100 Jahre Völkermord an den Armeniern

"Russland gilt in Armenien als großer Bruder"

Der russische Präsident Wladimir Putin unterhält sich am 2.12.2013 bei einem Staatsbesuch in Eriwan mit dem armenischen Staatschef Sersch Sargsjan.
Der russische Präsident Wladimir Putin unterhält sich bei einem Staatsbesuch in Eriwan mit dem armenischen Staatschef Sersch Sargsjan. © picture-alliance / dpa / Sergey Guneev/ RIA Novosti
Gesine Dornblüth im Gespräch mit Isabella Kolar · 23.04.2015
Russland gedenkt am 24. April dem Genozid an den Armeniern. Die Duma hatte den Völkermord bereits vor 20 Jahren offiziell verurteilt, erläutert die Moskau-Korrespondentin Gesine Dornblüth. Auch zum 100. Jahrestag finden Gedenkveranstaltungen statt.
Isabella Kolar: Morgen jährt sich zum 100. Mal der Jahrestag des Genozids an über einer Million Armeniern. Dieser Tag wird in Armenien selbst mit vielen Veranstaltungen begangen. Staats- und Regierungschefs kommen, darunter auch der russische Präsident Putin, der französische Präsident Hollande und andere. Gesine Dornblüth in Moskau, was passiert da in Eriwan?
Gesine Dornblüth: Es wird eine große Gedenkveranstaltung geben in der zentralen Gedenkstätte Zizernakaberd am Rand von Eriwan. Das ist der sogenannte Schwalbenhügel, dort ist das Memorial. Das ist ein 44 Meter hoher Dorn aus Granit, der da in den Himmel sticht. Und dann ein zweiter Teil, mächtige Steinplatten, die so einen Kreis bilden und sich nach innen neigen. Der Kreis, der symbolisiert eben das an die Türkei verlorene Westarmenien und die Spitze dagegen den zum Leben strebenden kleineren östlichen Teil, nämlich die heutige Republik Armenien. Dazu gibt es eine Dokumentationsstätte, und dorthin werden nach Angaben der Organisatoren 60 offizielle Delegationen aus aller Welt kommen. Ab mittags ist die Gedenkstätte dann für die Öffentlichkeit geöffnet, und es ist so, dass die Menschen in Armenien jedes Jahr diese Gedenkstätte besuchen am 24. April. Dieses Jahr werden wahrscheinlich besonders viele Menschen dort sein.
Kolar: Den Kampf um ein Wort hat die "Süddeutsche Zeitung" in dieser Woche die laufende Debatte zum Thema Armenien und der Völkermord genannt. Die deutsche Bundesregierung hat den Begriff bislang vermieden, wird ihn nun erstmals verwenden. Das wird auch morgen Thema einer Debatte im Bundestag sein. Für Deutschland kommt ein Staatsminister aus dem Auswärtigen Amt zu den Feierlichkeiten nach Eriwan, nicht Herr Gauck, auch nicht Frau Merkel. Nimmt man den Deutschen ihre Rücksicht auf die Türkei an einem solchen Tag besonders übel?
"Deutschland gilt als besonderer Partner"
Dornblüth: Nein. Es ist in Armenien so, dass Deutschland als positiver Partner gesehen wird. Armenien ist ja Teil der sogenannten Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union. Armenien ist Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Russland, will aber trotzdem die Beziehungen zum Westen erhalten und gut gestalten, und Deutschland gilt da als besonderer Partner. Das zum einen. Zum anderen muss ich auch sagen, ich war häufig in Armenien, und ich bin nie angesprochen auf die besondere deutsche Verantwortung in diesem Völkermord. Das spielt ja eine große Rolle auch jetzt derzeit bei der deutschen Debatte. Deutschland war ja Bündnispartner im Ersten Weltkrieg der Türkei und hat da eben, wie viele zu Recht sagen, alle Augen zugedrückt und ist seiner Verantwortung nicht bewusst geworden. Aber das ist eine wirklich deutsche Debatte, die in Armenien meines Wissens nicht geführt wird.
Kolar: Sie kennen Armenien ja sehr gut von zahlreichen Reisen. Sind die Ereignisse von vor 100 Jahren auch jenseits eines solchen Gedenktages Thema auch für die Jugend?
Dornblüth: Also natürlich weiß jeder um diese Geschichte, aber generell würde ich sagen, dass die Diaspora da eine viel größere Rolle spielt. Es leben ja viel mehr Armenier im Ausland als in Armenien selbst, und diese Auslandsarmenier bringen dieses Thema immer weiter nach vorne. Armenien ist ein armes Land, es ist isoliert, auch durch die Grenzschließung zur Türkei. Und es ist so, dass die Einheimischen schon die Notwendigkeit sehen, die Grenze zu öffnen. Ich war mal vor einigen Jahren in einem Grenzdorf auf armenischer Seite, in dem Dorf Achurik. Und da sagte die Bürgermeisterin zu mir über die Grenzöffnung, die mögliche, gewünschte Grenzöffnung: Die Türkei ist unser Zugang nach Europa – das sagte die Frau wörtlich –, dort gibt es Arbeit, wir wünschen uns seit Langem, dass die Grenze offen ist. Das sagte diese Frau. Davon abgesehen wünschen sich natürlich die Armenier eine Entschuldigung von der Türkei, sehen auch die Türkei am Zug, aber drängender als dieses Genozid-Thema ist in Armenien heute der Konflikt mit dem anderen Nachbarland, Aserbaidschan, um Karabach, auch, weil die Sache dort explosiver ist. Dort liegen sich immer noch Soldaten in Schützengräben gegenüber, es kommt immer wieder zu Zwischenfällen, auch zu Todesfällen. Und das beschäftigt die jungen Leute in Armenien viel mehr als diese Genozid-Geschichte, auch deshalb, weil eben viele Verwandte, Brüder, Cousins, Freunde dort Armeedienst leisten und dort an der Front rund um Karabach sind.
Kolar: Nach Papst Franziskus hat auch das Europäische Parlament in der vergangenen Woche den 100. Jahrestags des Massenmords zum Anlass genommen, das Ereignis als Genozid zu brandmarken. Wird das in Armenien wahrgenommen? Wird darauf reagiert?
Genugtuung über die Entscheidung des Europaparlaments
Dornblüth: Auf jeden Fall, und zwar mit Genugtuung. Armeniens Außenminister hat in einem Interview auf die Entscheidung des Europaparlaments gesagt, das sei ein wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Armeniern und auch ein wichtiges Zeichen für die Versuche der internationalen Gemeinschaft, weitere Genozide zu verhindern. Und dann gibt es natürlich oppositionelle Nationalisten in Armenien, die das Ganze noch weiter interpretieren. Ein Parteivorsitzender der sogenannten Darschnacken, der sah bereits Anzeichen für das Scheitern der türkischen Verleugnungspolitik und sagte, er erwarte nun einen, so wörtlich, "Tsunami" der Anerkennungen des Genozids.
Kolar: Wenn Präsident Putin morgen nach Eriwan kommt, wie wird er empfangen, auch angesichts der russisch-türkischen Annäherung der letzten Zeit?
Dornblüth: Auf jeden Fall freundschaftlich. Russland gilt als großer Bruder in Armenien. Armenien ist Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Russland, und Armenien ist aus wirtschaftlicher Notwendigkeit dieser Gemeinschaft beigetreten. Der Präsident Sargsjan verhält sich da absolut loyal zu Russland, tritt auch relativ farblos auf. Man weiß in Eriwan, dass Russland ein unabdingbarer Partner ist, ein großes Land. Armenien ist ein kleines Land, und da ist man abhängig und hält sich zurück mit Kritik.
Kolar: Sie sitzen ja in Moskau. Spielt der 100. Jahrestag des Genozids in Russland eine Rolle? Gibt es in Moskau auch eine Gedenkveranstaltung?
Mehrere Gedenkveranstaltungen in Russland
Dornblüth: Ja, es gibt sogar mehrere Gedenkveranstaltungen. Man muss wissen, dass Russland bereits im Mai 1915 gemeinsam mit den damaligen Verbündeten Großbritannien und Frankreich als erstes schon den Massenmord anerkannt hat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und das russische Parlament, die Duma, hat dann 1995, nach der russischen Unabhängigkeit, eine Resolution verfasst, in der die Duma den Genozid verurteilt hat. Es heißt dort wörtlich, basierend auf Fakten, unter Bezug auf UN-Konventionen und auch bemerkend, dass die physische Vernichtung des armenischen Brudervolkes vollbracht wurde mit dem Ziel, Bedingungen für die Zerstörung Russlands zu schaffen – also der Kontext Erster Weltkrieg. Unter diesem Eindruck drückt die Duma ihr Mitgefühl mit dem armenischen Volk aus und betrachtet den 24. April als Gedenktag für die Opfer eines Genozids. Das also die Resolution schon vor 20 Jahren in Russland. Und dementsprechend finden seitdem Veranstaltungen statt am 24. April, dies Jahr natürlich besonders viele. So zum Beispiel ein Gedenkabend im zentralen Museum des Zweiten Weltkriegs eine Fotoausstellung, oder auch ein Konzert in der Philharmonie, also durchaus an prominenten Orten, und das die ganze Woche.
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