1000 Jahre Leipzig

Kritische Bastion zwischen Kriegsende und Mauerfall

Schild vor der Leipziger Nikolaikirche mit der Aufschrift "Leipzig - Friedliche Revolution 1989"
In den 1980er-Jahren bildete sich eine Opposition rund um die Nikolaikirche - die großen Anteil an der Friedliche Revolution im Herbst 1989 hatte. © dpa picture alliance / Hendrik Schmidt
Von Ronny Arnold · 15.06.2015
Auch die Leipziger Messe feiert in diesem Jahr Geburtstag: den 850sten. Sie war zu DDR-Zeiten ein Guckloch zur Welt - und die Stadt putzte sich so gut es ging heraus. Wo früher das Mauerwerk bröckelte, fahren heute täglich Dutzende Touristenbusse an aufgehübschten Fassaden entlang.
Momentan feiert sich Leipzig fast täglich selbst: mit Stadtfesten an jeder Ecke, Umzügen, Show- und Musikbühnen in der gesamten Innenstadt – und hunderttausenden Besuchern. Höhepunkt der vergangenen Tage waren die Stadt-Fest-Spiele, ein pompöser Umzug, angeführt von riesigen, auf fahrende Wagen montierten Köpfen aus Metall. Die fünf überlebensgroßen Figuren mit Löwentatzen, der Löwe ist schließlich Leipzigs Wahrzeichen, bahnten sich langsam ihren Weg durch die Stadt. Viele Passanten fanden das großartig, auch wenn die Veranstaltung der einen oder dem anderen etwas zu groß geraten war.
"Am Anfang sehr, sehr lange, aber zum Ende hin super. / Es hatte zwischendurch mal ein paar Längen, fand ich, hätte man vielleicht noch etwas dazu sagen können. Am besten hat mir dieser Mensch da oben auf diesem Rad gefallen, ich hab das so als Zeitrad interpretiert. Die Zeit vergeht so."
Für Leipzig stimmt das in jedem Fall. Die fünf Köpfe stehen für das, worauf die Stadt besonders stolz ist: auf Wirtschaft und Handel, Kunst und Kultur, Buch und Medien, Sport und Umwelt, Wissenschaft und Bildung. Also eigentlich alles. Eine kleine Erwähnung in der Chronik des Merseburger Bischofs Thietmar haben die Stadtoberen zum Anlass genommen, jetzt in 2015 mal eben 1000 Jahre Leipzig zu feiern. Das eigentliche Stadtrecht erhielt die hier so gern "Messemetropole" genannte Stadt erst Jahrzehnte später. So manch älterer Leipziger wundert sich da schon, nimmt es aber mit typisch sächsischem Humor.
"Ich habe als Kind schon die 800-Jahr-Feier mitgemacht. Und jetzt die 1000-Jahr-Feier, ich habe ein gesegnetes Alter erreicht. Das finde ich dann gut." (lacht)
Ersterwähnung hin, Stadtrecht her: Leipzigs Tourismus und Marketing-Abteilung freut sich. Dank des bischöflichen Eintrags darf sie seit Monaten ein riesiges Programm auf die Beine stellen. Das lockt zusätzlich Gäste in die Stadt, was der Wirtschaft gut tut und die Umsätze ankurbelt. Leipzig, noch bis vor kurzem die "Armutshauptstadt" Deutschlands, kann jeden Euro gebrauchen. Denn die Stadt wächst, im Moment um etwa 10.000 Einwohner pro Jahr. Erstmals seit 1965 gibt es in Leipzig sogar einen Geburtenüberschuss. Laut Prognose könnte dieser Trend auch die nächsten Jahre anhalten, bereits 2025 wäre man dann bei 600.000 Einwohnern. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung findet diese Entwicklung gut, spricht allerdings auch von großen Herausforderungen.
Großer Zuzug aus dem Westen Deutschlands
"Wir haben einen unglaublichen Bedarf an Kindertagesstätten und Schulen. Wir kommen kaum hinterher. Das ist ein hoffnungsvolles Zukunftszeichen, auf der anderen Seite natürlich auch die Herausforderung, die Infrastruktur zu entwickeln, Straßen und Brücken, neue Plätze zu schaffen. Das belastet unseren Haushalt und das zu steuern ist die größte Herausforderung. Junge Menschen, Menschen, die lange nach Leipzig eingependelt sind, ziehen in die Stadt rein. Wir haben einen ganz großen Zuzug aus Westdeutschland, das hat mit den hochwertigen Arbeitsplätzen zu tun, in der Automobilindustrie, im akademischen, wissenschaftlichen Bereich. Das ist eine hervorragende Ausgangssituation."
Die einige Probleme schafft: Leipzig kommt mit dem Bauen kaum nach, muss Millionen investieren, die an anderer Stelle fehlen. Die Mieten steigen, auch wenn sie im Vergleich zu Städten im Westen der Republik noch vergleichsweise moderat sind und Zuzügler freie Wohnungen finden. Noch, denn in beliebten Stadtvierteln im Süden und Westen, Stichwort Gentrifizierung, wird es langsam eng. Dem Oberbürgermeister ist das nicht entgangen.
"Wir haben es jetzt in der Hand, Verhältnisse wie in München oder Hamburg zu verhindern. Wir sind da sehr aufmerksam, sprechen mit den Wohnungsbaugenossenschaften, mit den großen Anbietern, wir entwickeln ein wohnungspolitisches Konzept, um die Mischung im Stadtteil aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite haben wir immer noch sehr viel Platz. Leipzig ist vor dem 2. Weltkrieg mal gebaut worden für die Einwohnerzahl von einer Million Menschen."
Auf den offiziellen Stadtfesten in der Innenstadt werden diese Themen eher ausgespart. Zu komplex, zu kleinteilig, zu negativ? Nicht für die "Parade der Unsichtbaren". Über 1000 Kreative, Linksalternative und Mitglieder verschiedener soziale Netzwerke zogen am Festwochenende ebenfalls durch die Stadt. Als Gegenentwurf zu den städtischen Feierlichkeiten, so dieser Teilnehmer.
Sprecherwagen: "Wir finden, Rassismus, Ausgrenzung, Zwangsräumung, Verdrängung, all das ist kein Grund zum Feiern."
DDR-Ende bewahrte Stadt vor Teilabriss
Die Stadt wandelt sich momentan schneller, als es so manchem Leipziger lieb ist. Dabei kämpfte man hier noch vor gut 20 Jahren mit einer starken Abwanderung, nach der Wende fehlte es massiv an Arbeitsplätzen, die Stadt lag am Boden. Ganze Stadtviertel sahen aus, als wäre der 2. Weltkrieg gerade erst vorbei. Bis heute vermuten viele, dass nur das plötzliche Ende der DDR Leipzig vor dem Teilabriss bewahrt hat.
Um die Zeit vor 1989 und kurz nach der Friedlichen Revolution besser zu verstehen, lohnt ein Besuch im Academixer-Keller. 1966 von Studenten gegründet, sind die "academixer" bis heute eines der bekanntesten Leipziger Kabaretts. Bernd-Lutz Lange ist Gründungsmitglied, 1965 kam der mittlerweile 71-Jährige zum Studium in die Messestadt – und blieb.
"Hat mir natürlich sehr imponiert die Stadt, weil durch die Messe hier noch ein Leben war, was man in keiner anderen Großstadt der DDR so gefunden hat. Wir hatten ja hier im Zentrum sieben, acht Nachtbars, das gab es nirgendwo. Da gab es noch Kneipen, Weinstuben, die dann alle in den 70er-Jahren zerstört wurden, weil die dann nicht mehr den Gewerbeschein bekamen. Hier war eine bürgerliche Situation, das Interieur des alten Leipzig war noch an vielen Stellen vorhanden."
International bekannt war Leipzig damals besonders wegen seiner Messe. Die hat eine lange Tradition, Handel und Ausstellungen förderten die Entwicklung der Stadt seit dem Mittelalter: wirtschaftlich, politisch, architektonisch und gesellschaftlich. In diesem Jahr feiert nun auch die Leipziger Messe Geburtstag: allerdings "nur" den 850sten. Zu DDR-Zeiten kam jeweils im Frühjahr und im Herbst die große, weite Welt zu Besuch. Das prägte die Stadt und ihre Bewohner, erinnert sich Lange – und schärfte auch deren kritischen Blick auf die DDR.
"Es gab hier glaube ich deshalb so viele kritische Menschen, weil durch die Messe immer auch ein Austausch stattgefunden hat mit der Welt. Wir in Leipzig waren in der DDR nie richtig hinterm Eisernen Vorhang, wir hatten immer ein Guckloch. Das heißt, wir hatten immer Möglichkeiten, uns zu informieren, zu streiten auch mit den Westleuten, das war einzigartig. Eine Institution, die den Boden mit gelockert hat, waren auch Kabaretts. Wir waren die einzige Stadt in der DDR mit zwei Berufskabaretts, das gab es nirgendwo.
Verfall der Stadt in den 80ern
Leipzig war eine kritische Bastion in der DDR, was in den 1980er-Jahren zur Opposition rund um die Nikolaikirche führte. Ohne diese Bewegung hätte es die Friedliche Revolution im Herbst '89 so womöglich nicht gegeben. Kritikpunkte am System gab es reichlich, auch im damaligen Regierungsbezirk Leipzig. In Messezeiten wurde die Stadt so gut es ging herausgeputzt, doch der Verfall der Bausubstanz war offensichtlich. Fassaden bröckelten vor sich hin, im Winter verfärbte der Staub der Kohleöfen den Schnee aschgrau. Den Leipzigern stank das gewaltig, erinnert sich Bernd-Lutz Lange.
"Für mich war immer eine furchtbare Vorstellung, mit steigendem Alter und Verfall meiner Kräfte dazu immer den Verfall der Stadt zu erleben. In den 70er-, 80er-Jahren hab ich mir eine Postkartensammlung zusammen gesammelt, um ein Bild zu kriegen, wie war diese Stadt. Und dann war mir erst einmal klar, was ist der Unterschied zwischen Dresden und Leipzig, wie das Erich Kästner sinngemäß gesagt hat: Dresden ist das Märchen, Leipzig ist die Wirklichkeit. Das ist ja bis zum heutigen Tag noch ähnlich."
Ein Text, den Bernd-Lutz Lange unter anderem mit Gewandhauskapellmeister Kurt Masur verfasst hat und der '89 zu den Friedensgebeten in den Kirchen verlesen wurde, hat dazu beigetragen, dass die Montagsdemonstrationen friedlich blieben.
"Das ist für mich unvergesslich. Ich war auf dem Karl-Marx-Platz und sah dort die Menschen links aus der Grimmaischen Straße strömen. Das war das Zeichen, jetzt trauen sie sich. Und dann war das klar. Das Leipziger Stadtzentrum mit dem Ring, das lädt auch ein zur Demo. Und wir hatten ein Zentrum dann in diesem Herbst, und das war die Nikolaikirche. Und dort war ein Schwarzes Brett, da bekam man Informationen, die man nirgendwo in diesem Land kriegte. Also ein intimes Stadtzentrum oder wie ich immer gern sage: Die gemütlichste Großstadt der Welt."
Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig bei einer Lichtinstallation 2013.
Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig © dpa / picture alliance / Jan Woitas
Heute schaukeln täglich Dutzende Sonderbusse Touristen durch die Innenstadt und die herausgeputzten Stadtviertel zwischen Völkerschlachtdenkmal im Osten und Baumwollspinnerei im Westen. Man erkennt sie sofort, weil sie permanent auf den engen Brücken an Leipzigs Kanälen stehen und den Verkehr aufhalten. Leipzigs Wasserstraßen, insgesamt 200 Kilometer lang, durchziehen die Stadt, die deswegen auch gern "Klein Venedig" genannt wird. Leipzig ist schön geworden, stellt Bernd-Lutz Lange fest, auch wenn vieles in der Stadt für ihn nur Fassade ist und mit viel Geld aus dem Westen aufgehübscht wurde.
"Insofern wurde uns die Stadt aus der Hand genommen, weil wir hatten ja kein Geld. Also mussten wir froh sein, wenn das andere machten. Und da ist natürlich viel verloren gegangen. Also wir haben an vielen Stellen nur noch Potemkinsche Fassaden, das ist alles weggerissen. Also wurde auch die Seele des Hauses geraubt. Das neue, schöne Leipzig, was wir heute natürlich genießen, die rekonstruierten Häuser; also wir müssen unseren Altvorderen immer wieder von Herzen dankbar sein, dass heute die Touristen hierher strömen und dass Leipzig sich zu einer so tollen Stadt gemausert hat."
Immer mehr Menschen entdecken die Stadt
Touristen, Studenten, junge Kreative und arbeitssuchende Autobauer – sie alle zieht es nach Leipzig. Und die Alteingesessenen? Registrieren es und fragen sich, wo das noch hinführt.
"Es gibt natürlich Stellen, wo mir meine Heimatstadt schon manchmal fremd wird. Aber das ist eine logische Geschichte, wir waren vor dem Krieg schon mal bei 750.000 Einwohnern. Wir wären, wenn die Amis 1945 geblieben wären, schon lange eine Millionenstadt. Ich bin davon überzeugt, dass Leipzig, mein jüngster Enkel ist jetzt 13, der wird noch die Anfänge erleben, dass das mal auf 700, 800.000 und auch Million dann geht. Das ist eine besondere Stadt und jetzt entdecken das immer mehr Menschen, fühlen sich hier wohl und insofern lässt sich das nicht aufhalten."
1000 Jahre Leipzig – auch in den kommenden Monaten wird munter weitergefeiert. Mit einem Musiksommer, einem Passagenfest, dem mittlerweile berühmten Lichterfest zur Friedlichen Revolution im Herbst und einer Festwoche "850 Jahre Nikolaikirche". Erst zum Winterbeginn 2015 endet das Festjahr, genau am 20. Dezember: Dem Tag der Ersterwähnung durch den Bischof.
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