100 Jahre Versailler Vertrag

Grundlage für Krieg und Frieden zugleich

Ein Gemälde von Sir William Orpen, auf dem die Vertragsunterzeichnung von Versailles 1919 festgehalten ist.
Der Vertrag von Versailles wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet, am 10. Januar 1920 trat er in Kraft. © imago images / United Archives International/ Topfoto
Von Bernd Ulrich · 28.06.2019
Je mehr sie verhandelten, umso schärfer wurden die Bedingungen: Am 28. Juni 1919 unterzeichneten die Deutschen dann doch den Versailler Vertrag. Ein Beobachter notierte bereits damals: "Eine furchtbare Zeit beginnt für Europa, eine Vorgewitter-Schwüle."
"Wir täuschen uns nicht über den Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir wissen, dass die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist, wir kennen die Wucht des Hasses, die uns hier entgegentritt, und wir haben die leidenschaftliche Forderung gehört, dass die Sieger uns zugleich als Überwundene zahlen lassen und als Schuldige bestrafen wollen."
So der erst seit kurzem amtierende deutsche Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau am 7. Mai 1919. Als Leiter der deutschen Delegation in Versailles hatte er an diesem Tage den Entwurf des von den Alliierten ausgearbeiteten Friedensvertrages entgegenzunehmen.

"Siegermächte hoben deutsche Kriegsschuld hervor"

Er tat dies in der festen Überzeugung, es könne über die Bedingungen verhandelt werden. Doch aus Sicht der Sieger konnte es mit diesem Deutschland keine Verhandlungen geben. Jedes Angebot zog unweigerlich die alliierte Ablehnung oder eine Zuspitzung nach sich.
Dies betraf insbesondere den Artikel 231, den sogenannten Schuld-Paragrafen. Er wurde in einer alliierten Note vom 16. Juni 1919 nochmals verschärft. Einen Tag später kommentierte eine Denkschrift der deutschen Friedensdelegation dies so:
"Dagegen ist die Grundlage, auf der das ganze Vertragswerk aufgebaut ist, nämlich die Behauptung von der alleinigen Schuld Deutschlands am Kriege, in einer gehässigen und ehrenrührigen Form verstärkt."
Auch der Freiburger Historiker Jörn Leonhard betont in seinem gerade publizierten Standardwerk zum Versailler Frieden:
"Die Siegermächte hoben nun die deutsche Kriegsschuld hervor. Und dabei wurde jetzt nicht mehr nur von den politischen und militärischen Eliten des Kaiserreiches gesprochen, sondern ausdrücklich das deutsche 'Volk' benannt."

Argument für Nationalisten und Republikfeinde

Am Ende mehrerer Ultimaten, dem Rücktritt der Regierung Scheidemann und der Installierung einer Koalitionsregierung unter dem Sozialdemokraten Gustav Bauer, musste die Annahme des Versailler Vertrages erfolgen. Reichskanzler Bauer führte dazu am 23. Juni 1919 aus:
"Die Regierung der deutschen Republik ist bereit, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, ohne jedoch damit anzuerkennen, dass das deutsche Volk der Urheber des Krieges sei."
Indessen, die Alliierten lehnten ab: "Kein Protest heute mehr, keinen Sturm der Empörung. Unterschreiben wir! Das ist der Vorschlag, den ich Ihnen im Namen des gesamten Kabinetts machen muss."
Protokollarisch entwürdigt und moralisch verdammt, unterzeichneten endlich am 28. Juni 1919 die Vertreter der ersten deutschen Republik den Friedensvertrag im Spiegelsaal von Versailles. Für alle deutschen Nationalisten und Republikfeinde stand damit unwiderruflich fest: Der eigentliche Verantwortliche für die Niederlage und die Bedingungen des sogenannten Diktatfriedens waren die Demokratie und deren Vertreter.

Alleinschuld wurde als Demütigung empfunden

Sechseinhalb Monate später, am 10. Januar 1920, trat der Versailler Frieden völkerrechtlich in Kraft. Allein im territorialen Bereich gingen Deutschland über 70.000 Quadratkilometer verloren, über sieben der knapp 65 Millionen Einwohner waren nun keine deutschen Staatsbürger mehr.
Vor allem jedoch: Die vertraglich fixierte deutsche Alleinschuld am Kriege galt partei- und generationsübergreifend als demütigend. Dabei hatte sie ursprünglich als Begründung für die alliierten Forderungen nach materieller Wiedergutmachung gedient.
Vor allem in den einstigen Hauptkampfgebieten in Frankreich gab es weder intakte Städte oder Dörfer noch eine irgendwie funktionierende Infrastruktur. Eine mit Munition kontaminierte, von menschlichen Überresten übersäte Mondlandschaft bestimmte für Jahrzehnte das Bild. In Deutschland wurde das kaum zur Kenntnis genommen oder mit den eigenen Leidenserfahrungen konterkariert.

Grundlage nationalistischer Rhetorik

Einer nationalistischen Instrumentalisierung der Kriegsschuld Deutschlands war damit Tür und Tor geöffnet. Der diplomatisch erfahrene Harry Graf Kessler, einer der großen Beobachter seiner Zeit, vermerkte anlässlich des Inkrafttretens des Versailler Vertrags in seinem Tagebuch:
"Eine furchtbare Zeit beginnt für Europa, eine Vorgewitter-Schwüle, die in einer wahrscheinlich noch furchtbareren Explosion als der Weltkrieg enden wird. Bei uns sind alle Anzeichen für ein fortgesetztes Anwachsen des Nationalismus."
Das waren prophetische Worte. Schon wenig später, in der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920, verlor die republikstützende Weimarer Koalition aus Sozialdemokraten, dem konservativen Zentrum und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei ihre Mehrheit. Es war eine Niederlage von Dauer und der Anfang vom Ende der ersten deutschen Republik.
Mehr zum Thema