ,- sind Anerkennungsdiskurse und viel weniger politische Diskurse."
Diese diagnostizierte Abkehr von Fragen der sozialen Gerechtigkeit bringt Nassehi in Verbindung mit dem popkulturellen Erbe der 70er Jahre. Unter dem Einfluss der Popkultur habe man sich seither an eine kapitalistische Ästhetik gewöhnt und so den Duktus von Kritik und Protest mit einem kapitalistischen Konsumstil versöhnt.
"Kapitalismuskritik ist heute eigentlich keine Theorieform mehr, sondern eine Kritik an bestimmten Konsumstilen, an bestimmten 'Statements', die man abgibt."

Der Bezugspunkt der Politik hat sich nach rechts verschoben

Frappierende Ähnlichkeiten hingegen erkennt Nassehi heute im Auftreten der selbsterklärt linken wie rechten Gruppen:
"Interessant ist heute, dass das explizit Rechte heute bisweilen Formen annimmt, die dem explizit Linken sehr ähneln. Das sagen rechtspopulistische und -extreme Protestformen ganz explizit: Sie sagen, wir nutzen die Provokationsformen, die wir von den 68ern lernen."
Aber auch auf den Bezugspunkt der weiten Öffentlichkeit sieht Nassehi nach rechts gerückt:
"Zugehörigkeit, Nicht-Universelles, Identitätspolitik, Heimat – sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite wird die Frage gestellt: 'Wer bin ich' und nicht 'Wie können wir universalistisch begründen, dazuzugehören?'"

Politik hinkt gegenwärtigen Problemstellungen hinterher

Dass rechte Provokation heute sehr viel besser funktioniert als linke, liest Nassehi an einer extrem zugespitzten Problematisierung von Zugehörigkeit ab.
"Wenn Sie die Flüchtlingsdiskussion sehen: Die Leute tun ja gerade so, als ob die Flüchtlingssituation diese Gesellschaft in ihren Grundfesten zerstören würde – eine radikale Übertreibung dieses Zugehörigkeitsproblems. Und das funktioniert erst durch ein rechtes Bezugsproblem: Wir können tatsächlich nicht mehr diskutieren, wer dazu gehört. Wir können jetzt ganz klar Exklusionspolitik machen. Das ist neu."
Was bedeutet dieser veränderte Bezugsrahmen für die heutige Linke? Diese Frage hält auch Nassehi für zentral und mahnt die Rückbesinnung auf Kernanliegen an:
"Wenn man heute überhaupt links sein will – diese Unterscheidung so also funktioniert – sollte man sich vielleicht die Frage stellen: Wie ist so etwas wie sozialer Aufstieg heute wieder möglich? Wird sich in den Veränderungen von Arbeitsformen so etwas wie eine Harmonisierung von Arbeit und Leben – das ist das klassische implizit linke Thema der 70er Jahre gewesen – überhaupt denken lassen?"
Dass wir uns gerade in einer Umbruchphase befinden, die fundamentale Verschiebungen mit sich bringen wird, hält Nassehi für wahrscheinlich. Das Bewusstsein in Politik und Öffentlichkeit hinke den gegenwärtigen Problemstellungen oftmals hinterher. Mit Blick auf Migrationsfragen kritisiert er:
"Wir reden über Migrationsfragen, als gehe es da nur um Identitätsfragen – das ist nicht der Fall. Wenn es endlich mal eine Diskussion darüber gäbe, ein Einwanderungsgesetz zu haben, explizit zu erklären, wie wir Einwanderung eigentlich haben wollen, dafür gute Gründe zu nennen und dadurch Legitimation zu produzieren, dann ist das keine Identitätsfrage mehr sondern eher eine operative Frage. Ich glaube, dass man die Konzentration auf diese rechten Bezugsprobleme nur loswird, wenn man die operativen Fragen wiedergewinnt und den Mut hat, diese Fragen endlich zu stellen."
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