1943 - 1972 - 1989

Von Agnès Arp und Susanne von Schenck · 17.10.2007
Als Junge sah Ingbert Blüthner den Familienbetrieb in Flammen aufgehen. Das war 1943, bei einem Luftangriff auf Leipzig. Das Aus für die weltberühmte Pianofabrik? Doch eine über neunzigjährige Familientradition verpflichtete. Die Blüthners fingen nach dem Krieg noch einmal von vorn an, in der DDR.
Aber bald bestimmte mehr und mehr der Staat mit. 1972, im Zuge der Zwangsverstaatlichung bis dahin privater Unternehmen, wurde die Firma enteignet. Ingbert Blüthner war nun Direktor eines "volkseigenen" Betriebes, des VEB Blüthner Pianos. Bis zur Wende. Dann forderte der gelernte Klavierbauer seine Firma zurück. Er baute eine hochmoderne Fabrik vor den Toren Leipzigs und führt heute das Unternehmen gemeinsam mit seinen beiden Söhnen. Die Geschichte der Blüthners steht im Mittelpunkt dieser Zeitreise. Andere ehemalige DDR-Betriebe hatten weniger Erfolg.

Eine moderne Fabrik im Gewerbegebiet von Großpösna, vor den Toren Leipzigs: Blüthner Pianos. In der Fertigungshalle wird gehämmert, montiert, gestimmt. Im lichtdurchfluteten Eingang sind die Ergebnisse zu sehen: glänzende Flügel aus Palisander, Mahagoni oder Nussbaumholz. Eine Treppe führt nach oben in die Büros, neben ihr stehen auf einem Regal CDs mit Interpreten, die auf Blüthner Flügeln spielen.

Es war Julius Blüthner, der 1853 in Leipzig eine Pianofortefabrik gründete. Seine Instrumente mit ihrem warmen, samtigen Klang traten bald ihren Siegeszug um die Welt an. Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Liszt oder Peter Tschaikowsky spielten auf Blüthner Flügeln und gehörten zu den Freunden des Hauses.

Julius Blüthner war das, was man heute ein Marketingtalent nennen würde. Dass der Firmengründer Leipzig als Standort für seine Pianofortefabrik gewählt hatte, war wohldurchdacht.

"Leipzig war zu dieser Zeit ein musikalisches Zentrum, so dass die Entscheidung, hier eine Klavierfabrik zu beginnen, eigentlich richtig war, denn es gab auch ein logistisches Problem. Zu dieser Zeit waren die Eisenbahnen noch nicht so verbreitet und wenn man sich vorstellt, dass ein Flügel 400, 500 Kilo wiegt, dann musste man möglichst nahe an seiner Kundschaft wohnen. Leipzig hatte zu dieser Zeit auch schon andere Klavierfabriken, so dass man auch auf einen gewissen Facharbeiterstamm zurückgreifen konnte."

Ingbert Blüthner-Haessler ist heute - wieder - Chef der Blüthner Pianos, zusammen mit seinen beiden Söhnen. Der 71-Jährige hat bewegte Zeiten hinter sich. Als Kind erlebte er, wie Leipzig 1943 bombardiert wurde.

"Ich bin im Luftschutzkeller gewesen, wie das so war, ich habe aber aus der Türe sehen können auf das brennende Leipzig. Ich kann mich entsinnen, dass der Betriebsinspektor zu uns nach Hause kam und die traurige Kunde verbreitete, dass der Betrieb in Flammen steht. Der Betrieb ist dann auch vollständig runter gebrannt bis auf das Kesselhaus. Und das, was uns geblieben ist, war dann das Sägewerk, was wir in einem Vorort von Leipzig hatten, und dieses Sägewerk war nach dem Krieg wieder der Ausgangspunkt der Fabrikation."

Der Brand, bei dem auch das ganze Firmenarchiv vernichtet wurde, ist die erste große Zäsur in der Geschichte des Unternehmens.

Nach dem Krieg werden im Leipziger Unternehmen auf Anordnung der sowjetischen Besatzer wieder die ersten Pianos gebaut - und als Reparationen an Bulgarien geschickt. Die Beziehungen zu den Zulieferern brechen aber bald zusammen, Holz ist Mangelware. Kurzerhand produziert Dr. Rudolph Blüthner Senior auch Radiogehäuse. Als der zum Nachfolger bestimmte älteste Sohn im Westen bleiben will, soll der nächste, Ingbert Blüthner-Haessler, für die spätere Unternehmensübernahme vorbereitet werden.

"Ich kriegte allerdings vorher den kleinen Köder hingeworfen, ich kann aber nach England gehen, um in England Klavierbauer zu lernen und wie man so in der Jugend ist: Ich habe mir gesagt, also schön, das eine Jahr in England nimmst du mit, dann sieht man weiter. Habe also in England in einer befreundeten Klavierfabrik gearbeitet, bin dann nach Leipzig zurückgekehrt - das war 1958 - was aber kein so großes Problem war, denn West-Berlin konnte man ja besuchen, und wenn man ins Theater gehen wollte, ist man eben nach Westberlin gefahren."

Zwischen 1945 und 1953 hatten mehr als 36.000 Klein- und Mittelunternehmer aus der "Zone", wie man es damals zu sagen pflegte, ihr Hab und Gut in der Heimat zurückgelassen, um sich eine neue Existenz in der Bundesrepublik aufzubauen. Aber die Mehrheit, das heißt rund neunzig Prozent der Unternehmer, ist in der gleichen Zeit an ihrem alten Standort geblieben. Etwa sechs Prozent davon konnten bis 1972 als Privatunternehmer fortbestehen.

Die ersten volkseigene Betriebe, die VEB entstanden. Sie setzten sich zusammen aus Betrieben, die1945 beschlagnahmt und später zu "Volkseigentum" erklärt wurden, sowie den seit Kriegsende neu errichteten staatlichen Betrieben. Durch einen Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland vom Oktober 1945 waren mehrere zehntausend gewerbliche Unternehmungen zwangsverwaltet worden.

Bereits 1948 kontrollierten die DDR sowie die UdSSR die ostdeutsche Volkswirtschaft. Die Privatwirtschaft wurde zurückgedrängt.

Investitionen, Produktionen und Verteilung - alles sollte planbar sein. Politisch und wirtschaftlich hatte das katastrophale Folgen. Der Griff des Staates auf die Privatunternehmer wurde enger: 1952 begannen Versuche, den industriellen Privatsektor zu liquidieren. Damals arbeiteten über eine halbe Million Beschäftigte laut einer DDR-Statistik von 1952 in den noch bestehenden knapp 20.000 privaten Industriebetrieben - das war ein Viertel aller in der Industrie Beschäftigten.

Die Selbständigen erhielten auf einmal keine Lebensmittelkarten mehr und waren nicht mehr kranken- und rentenversichert. Jedoch haben sie sich sehr bald als unersetzlich für die ostdeutsche Wirtschaft erwiesen. 1955 verkündete Gerhart Eisler, damals stellvertretender Vorsitzender des staatlichen Komitees für Rundfunk der DDR:

"Auch der Mittelstand und alle privatkapitalistischen Unternehmer können dem zweiten Fünfjahrplan mit Freude und Ruhe entgegensehen. Walter Ulbricht betonte, dass unser Staat in keiner Weise weder direkt noch indirekt die Absicht hat, sie zu liquidieren, dass wir sie als Feinde betrachten, sondern dass wir daran interessiert sind, dass sie mehr produzieren, dass sie die DDR auch als ihr Haus betrachten, in dem sie schaffen können zum Nutzen ihrer Republik und zu ihrem eigenen Nutzen."

Es folgten tatsächlich wirtschaftliche Reformen, die auch für Privatunternehmer künftig einen Platz in der DDR vorsahen. Sie wurden offiziell eingegliedert: Ab 1956 arbeiteten immer mehr Betriebe mit staatlicher Beteiligung. Über die deutsche Investitionsbank oder über einen volkseigenen Betrieb war der Staat als Kommanditist an den Unternehmen beteiligt.

Der Staat wurde somit Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft (KG), der bei einem Verlust der Gesellschaft nur bis zum Betrag seines Kapitalanteils haftete. Waren seine Anteile sehr hoch, gehörte ihm de facto der Betrieb.

Deshalb versuchten die meisten Privatunternehmer, diese Beteiligung so gering wie möglich zu halten. Dennoch hatten manche keine andere Wahl. Erschwerend kam hinzu, dass die Steuerlast immens war, wie sich Richard Klinkhardt erinnert. Der heute 91-Jährige betrieb damals mit seinem Vater Reinhardt im sächsischen Wurzen eine Maschinenfabrik und eine Kesselschmiede.

"Der Gewinn wurde zu über 90 Prozent versteuert, so dass wenig Geld für Investitionen blieb, ganz abgesehen davon, dass in der DDR Maschinen am Anfang kaum lieferbar waren, wenn, dann bekamen sie die VEB. Die Produktion steigerte sich trotzdem. Da kein Eigenkapital da war, waren also die Umlaufmittel ständig knapp. 1956 wurde das Angebot gemacht auf staatliche Beteiligung und die Bank drängte darauf, den Kredit durch die staatliche Beteiligung abzulösen. Da saßen wir also in der Falle und waren dadurch der erste Betrieb im Kreis Wurzen, der staatliche Beteiligung aufgenommen hat, am 1. Oktober 1956."

Für manche Privatbetriebe war die staatliche Beteiligung allerdings auch eine willkommene Möglichkeit, neues Kapital zu akquirieren. In der Regel hielten sich die Kontrollen in Grenzen. Jedoch, so der Politikwissenschaftler und Historiker Frank Ebbinghaus heute:

"Man muss auch sehen, dass es massive Repressionen gegeben hat: Es hat eine Politik der Duldung zum einem und der Ausnutzung aber auch der Verdrängung zum anderen gegeben. Etwa im Bereich der Industrie und dem Handwerk sind in den 60er Jahren, also in den vermeintlich wirtschaftsfreundlichen Jahren der Ära Ulbricht, die auch durch so genannte Reformen geprägt waren, viele dieser nichtstaatlichen Betriebe verschwunden. Diese Betriebe hatten wenig Chancen, sich aus sich selbst heraus zu stabilisieren und zu wachsen."

Viele Privatbetriebe konnten nämlich die Planforderungen nicht halten. Sie gerieten in Engpässe und damit in Abhängigkeit vom Staat. Das schlug sich in der unaufhaltsamen Erhöhung der staatlichen Anteile nieder.

Für die Privatunternehmer und Komplementäre aber, die den Sozialisierungsschub der ausgehenden fünfziger Jahre und die Folgen des Mauerbaus 1961 gut überstanden, eröffneten sich Möglichkeiten, lukrativ zu wirtschaften. Der Grund: das neue ökonomische System der Planung und Leitung, eine Ulbricht'sche Reform im Jahre 1963, die unter anderem eine Lockerung der Restriktionen vorsah.

Ingbert Blüthner-Haessler ist inzwischen Klavierbaumeister geworden und hat auch noch Wirtschaftsökonomie in Leipzig studiert. Er ist gut vorbereitet, um den Betrieb zu übernehmen. Als Devisenbringer ist das Unternehmen so interessant, dass der Staat 1958 zugreift - mit, so Ingbert Blüthner-Haessler, merkwürdigen Argumenten.

"Uns wurde erklärt, dass die Firma, die uns diese zwei Etagen in der Garage vermietet hatte, sich vergrößern wollte und dass es für uns entweder so sei, dass wir dort raus müssten, was das Ende der Fabrikation bedeutet hätte, oder aber wenn wir staatliche Beteiligung aufnehmen würden, wären wir auf gleicher Stufe wie diese Firma und dann würde die Fabrikation ohne Schwierigkeiten weitergehen können."

Die staatliche Beteiligung am Blüthner Unternehmen liegt bald bei vierzig Prozent. Kredite werden abgelöst. Die deutsche Investitionsbank ist Kommanditist, der Senior, Dr. Rudolf Blüthner-Haessler und ab 1966 sein Sohn Ingbert sind Komplementäre und haften hingegen unbeschränkt mit ihrem ganzen Vermögen.

Alles ist geplant: wer mitarbeitet, welches Material für den Bau der Pianos verwendet wird, welche Maschinen eingesetzt werden und wohin die Instrumente verkauft werden.

Im gleichen Jahr lud Walter Ulbricht alle Komplementäre zu sich ein und zog eine positive Bilanz über die Annährung der so genannten "Privaten" an die Arbeiter:

"Wir wissen sehr gut, dass es bei vielen Komplementären am Anfang Unklarheiten gab, Zweifel, Vorbehalte, das ist ganz natürlich. Wie soll denn eine so gewaltige, wirtschaftliche Umwälzung vor sich gehen, ohne dass sich die gesamten Produktionsverhältnisse ändern, ohne dass der Einzelne sich überlegt, wie zum Teufel soll das weitergehen, wo wird das hinführen, was wird die Regierung am Ende noch alles mit uns anfangen? Das ist ja erlaubt, so was zu denken. Uns war das voll bewusst."

Zu dieser Zeit hat das Blüthner Unternehmen wieder zweihundert Mitarbeiter. Von den vierhundert Instrumenten, die jährlich hergestellt werden, gehen neunzig Prozent in den Export, davon sechzig ins sozialistische und vierzig ins nichtsozialistische Ausland.

Ingbert Blüthner-Haessler ist häufig auf Reisen. Als halbstaatlicher Unternehmer darf er in das NSW, das "Nicht Sozialistische Wirtschaftsgebiet", reisen und genießt damit ein besonderes Privileg. Für das Unternehmen sind die Reisen wichtig, denn die Westkontakte ermöglichen einen produktiven Austausch. Auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1972 kursieren Gerüchte über bevorstehende Verstaatlichungen der restlichen privaten und halbstaatlichen Betriebe. Es bleibt nicht bei Gerüchten. Ingbert Blüthner-Haesslers traditionsreicher Pianoforte Fabrik droht das Aus.

"Da kam ein von mir gehasster Mitarbeiter, und mit sehr viel Zynismus sagte er, also, wir wollen Ihren Betrieb haben. Da hab ich gesagt, das mag schon sein, aber ich sehe keine Notwendigkeit. Da hat er gesagt: Passen Sie auf, am 5. Mai wird der Betrieb verstaatlicht und Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie bleiben als Leiter in dem Betrieb oder wir machen hier 'ne Steuerprüfung. Es wird sich dann sicherlich herausstellen, dass Sie viele Dinge falsch gemacht haben. Und das wird dann Ihr Ende in der Klavierbranche sein."

Ingbert Blüthner-Haessler will nicht bei anderen die Klaviere putzen und sagt zu - gezwungenermaßen.

"Es war natürlich ein Schock für mich. An dem Tag, wo die Verstaatlichung war, hatte ich einen Verkehrsunfall, und dass ich der letzte sein würde, der nach der vierten Generation den Betrieb abgeben sollte, das war schon schwierig."

Jochen Cerny: "Staatsbeteiligung gab es lediglich von Mitte der fünfziger Jahre ab wohl auch erst in China. Das war ein Beispiel, auf das man sich auch berufen konnte. In der Sowjetunion hatte es derlei nicht gegeben. In den anderen sozialistischen Staaten wurde von vorneherein, spätestens 1948, ich glaube, die Tschechen waren die letzten, verstaatlicht bis runter zu Kleinbetrieben, in einem Maße, dass hier unvorstellbar gewesen wäre."

Der Historiker Jochen Cerny hat sich mit den Verstaatlichungsprozessen in der DDR auseinandergesetzt. Was er für die Länder des Ostblocks schildert, nämlich dass die DDR eine absolute Ausnahme mit ihrer bestehenden Privatwirtschaft bildete, trat 1972 dann auch dort ein: die beinahe vollständige Umwandlung von Privatbetrieben oder solchen mit staatlicher Beteiligung in Kombinate oder VEB, Volkseigene Betriebe.

Zwischen dem sozialistischen deutschen Staat und den Privaten gab es von 1949 bis 1972 wechselhafte Phasen: Einschränkung und Auflockerung, Verdrängung und Einbeziehung, Zusammenarbeit und Ausschaltung. Dennoch: viele Privatunternehmer konnten sich ökonomisch gut entwickeln. Aber ihr angeblich zu hoher Lebensstandard wurde ihnen zum Verhängnis, wie der Historiker Frank Ebbinghaus erläutert.

"Es gibt ja einen fast legendären Ausruf von Erich Honecker, wo er sagt, dass unter den Bedingungen des Sozialismus aus kleinen privaten Eigentümern große Kapitalisten geworden seien und dann kommt aus dem Auditorium ein Zuruf: 'Millionäre'. Und dann sagt Honecker: 'Jawohl, zu Millionären'. Das ist sicher eine überzogene Deutung, aber es gibt Einzelfälle, wo das sicher zutrifft."

Das Tempo der Verstaatlichungen erreichte ungeahnte Ausmaße. Ursprünglich sollte sich dieser Prozess über drei Jahre erstrecken, doch er endete schon im August 1972. Der Übereifer lokaler Bürokraten in den Wirtschaftsräten überstieg die Erwartungen vom Plankommission und Politbüro. Die Bilanz im Sommer 1972: Knapp 6.500 Betriebe mit staatlicher Beteiligung und gut 3.000 Privatbetriebe wurden sozialisiert, das heißt in Volkseigentum überführt. 85 Prozent der ehemaligen Inhaber wurden somit als staatliche Leiter übernommen oder bewarben sich um diese Position. "VEB-GmbH: Vatis ehemaliger Betrieb gestohlen mit besonderer Höflichkeit" - so nannten viele ehemalige Private spöttisch und verbittert die neue Betriebsform.

So gesehen war diese radikale Entscheidung für die Unternehmer ein einschneidendes Erlebnis, sahen sie sich doch damit konfrontiert, den eigenen, oft über Generationen geführten Betrieb an den Staat zu verkaufen. Auch das traditionsreiche Unternehmen Pommer, das in Leipzig Spezialbeton herstellte, war davon betroffen. Für Dieter Pommer, der dann im einst eigenen Unternehmen als Projektleiter angestellt wurde, war es das Ende seiner Hoffnungen.

"Bisher war man etwas geschützt: Man war in einer intakten Familie, man arbeitete in einer privaten Firma, die von äußeren ideologischen Repressalien des Systems doch einigermaßen geschützt war. Jetzt aber, als ich dann sah, was mit meinem Vater da angestellt wurde, das hat mir dann den letzten Druck gegeben in der Einstellung zu dem ostdeutschen System. Denn wenn man sich klarmacht, was ein 65-jähriger Mensch psychologisch aushalten muss, der dann, nachdem er hier in Leipzig geblieben war, hat gearbeitet und dann hat er zehn Monate in Haft verbracht und ist trotzdem noch hier geblieben. Und dann hat man ihm sein Lebenswerk genommen und auch die Möglichkeiten eines Auskommens und dann musste er in der enteigneten Firma dann weiterarbeiten und ist dann eine Stufe nach der anderen nach unten, das war fürchterlich für ihn."

Der Vater starb darüber, Dieter Pommer selbst stellte einen Ausreiseantrag. Die Folge: Er wurde als Projektleiter abgesetzt, aber nicht entlassen. Seine Frau hingegen durfte nicht mehr als Physiotherapeutin arbeiten. Erst wenige Monate vor dem Fall der Mauer konnten Pommers in den Westen ausreisen - um bald darauf, unter veränderten Bedingungen, wieder nach Leipzig zurückzukehren. Dort gründete Dieter Pommer mit seinem ältesten Sohn 1991 die Firma neu.

Ingbert Blüthners Unternehmen wird nach 1972 Teil des VEB Deutsche Piano Union, ein Zusammenschluss der Leipziger Klavierbauer. Mit Mühe und Not gelingt es, den Namen "Blüthner" für die Flügel und Klaviere zu retten. Denn die Bezirksleitung will alle kapitalistischen Spuren tilgen und den Namen "Leipziger Klavierbau" verwenden.

"Ich weiß nicht, wie lange ich darum gekämpft habe, dem klarzumachen, dass es Wahnsinn ist, einen Firmennamen wie Blüthner aus der Firmierung herauszulassen. Was sollte das auch? Wir haben uns dann entschieden, dass der Betrieb VEB Blüthner Pianos hieß."

Die 1853 begonnene Traditionslinie bleibt damit halbwegs bestehen. Ingbert Blüthner-Haessler gelingt es, die Qualität der Pianos zu erhalten - allerdings mit enormem Holzverschnitt.

Die achtziger Jahre sind für die Blüthners wie für viele ehemalige Privatunternehmer schwierig: Verfall allerorten und eine sinkende Arbeitsmoral. Das Pianounternehmen ist abhängig von Importen: Stahlsaiten, Mechaniken oder Filze beziehen Blüthners zum großen Teil aus dem Westen. Ingbert Blüthner-Haessler benötigt eine Importgenehmigung, die er nach zermürbenden Auseinandersetzungen erhält.

"Das war 1982 ein wichtiger Punkt, denn sonst wäre später, 1990, der Einstieg in den Weltmarkt sehr schwierig gewesen. Sie können keinen Flügel verkaufen, der, wenn Sie spielen, stehen bleibt. Den stellt jeder in die Ecke und zum Schluss kauft ihn keiner mehr."

Bis in die frühen achtziger Jahre waren zahlreiche der älteren einstigen Privatunternehmer als Direktoren in den 1972 verstaatlichten Betrieben beschäftigt. Dann setzte eine ideologische Verhärtung der Parteilinie ein und viele mussten "ihren" Betrieb endgültig verlassen. Sie durften ihn oft nicht einmal mehr betreten, wie der Historiker Frank Ebbinghaus erläutert. Ein erneuter Einschnitt, den zahlreiche ehemalige Privatunternehmer nicht mehr verkrafteten.

Frank Ebbinghaus: "Die letzten Geschäftsführer, ehemals Komplementäre, wurden aus ihren Betrieben hinausgedrängt. Es wurden sozialistische Kader eingesetzt, die Betriebe wurden zu einem nicht geringen Teil Kombinaten angeschlossen, sie verloren ihre Produktionslinien, wurden zu Zulieferern oft degradiert und das führte dazu, dass Eigeninitiative und Motivation schwanden. Das ist natürlich ganz entscheidend gewesen auch dafür, dass sich der Untergang der DDR Wirtschaft beschleunigte."

Ein aufreibendes Leben zwischen erzwungenem oder erwünschtem Ruhestand, nervlichem Zusammenbruch, Ausreiseantrag bzw. Ausreise, Rückzugsstrategien - das war das Schicksal vieler ehemaliger Unternehmer in den achtziger Jahren. Wirtschaftlich ging es der DDR immer schlechter. Dann fiel die Mauer.

Bis zur Wiedervereinigung im Oktober 1990 gab es nur das verabschiedete Unternehmensgesetz vom 7. März des gleichen Jahres: Es sah einen Rückkauf des ehemals privaten Betriebes vor. Nach der Wiedervereinigung konnten, sofern Eigentumsbeweise vorlagen, Betriebe rückübertragen oder reprivatisiert werden.

Viele der Unternehmer verstanden sich damals nicht nur als Opfer der Verstaatlichung von Privatbetrieben in der DDR, sondern bald auch als Opfer der Reprivatisierungsprozesse der 1990er Jahre. Es herrschte große Unsicherheit.

Der Wurzener Unternehmer Richard Klinkhardt hätte seinen Betrieb zurückkaufen können. Aber er war nicht in der Lage, die staatliche Beteiligung aus der DDR Zeit zurückzuzahlen. Und es fiel im schwer, die Produktion aufrecht zu erhalten. Die Kundschaft fiel weg, die Zahl der Mitarbeiter reduzierte sich von ca. 100 auf 25. Auf die Treuhand ist der einstige Unternehmer, der jetzt nur noch ein paar Anteile an seinem ehemaligen Betrieb hat, nicht gut zu sprechen.

Ingbert Blüthner-Haessler bezeichnet die Wiedervereinigung als Anschluss. Von einem Tag auf den nächsten ändert sich für ihn alles.

"Eine andere Gesetzgebung, 'ne andere Währung, neue Lieferanten, neues Preissystem und ein ganz anderes Denken. Und dass musste man ohne Prüfung, ohne Anleitung schaffen. Ich vergleiche das immer damit: Erst spielten wir Dame, jetzt müssen wir Schach spielen."

Ingbert Blüthner-Haessler kann am 30. September 1990 die "Julius Blüthner Pianoforte GmbH" wiedereröffnen. Für viele überraschend: Durch die erzwungene Abschottung ist der einzigartige Klang der Blüthner Flügel konserviert worden. Die homogenisierte Tonwelt, die im Westen vorherrscht, ist bei den Instrumenten aus Leipzig nicht so spürbar. Aber der Ostmarkt, der sechzig bis siebzig Prozent des Absatzes ausgemacht hatte, ist weggebrochen.

Heute arbeiten noch 70 Mitarbeiter in dem Werk in Großpösna bei Leipzig. 1.500 Pianos im Jahr werden dort gebaut. Besonders stark wächst der russische Markt. Deshalb haben Blüthners dort auch eine Filiale gegründet. Damit knüpfen sie an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg an: Damals gehörte St. Petersburg zu den wichtigsten Niederlassungen des Unternehmens "Julius Blüthner Pianoforte". Und mit den beiden Söhnen als Nachfolger scheint nach allen Wirrnissen der Zeitläufe auch die Familientradition des Unternehmens gesichert zu sein.

Literatur:

ARP, Agnès, VEB: Vaters ehemaliger Betriebe. Privatunternehmer in der DDR, Leipzig, Militzke, 2005.
ČERNÝ, Jochen (dir.), Brüche, Krisen, Wendepunkte: Neubefragung von DDR-Geschichte, Kolloquium Dez. 1989 u. Jan. 1990 der Akademie der Wissenschaft, Ostberlin, Urania Verlag, Berlin, 1990.
EBBINGHAUS, Frank, Ausnutzung und Verdrängung, Steuerungsprobleme der SED-Mittelstandspolitk 1955-1972, Berlin, Duncker & Humblot, 2003.
HEFELE, Peter, Die Verlagerung von Industrie- und Dienstlei¬stungsunternehmen aus der SBZ/DDR nach Westdeutschland. Unter besonderer Berücksichtigung Bayerns (1945-1961), Stuttgart, Franz Steiner, 1998.
HEß, Ulrich, Unternehmer in Sachsen. Motive, Selbstverständnis, Verantwortung, Leipzig, Militzke, 2006.
HOFFMANN, Heinz , Die Betriebe mit staatlicher Beteiligung im planwirtschaftlichen System der DDR, 1956-1972, Stuttgart, Franz Steiner Verlag, 1999.
KLINCKHARDT, Richard, Die Wurzener Industrie, 1797-2002, Leipzig, Sax Verlag, 2005.
STEINER, André, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München, Deutsche Verlags-Anstalt, 2005.