100 Jahre Kestner Gesellschaft

"Stellung nehmen" - aber nicht ganz konsequent

Aus der Ausstellung der Kestner-Gesellschaft "Stellung nehmen": Franz Erhard Walther - Der Drehung entgegen
Aus der Ausstellung der Kestner-Gesellschaft "Stellung nehmen": Franz Erhard Walther - Der Drehung entgegen © Rémi Villaggi/ Mudam Luxembourg Courtesy KOW, Berlin, Galerie Skopia, Genève et Collection de la Fondation Franz Erhard Walther
Von Jochen Stöckmann · 26.05.2016
Die Kestner Gesellschaft in Hannover feiert ihr 100-jähriges Jubiläum unter einem radikalen Titel: "Stellung nehmen". Ob der Kunstverein damit auch seine wohlhabenden Förderer unter die Lupe nimmt? Ein Ausstellungsbesuch.
Über eine Stunde lang variierte Joseph Beuys seinen Lob- und Wechselgesang auf die muntere, ja maßlose Urteilskraft. Jetzt ist die Aufnahme von 1968 eines von acht Kunstwerken, mit denen Christina Végh auf die Gründung der Kestner Gesellschaft vor 100 Jahren reagiert. Unter der Devise "Stellung nehmen", denn:
"Sie haben es gegründet, weil der Kunstverein zu konservativ war. Allerdings haben sie ja mit Max Liebermann, wie wir wissen, eröffnet. Sie hatten damit weite Teile der Gesellschaft zunächst einmal umarmt - bevor sie sie dann mit Emil Nolde schockieren. Und ich glaube, dieses Pendeln zwischen Tradition und Moderne, jüngerer und älterer Generation, das ist ja auch etwas was ich jetzt als erste Direktorin bestimmt auch weiterführen möchte."
Maler wie Liebermann förderte der hannoversche Oberstadtdirektor Heinrich Tramm großzügig. Moderne Zeitgenossen wie Nolde, Avantgardisten jeder Couleur aber wurden abgeblockt. Dagegen formierte sich 1916 die Kestner Gesellschaft, einerseits bürgerlicher Kunstverein, andererseits eine Art Sezession:
"Allerdings nicht mit rebellischen, wehenden Fahnen - sondern es waren ja Großunternehmer, die sich für die Kestner Gesellschaft stark gemacht haben, die sie gegründet haben."

Kestner Gesellschaft: Durch wohlhabende Förderer unabhängig

Fritz Beindorff als Chef der "Pelikan"-Dynastie oder die Fabrikanten Bahlsen und Sprengel - ihre Namen dominieren in den Kestner-Annalen. Zu sehen als Zeitstrahl mit Fotos und Dokumenten im zweiten Stock, räumlich und konzeptionell getrennt von der aktuellen Kunst. Aber manchmal ergeben sich Verbindungen: Etwa bei Christian Philipp Müller, der Sentenzen und Spruchweisheiten aus und über den Kunstbetrieb flankiert mit Fotos von einem "Beaux Arts Dinner", auf dem die Stichwortgeber exklusiv feierten:
"Ein Fundraising-Event und auch ein Treffen der wichtigsten Förderer. Da waren dann alle Beteiligten eingeladen, Position zu nehmen. Und Sie sind jetzt eingeladen, aus Ihrem Topf - bisschen ähnlich wie in social medias - zu den Fotos und zu den Begriffen zu liken."
Die sozialmedialen Analog-Sticker liegen in vier Glasschalen bereit, beschriftet mit "Persönlichkeiten", "engagierte Förderer", "treue Mitglieder" und - am Ende dieser Rangfolge - "gemeine Besucher". Mit dieser Klassifizierung scheidet der Künstler das gewöhnliche Publikum von den wirklich wichtigen Kunstfreunden. Denn:
"Wenn man einflussreich ist, kann man besser strategisch vorgehen als andere. Das macht sie nicht besser oder schlechter, das ist einfach das Glück der Kestner Gesellschaft: Man war finanziell weniger abhängig und man hatte mehr Know-how."
Das, so erläutert Christina Végh mit Blick auf den Briefwechsel aus der Zeit des "Dritten Reichs", hat der Kestner Gesellschaft geholfen gegen nationalsozialistische "Gleichschaltung", hat bis 1936 ihre Unabhängigkeit garantiert:
"Dieses strategische Katz- und Mausspiel, das Herr Beindorff und der Vorstand fähig war, zu tun gegenüber dem Gaukulturwart."

Ambivalenzen werden in "Stellung nehmen" unzureichend thematisiert

Die Attacken der Nazis galten Justus Bier, der als künstlerischer Leiter seit 1930 das Programm der Kestner Gesellschaft bestimmte. Nach den Anfängen mit russischem Konstruktivismus, dem französischen Pointilisten Paul Signac oder symbolistischer Malerei James Ensors fällt in dieser Ära vor allem auf:
"Wie stark sich die Kestner Gesellschaft mit Justus Bier auch am Bauhaus und seinen Künstlern orientiert hat: Plötzlich gab es da eine Kestner-Bühne, es gab das Kestner-Buch."
Diesen erweiterten Kunstbegriff hat die Kestner Gesellschaft nach 1945 weiterentwickelt - und er wird jetzt mit der aktuellen Schau "Stellung nehmen" auf den Punkt gebracht. Zumindest ästhetisch: neuer Werkbegriff, institutionelle Kritik oder partizipative Kunst - darauf zielen die Arbeiten von Franz Erhard Walther, Ahmet Ögüt oder Christian Falsnaes.
Wozu sie keine Stellung nehmen, das ist der jüngste, mehr als nur lokal-politische Streit um Fritz Beindorff. Der hatte als Vorsitzender der Kestner-Gesellschaft den jüdischen Geschäftsführer Justus Bier bis 1936 gegen die Nazis verteidigt, wenig später aber mit Zwangsarbeitern, die auf seinem Firmengelände in Lagern untergebracht waren, vom Nazi-Regime profitiert:
"Das ist ja eigentlich zunächst einmal auch ziemlich faszinierend: Das jemand sich für einen jüdischen Direktoren einsetzt in der Zeit, er hilft Justus Bier auch. Dass dieselbe Figur Jahre später Zwangsarbeiter hat, das ist unsere Aufgabe, diese Ambivalenzen sichtbar zu machen."
Durch Kunst. Aber die schweigt dazu - nur fürs Erste, bleibt zu hoffen.

Mehr Informationen zur Kestner-Gesellschaft auf ihrer Homepage

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