100 Jahre politischer Mord

Die unrühmliche Rolle der Presse in der Weimarer Republik

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Historische Fotografie von Arbeitssuchenden, beim Studium der Stellenanzeigen in der Zeitung, 1930 Weimarer Republik.
Von einer ausgewogenen und wahrheitsgetreuen Presse konnte in der Weimarer Republik oft nicht die Rede sein. © picture-alliance / akg-images
Von Elke Kimmel · 13.10.2021
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Politisch motivierte Gewalt erschüttert die Weimarer Republik gerade in ihren Anfangsjahren. Viele der Gewalttaten werden in der Presse aufgegriffen – häufig wenig sachlich, wie der Mord an Graf Otto von Westerholt 1920 zeigt
Der zentrumsnahe "Münsterische Anzeiger" berichtet Anfang Oktober 1921 von der Aufstellung eines Denkmals in Haltern am See:
"An der Stelle, wo am 2. Mai 1920 Graf Westerholt meuchlings ermordet wurde, ist ein mächtiger Kieselstein, Findling errichtet. Zehn Pferde zogen den 150 Zentner schweren Stein (…) nach der Ermordungsstelle, die bisher nur ein einfaches Holzkreuzchen bezeichnete. In den Stein soll eine Bronzeplatte zum Andenken eingelassen werden."

Ein ungeklärtes Verbrechen

Wer hatte den Grafen in einem Wald am Rande des Ruhrgebietes ermordet? Der "Münsterische Anzeiger" hatte gleich nach der Tat im Mai 1920 einen Verdacht geäußert:
"Frhr. v. Westerholt auf Schloß Sythen, welcher heute vor dem Kriegsgericht in Münster als Zeuge in der Sache gegen den Rotgardisten Susan wegen Plünderung des Schlosses Sythen auftreten sollte, wurde heute morgen etwa eine Stunde von Sythen entfernt im Freien ermordet aufgefunden. Es war bereits vor einiger Zeit ihm angekündigt, daß ein Preis von 20.000 Mark von Seiten der Roten Armee auf seinen Kopf gesetzt sei."

100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe über mörderische Demokratiefeindschaft und ihre Hintergründe
Zeitfragen, immer mittwochs gegen 19.25 Uhr
Eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam)


Hitler 1923 im offenen Wagen mit den Freikorpsoffizieren Ulrich Graf, Major Buch und Christian Weber.
© picture alliance/dpa/akg-image
Steckte die Rote Ruhrarmee hinter der Ermordung des Grafen – die kommunistischen Arbeiter, die nach dem Kapp-Putsch 1920 mit Waffengewalt für die Fortführung der sozialistischen Revolution gekämpft hatten? Der "Münsterische Anzeiger" am 4. Mai 1920 ist überzeugt:
"Das ist russischer Bolschewismus in Reinkultur, und auf dem Boden, wo derartige Pflanzen gedeihen, wächst auch noch mehr Unkraut, das alle jungen Keime aufblühenden Wirtschaftslebens ersticken wird, wenn nicht eine eiserne Faust hier eingreift und Ordnung schafft. Spalten ließen sich füllen mit den Schilderungen der zum Teil bereits vor Gericht erwiesenen Greueltaten. (…)

Aber der irregeleiteten Bevölkerung, wenigstens einem Teile von ihr, erscheinen infolge der von den sozialdemokratischen Zeitungen mit Fleiß betriebenen traurigen Hetze die für Ruhe und Ordnung eintretenden Soldaten und Sicherheitspolizisten als Bedrücker, während sie in Wirklichkeit ihre Befreier sind. (…) Auch die Truppe weiß glänzenden, wie tränenden Auges von manchem Führer zu erzählen, der sein Leben gelassen hat oder zum Krüppel geschossen worden ist aus lauter Pflichtgefühl und Liebe zum Vaterlande und zu seinen deutschen Brüdern."

Die parteiliche Sicht auf die Gewalt

Die Kämpfe im Ruhrgebiet nach dem gescheiterten Kapp-Putsch hatten zahlreiche Opfer gefordert. Morde und Gräueltaten wurden einerseits auf Seiten der Regierungstruppen, andererseits auf Seiten der Roten Armee verübt. Die bürgerlich-konservative Presse empört sich jedoch nur über Gewalttaten von links.
Die kommunistische Presse auf der anderen Seite blickt nur auf die Gewalt der Truppen, die die Regierung in den Kampf geschickt hatte. So schrieb die "Rote Fahne" am 7. April 1920:
"Im Ruhrgebiet herrscht der weiße Schrecken. Die angekündigte ‚Polizeiaktion‘ scheint sich in einen planmäßigen Rachefeldzug der Generale zu verwandeln. Die Militärs handeln selbständig, ohne sich irgendwie um die Weisungen der Regierung zu kümmern. (…) Die zurückflutenden Arbeitermassen werden beschossen. (…)


Die Not der Flüchtlinge ist entsetzlich. (…) Der Kommandant des jüngst geschlagenen Freikorps Schulz hat (…) erklärt, daß seine Leute rücksichtslos vorgehen und keine Gefangenen machen würden."
Die politische Atmosphäre wird jedoch nicht nur durch die Verteufelung des Gegners in der Presse vergiftet. Hinzu kommen haltlose Übertreibungen: Die deutschnationale "Deutsche Zeitung" etwa beziffert die Zahl der von links verübten Morde am 3. August 1922 auf 276. Der Statistiker und Publizist Emil Julius Gumbel fertigt eine eigene, gründlich recherchierte und belegte Statistik an. Gumbel zählt bis 1922 22 Opfer linker Gewalt, anstelle der behaupteten 276.

Wer hatte den Grafen ermordet?

Der Graf von Westerholt ist nicht darunter: Er war nicht von einem Rotarmisten erschossen worden, sondern von einem wildernden Reichswehrsoldaten aus Oldenburg. Dieser wird 1925 zum Tode verurteilt.
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