100 Jahre Oktoberrevolution

Wie Putin und Lenin streiten

Wladimir Wladimirowitsch Putin und Wladimir Iljitsch Lenin.
Wladimir Wladimirowitsch Putin und Wladimir Iljitsch Lenin. © dpa/picture alliance/TASS/Collage
Von Thomas Franke · 06.11.2017
Dem russischen Präsidenten graut vor Umbrüchen. Zugleich ist die Oktoberrevolution eine Quelle nationaler Identität. Niemand ist davon mehr überzeugt als Revolutionsführer Lenin, der für diesen letzten Schlagabtausch noch einmal zum Leben erwacht.

Szene 1 - Er lebt!

Es ist Nacht. Im Leninmausoleum legen zwei Balsamierer letzte Hand an Lenin, denn nach wochenlanger Renovierung des Revolutionsführers, wird morgen das Leninmausoleum wieder eröffnet.
Tagelang haben sie den berühmten Leichnam mit Formalin behandelt, hier und da Wachs gespritzt, vorsichtig Farbe aufgetragen. Jetzt binden sie den schwarzen Schlips mit weißen Punkten, richten den Kragen des Revolutionsführers und pudern sein Gesicht.
TV-Meldung russische Nachrichten:
"Nach monatelanger Renovierung wird morgen das Leninmausoleum wieder für den Besucherverkehr eröffnet. ..."
Draußen auf dem Roten Platz fotografieren Touristen das Leninmausoleum im Scheinwerferlicht.
Das Mausuleum von Lenin nachts.
Das Mausuleum von Lenin nachts.© Thomas Franke
Es war heiß, ein Gewitter zieht auf. Auch das Leninmausoleum wird von einem Blitz getroffen. Die Kühlung fällt aus, das Notlicht brennt. Ängstlich schauen die Balsamierer auf ihr Werk, die Leiche.
"Er hat gezuckt."
"Ach, Quatsch."
"Doch, schau, der Brustkorb."
"Guck mal, die Hand bewegt sich."
Lenins Mund bewegt sich:
"Jede religiöse Idee, jede Idee von Gott, sogar jedes Flirten mit der Idee von Gott, ist eine unaussprechliche Abscheulichkeit. Kommunismus ist Atheismus. Und Religion Opium fürs Volk. Wer seid ihr, Genossen?"

Szene 2 - Lenin klingelt bei Putin

Der Pförtner im Kreml ruft bei Putin an:
"Wladimir Wladimirowitsch, vor der Tür steht Lenin."
"Lassen Sie die Scherze, ich habe zu tun."
"Aber er ist es, Wladimir Iljitsch Uljanow."
"Ich denke, der liegt gut verpackt im Schuppen?"
Lenin mischt sich ein:
"Lass mich mal, Genosse Wachmann. Es gibt kein anderes Mittel, den Schwankenden zu helfen, als daß man aufhört, selbst zu schwanken. Genosse Pförtner, wie heißt der aktuelle Führer der Sowjetmacht? Putin? Genosse Putin, lassen sie die Scherze, ich bin's."
Putin fordert den Pförtner auf Lenin zu testen, was Lenin begrüßt:
"So ist's richtig, Genosse Putin, vertraue, aber prüfe nach."
"Das reicht. Lassen Sie ihn rein!"
Der Kreml in Moskau
Der Kreml in Moskau© dpa/Jens Kalaene

Szene 3 - Putin erklärt Lenin die Geschichte

Lenin: Genosse Putin, Du hast einen schönen Kampfnamen. Wo kommt der her? Von "revoluzionnaja putanniza" - "revolutionärem Gewirr"?
Putin: Neinnein, Herr Uljanow. Ich habe in meiner Zeit in Deutschland...
Lenin: Du warst auch in Deutschland, hast dort die Werke des Marxismus studiert, was? Sehr gut!
Putin: Nein, Herr Uljanow. Ich war in Deutschland als Tschekist, beim KGB, so hieß die Geheimpolizei damals während der Revolution in Deutschland.
Lenin: Das ist ja großartig, in Deutschland hat es endlich die Revolution gegeben? Das deutsche Proletariat ist der treueste, zuverlässigste Verbündete der russischen und der internationalen proletarischen Revolution. Wann war diese deutsche Revolution?
Putin: Im Oktober 1989, Herr Uljanow.
Lenin: Im Oktober! Gebt uns eine Organisation von Revolutionären und wir werden Russland aus den Angeln heben! Ach, was sage ich, nicht nur Russland. Der Sieg der proletarischen Revolution in der ganzen Welt ist sicher. Die Gründung der internationalen Räterepublik wird kommen.
Putin: Ich nenne es gelenkte Demokratie.
Lenin: Kontrolle ist wichtig. Nur nichts aus der Hand geben. Sehr gut, Putin, Lenker. Reine Demokratie, das ist die verlogene Phrase eines Liberalen, der die Arbeiter zum Narren hält. Die Geschichte kennt die bürgerliche Demokratie, die den Feudalismus ablöst, und die proletarische Demokratie, die die bürgerliche ablöst.

"Wir sind Geschwister im Geiste!"

Putin: Herr Uljanow, ich würde ihnen gern mitteilen, dass die Sowjet...
Lenin: Nun hör mal auf, mich mit Herr anzusprechen. Wir sind doch gleichsam Kollegen. Geschwister im Geiste, Brüder, Genossen. Also, Putin!, die Revolution. Wie hast du das in Deutschland gemacht?
Putin: Ich hab zugeguckt.
Lenin: Du hast waaas?
Putin: Was sollte ich machen? Der Generalsekretär hat uns verraten.
Lenin: Was? Gemeinsames, einheitliches Ziel ist die Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer. Wer war der Schuft?
Putin: Er heißt Gorbatschow.
Lenin: Du musst härter sein. Wie lang regierst Du schon, Genosse?
Putin: 17 Jahre. Der Staat braucht Kontinuität, darf nicht auf wackligem Grund stehen.
Lenin: Sehr gut, Putin. Der Staat ist eine Maschine zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Klasse über eine andere.
Putin: Sag ich auch immer. In letzter Zeit haben wir viele Länder gesehen, in denen so eine Situation Abenteurern, Umstürzen und im Endeffekt Anarchie den Weg geebnet hat.
Lenin: Trotzki und die Anarchisten. Ich weiß, wovon Du sprichst.
Putin: Überall ist das Ergebnis dasselbe: Menschliche Tragödien und Opfer, Niedergang und Ruin, Enttäuschung. Wir wissen gut, welche Folgen sogenannte große Umbrüche bringen. Leider gab es in unserem Land im vergangenen Jahrhundert viele davon.
Lenin: Ich verstehe nicht...

Szene 4 - Lenin blickt aus dem Fenster

Lenin: All diese Lichter. Toll. Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Ich habe immer gesagt: Wenn wir dereinst im Weltmaßstab gesiegt haben, dann werden wir in den Straßen einiger der größten Städte der Welt öffentliche Bedürfnisanstalten aus Gold bauen. Das wäre die 'gerechteste' und beste anschaulich-belehrende Verwendung des Goldes für die Generationen, die nicht vergessen haben, wie man des Goldes wegen zehn Millionen Menschen niedergemetzelt und dreißig Millionen zu Krüppeln gemacht hat. Genosse Putin, du bist der größte Führer der Revolution nach mir.
Putin: Äh. Ja. Danke.
Lenin: Mein Gott, das GUM; wie es strahlt! Ein Café. Prunkvoller, als ich es in Paris oder Zürich gesehen habe. Warte mal. Was gibt es denn hier? Ich brauche eine neue Brille. Borschtsch. Wareniki. Croissants. Putin! Ein Tee kostet 40 Rubel?
Putin: Ja, und? Die Leute verdienen Geld.
Lenin: Geld - das ist doch geronnener gesellschaftlicher Reichtum. Und dahinten glänzen ja goldene Kuppeln. Ein Kulturhaus? Oder ist das die neue öffentliche Bedürfnisanstalt am Alexandergarten?
Putin: So etwas ähnliches.
Lenin: Das ist ja die Christerlöser Kathedrale. Steht diese öffentliche Vernebelungsanstalt immer noch.
Putin: Wieder.
Lenin: Wieso wieder? Die Religion ist eine Art geistiger Fusel, in dem die Sklaven des Kapitals ihre Menschenwürde und ihren Anspruch auf eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.
Putin: Vorher war dort ein Schwimmbad.
Lenin: Putin, Sie müssen dieses Zeugnis der Entrechtung sprengen lassen.
Putin: Das geht nicht so einfach.
Lenin: Und ob. Über die Möglichkeit von Aktionen zu reden, ist zwecklos. Man muss die Möglichkeiten durch Taten beweisen.
Putin: Vladimir Iljitsch, hören Sie. In der Zeit, in der Sie tot waren, ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts über uns gekommen: Es gibt keine Sowjetmacht mehr. Die Sowjetunion ist auseinander gebrochen.
Lenin: Das ist allerdings... Wie konnte das passieren?

"Wir liquidieren nicht mehr"

Putin: Sie nennen es gewaltfreie Revolutionen.
Lenin: Gewaltfrei? Aber der ist kein Sozialist, der erwartet, daß der Sozialismus ohne soziale Revolution und Diktatur des Proletariats verwirklicht wird. Diktatur ist Staatsmacht, die sich unmittelbar auf Gewalt stützt. Wer ist schuld?
Putin: Eben dieser Gorbatschow. Möchten Sie ihn treffen?
Lenin: Er lebt? Du hast ihn leben lassen?
Putin: Wir liquidieren nicht mehr... Jedenfalls nicht mehr so offensichtlich.
Lenin: Putin, merk Dir: In der Politik gibt es keine Moral, nur Zweckmäßigkeit.
Putin: Vladimir Iljitsch, das Auseinanderbrechen der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Und Sie sind auch dafür verantwortlich.
Lenin: Ich? Was fällt Dir ein, Du... Bengel!
Putin: "Sie haben den Sowjetstaat auf der Basis vollständiger Gleichberechtigung aufgebaut mit dem Recht, aus der Sowjetunion auszutreten. Das war eine Zeitbombe unter dem Gebäude der Staatlichkeit."

"Hör auf, die Revolutionäre zu diffamieren!"

Lenin: Bürschchen! Weißt du, was du da sagst, Putin?
Putin: Erlauben Sie mir eine Bemerkung. Revolution ist schlecht.
Lenin: Hör auf, die Revolutionäre zu diffamieren! Putin, Du bist ein Konterrevolutionär! Du hast die Arbeiter- und Bauernmacht verraten, verkauft für schnöden Mammon! Überall hier dieses Gold, dieses Licht. Das ist nicht für das Sowjetvolk, das ist für Deine reichen Freunde! Du bist es nicht wert, einen Kampfnamen zu führen. Hiermit schließe ich Dich aus der Partei aus. Ich werde Dich liquidieren lassen. Was ist eigentlich aus diesem Georgier geworden, diesem Stalin?"
Putin: Er hat es richtig gemacht und den Staat gefestigt. Begreifen Sie doch endlich, wir müssen Russland schützen. Wir sehen, was für tragische Folgen die Welle sogenannter bunter Revolutionen hat, was für Erschütterungen die Völker der Länder durchgemacht haben, die verasntwortungslose Experimente der groben Einmischung in ihr Leben erlitten haben. Uns ist das Lehre und Warnung. Und wir sind verpflichtet, alles Nötige zu tun, damit so etwas niemals in Russland passiert. Vladimir Iljitsch, sagten Sie nicht, nur über die Möglichkeit von Aktionen zu reden, sei zwecklos?
Lenin: Ja.
Putin: Man müsse die Möglichkeit durch Taten beweisen? Genosse Leibwächter, erschießen und unauffällig zurücklegen.
Die Schauspieler Vlad Chiriac und Tilmar Kuhn bei der Aufnahme dieses Hörspiels. In der Mitte ist der Autor Thomas Franke.
Gesprochen haben die Schauspieler Vlad Chiriac und Tilmar Kuhn. In der Mitte ist der Autor Thomas Franke.© Thomas Franke
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