100 Jahre Finnland

Selbstbehauptung zwischen Schweden und Russland

Die finnische Flagge
Am 6. Dezember 1917 wurde Finnland unabhängig. © dpa / picture alliance / Jp Amet
Von Jenni Roth · 06.12.2017
Weite Wälder, unzählige Seen, lange Winter. Damit verbinden viele Finnland - jedoch weniger mit Krieg. Dabei ist die Geschichte des Landes alles andere als unblutig verlaufen. Unsere Autorin hat sich zum 100. Geburtstag ihrer Zweitheimat auf eine Zeitreise in die finnische Geschichte begeben.
Kalajoki, an der Westküste, sieben Stunden nördlich von Helsinki. Einmal im Jahr bin ich hier oben, mindestens. Mein Onkel begrüßt mich mit einem Grummeln. Tatsächlich ist was dran am Klischee, dass die Finnen - vor allem die Männer – nicht viel reden. Eben nur dann, wenn sie wirklich etwas zu sagen haben.
Das Schweigen hat auch mit der Geschichte eines Landes zu tun, das jahrhundertelang immer jemandem gehörte, Russland, oder Schweden. Vielleicht steckt den Finnen das in den Knochen: Aus Angst, etwas Falsches zu sagen, sagt man besser - nichts.
Finnland wurde immer wieder bedroht, erobert, unterworfen. Vielleicht fehlt den Finnen wegen ihrer Geschichte das kollektive Wissen, sicher und Herr im eigenen Land zu sein? Vielleicht sind sie auch anderen gegenüber oft verschlossen, weil sie sich selbst nicht recht trauen? Sind sie deshalb fast schon schmerzhaft ehrlich und oft obrigkeitshörig? Werden deshalb fast nur Moll-Stücke zu Nummer-Eins-Hits? Was findet man heraus, wenn man in der finnischen und in der Familiengeschichte kramt?
"Hier, das ist meine Großmutter, und hier mein Vater. Mit einem Kleid! Das war schick damals. Er war ihr erstes Kind, er wurde 1910 geboren. Auf dem Foto ist er sechs, das war 1916. Da war Finnland ja noch russisch. Erst als mein Vater in die Schule kam, wurde er wirklich Finnisch."
Meine erste Interviewpartnerin: meine Mutter. Sie ist Finnin, aufgewachsen in Kalajoki. Wir sitzen über einer Kiste mit alten Fotos. Manche Bilder sind 100 Jahre alt - so alt wie Finnland selbst.
Mutter: "Hier, ein russischer Soldat, der lebte bei unserer Familie. Finnland war nicht im Ersten Weltkrieg, aber dafür im Bürgerkrieg: Rote gegen Weiße - die Roten wollten ja zur Sowjetunion gehören, obwohl Finnland doch schon unabhängig war ..."
Es gibt ein paar Meilensteine in der finnischen Geschichte: Die Unabhängigkeit. Der Bürgerkrieg. Der Winterkrieg 1939/40 und die Fortsetzungskriege. Schließlich der Kalte Krieg und die Annäherung an den Westen.
In Helsinki treffe ich den Historiker Hannes Saarinen, vor dem Gebäude der Finnischen Bank. Davor, in Stein gemeißelt: der Philosoph und Staatsmann Johan Wilhelm Snellmann.
Saarinen: "Warum er vor der finnischen Bank steht - weil er einer der Väter der Finnmark war. Die Finnmark war in der Autonomiezeit die Währung des Großfürstentums Finnland, Finnland hatte eigene Währung, nicht den Rubel. Das ist sein Verdienst, der finnischsprachigen Bevölkerung klarzumachen, dass ihre Sprache die Grundlage für ein Bewusstsein der finnischen Nation ist."
Die Amtssprache war Schwedisch, bis Dichter und Philosophen wie Snellman oder Johan Ludvig Runeberg die Finnen bestärkten: Ihr habt eine eigene Kultur und Sprache! Schließlich schafften es die Finnen, eine gleichberechtigte Amtssprache durchzusetzen. Sie wurden Russland gegenüber kritischer und fingen an, sich nach Westeuropa zu orientieren.
Also versuchte Russland ab 1900, die finnische Autonomie einzuschränken. Diese Strategie hätte Finnland zum Verhängnis werden können. Aber dann kam der Erste Weltkrieg, in dem Russland gegen Deutschland kämpfte - die große Chance für Finnland.
Saarinen: "Man hatte nicht direkt ein Bestreben, sich völlig loszulösen von Russland, aber die Idee der Selbstständigkeit war bei einigen Aktivisten vorhanden. Da bot man von Deutschland an, insgeheim finnische Aktivisten, die sich für die Selbstständigkeit einsetzen wollten, in Deutschland militärisch auszubilden: die berühmten Jääkerit, die in Lokstedt bei Hamburg ausgebildet wurden. Das war natürlich illegal aus der Sicht Russlands."
Deutschland wollte an der gesamten Westgrenze Russlands Unruhe schüren, um Russland zu schwächen. Und tatsächlich brachen 1917 Unruhen aus, in der russischen Februarrevolution wurde der Zar abgesetzt. Im Oktober übernahmen die Bolschewiki die Herrschaft.
Die bürgerliche Regierung in Finnland fürchtete, dass sich diese Machtübernahme sich auf Finnland auswirken könnte. Man fragte sich, wer die Herrschaft über Finnland übernehmen sollte, nachdem der bisherige Herrscher – der Kaiser von Russland und Großfürst von Finnland – sie nicht mehr ausübte. Finnland stimmte für das finnische Parlament - ein erster Schritt zur Unabhängigkeit, die am 4.Dezember schließlich in einer offiziellen Erklärung festgehalten wurde. Zwei Tage später stimmte das Parlament mehrheitlich für die Unabhängigkeit.
Der Bürgerkrieg
Musik: "Rechte Volksvertreter gingen nur/ auf der rechten Weghälfte/ meine Braut sagte/ gib mir doch noch ein Schlückchen/ milder 70er Weißwein ..."
Rote gegen Weiße - das waren in der Zeit des russischen Bürgerkriegs die Fronten auch in Finnland. Noch in den 1970er-Jahren machte der Musiker M. A. Numminen rot und weiß zum Thema seines Songs "Mit meiner Braut im Parlamentspark".

Deutsche Hilfstruppen in Finnland

Lenin erkannte zwar die bürgerliche Regierung und die Selbstständigkeitserklärung an, aber Finnland wurde trotzdem in den Bürgerkrieg hineingezogen.
Saarinen: "Der Hintergedanke war, dass Finnland dann vielleicht doch noch sozialistisch würde. Weil es eine starke sozialdemokratische Bewegung gab. Das führte dazu, kaum war Finnland selbstständig, dass im Januar 1918 der Bürgerkrieg ausbrach. Die Linke, die Räteregierung, war mit den Bolschewiki in enger Verbindung, und die legale bürgerliche Regierung musste sich aus Helsinki zurückziehen nach Vaasa. Und versuchte von dort, mit Waffen den Süden zurückzuerobern unter General Mannerheim."
Deutschland schickte Hilfstruppen nach Finnland und Carl Gustaf Emil Mannerheim als Oberbefehlshaber schaffte es, Helsinki im April 1918 zurückzuerobern.
Saarinen: "Die Roten haben durch den Einsatz von Mannerheim den Bürgerkrieg verloren. Das war in der finnischen Geschichte lange eine Hypothek, eine Wunde, die erst nach zwei Generationen geheilt wurde."
Es ist noch nicht lange her, da gab es auch in dem kleinen Heimatort meiner Mutter, in Kalajoki, noch einen weißen und einen roten Ortsteil. Die Familie meiner Mutter gehörte zu den "Weißen". Und als meine Tante 1979 einen "Roten" heiratete, war das ein großes Drama.
Mutter: "Keiner konnte das verstehen, alle aus der Familie waren auf der Seite der Weißen. Da ging ein Riss durch die Gesellschaft, hier links, da rechts. Es gab verschiedene Sportvereine, jedenfalls solange ich in Finnland gelebt habe. Auch getrennte Schulen. Wir hatten nichts mit den Kindern der Roten zu tun. Die Kommunisten gehörten auch nicht zur Kirche. Und schickten ihre Kinder nicht auf die Gesamtschule, nur auf die Grundschule - sie fanden, als Arbeiter braucht man nicht mehr. Bei uns galt der Grundsatz, jeder nach Talent. Eine gute Bildung und ein guter Beruf, von dem man leben kann, waren wichtig."
Musik: "Auf Linke Volksvertreter gingen nur auf der linken Weghälfte ..."
1918 waren gerade die Bürgerlichen den Deutschen dankbar für die Hilfe und die Rettung der Selbstständigkeit. Die große Frage war: Wer sollte das Land führen?
Saarinen: "Da im Sommer 1918 Deutschland stark wirkte, dachte man, da wenden wir uns hin und fragen, ob wir einen deutschen Prinzen als König bekommen."
In Finnland gab es nur ein schwedisches fürstliches Geschlecht, und einen Schweden wollte man nicht zum König. Und weil die Finnen damit rechneten, dass Deutschland den Krieg gewinnen würde, hofften sie auf eine starke Stütze. Da Kaiser Wilhelm seinen jüngsten Sohn nicht hergeben wollte, sprang sein Schwager Prinz Karl Friedrich von Hessen ein. Im Sommer 1918 fing er an, Finnisch zu lernen und sich auf den Umzug vorzubereiten. Aber schon ein paar Wochen später hatte sich die Weltlage völlig verändert.
Saarinen: "Deutschland musste einen Waffenstillstand mit Frankreich schließen, mit den USA und England. Eine Bedingung war, dass Deutschland sämtliche Engagements aufgibt, auch in Finnland."
Der Kampf war auf dem Papier beendet - aber das Land blieb in Sieger und Verlierer gespalten. Dabei übte man sich durchaus in Mäßigung: Sozialdemokraten durften wieder im Parlament mitarbeiten, 1927 hatte Finnland für kurze Zeit sogar eine sozialdemokratische Regierung. Und die 1919 verabschiedete republikanische Verfassung gilt bis heute als demokratisches Wahrzeichen - erst im Jahr 2000 wurde sie überarbeitet.
Derweil suchten die Finnen außenpolitischen Rückhalt. Nach dem Zusammenbruch Deutschlands 1918 orientierten sie sich an den Siegermächten England und Frankreich. Mit Russland schlossen sie 1920 einen Friedensvertrag - der ihnen allerdings nicht die Angst vor einem Angriff nahm. Die hielt sich bis in die 30er-Jahre. Gleichzeitig setzte man auf die sogenannte "nordische Neutralität".
Eine entscheidende Wendung sollte der Winterkrieg zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bringen.
Der Winterkrieg
Die Brille mit den runden Gläsern liegt auf dem Tisch, als hätte Freiherr Carl Gustaf Emil Mannerheim sie gerade erst abgelegt. In der Ecke steht sein Sessel, mit kupfernen Noppen. Doch die Pendel der Wanduhr stehen still, und auf einer vergilbten Karte an der Wand erkennt man noch eine blasse rote Linie: die einstige Ostfront zwischen Finnland und der Sowjetunion.
Der Raum war einst Teil einer Kommandozentrale und ist heute Teil des "Hauptquartiers-Museums", im ostfinnischen Mikkeli. 70 Jahre her ist es her, seit Mannerheim, der Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte, seine Berater hier tagein, tagaus um den massiven Tisch versammelte - und das "Wunder des Winterkriegs" wahr machte. Dabei sind es im Grunde zwei: Es grenzte an ein Wunder, dass das kleine, unvorbereitete Volk dem übermächtigen Nachbarn widerstand. Das andere Wunder war der Zusammenhalt der Finnen untereinander: Der gemeinsame Hass schweißte die Finnen zusammen.
Ende August 1939 hatten Hitler und Stalin ihren Nichtangriffspakt unterzeichnet. Kurz darauf eroberte die Wehrmacht Polen, dann nahm die Sowjetunion die baltischen Staaten ein. Das nächste Ziel war Finnland.
In Kalajoki leben mein Großonkel Toivo und seine Frau Kerttu. 1939 war Toivo 14 Jahre alt.
Erst mal gibt es Kaffee. Vielleicht ist auch das historisch erklärbar - oder einfach durch die lange Dunkelheit. Jedenfalls trinken die Finnen überall und zu jeder Zeit Kaffee.
Toivo: "Jetzt erzählen die Russen, dass die Finnen den Winterkrieg angefangen hätten!"
Matti: "Es heißt jetzt, die Finnen hätten die Russen damals mit Artillerie beschossen. Aber das war doch ein vorgetäuschter Angriff, um einen Grund für den Winterkrieg zu haben!"
Meine Verwandten diskutieren über einen Zeitungsbericht, in dem Russland kürzlich behauptete, Finnland habe den finnisch-russischen Krieg begonnen. Aber Historiker sind sich einig, dass es andersherum war: Nachdem die Sowjets vergeblich versucht hatten, eine Marionettenregierung aus finnischen kommunistischen Bürgerkriegsflüchtlingen zu errichten, überschritt die Rote Armee am 30. November 1939 frühmorgens die Grenze in der karelischen Landenge. Helsinki wurde mit schwerer Artillerie beschossen.
Matti: "Man hat auch Kalajoki bombardiert ..."
Der Angriff traf die Finnen unvorbereitet. Noch im August 1939 hatte sich die Regierung damit gebrüstet, kein Geld für schnell veraltetes Kriegsmaterial verschwendet zu haben. Deshalb hatte die finnische Armee kaum automatische Waffen, nur hundert Panzerabwehrkanonen und 30 Panzer. Also versuchte man umzuschwenken. Auch die Jüngsten wurden für künftige Einsätze ausgebildet.
Toivo war gerade mal 14, als er bei den Kriegsübungen dabei war.
Toivo: "Es war mitten im Winter, kälter als minus 30 Grad, wir haben auf dem Boden geschlafen ohne alles. Es war eiskalt. Auf schlechten Skiern sind wir den ganzen Tag gefahren und marschiert. Und in der Kaserne gab es nur gefrorene Kartoffeln ..."
Aber die Finnen hielten durch, dank Sisu, einem Begriff, der sich schwer übersetzen lässt: zäh sein, sich durchbeißen. Die Fähigkeit, selbst dann weiterzumachen, wenn man eigentlich nicht mehr kann. Mit so viel Sisu hatten die Sowjets jedenfalls nicht gerechnet – aus dem geplanten Blitzfeldzug der Sowjets wurde ein 105 Tage dauernder Krieg. Die Rote Armee war auch nicht auf 30 bis 40 Grad unter Null und zwei Meter Schnee eingestellt. Während die Benzintanks ihrer Panzer einfroren und die Soldaten im meterhohen Schnee versanken, waren die Finnen winterfest.
Mutter: "Hier, das ist mein Vater im Winterkrieg. An der Front in Karelien ..."
In jeder Familie gibt es diese vergilbten Schwarzweißbilder: Soldaten in weißen Tarnanzügen auf schweren, hölzernen Langlaufskiern.
Und die Finnen hatten noch eine wirksame Waffe gegen Panzer: Flasche, Benzin und Zündschnur. Während die Sowjets das Land bombardierten, behauptete ihr Außenminister Molotow, dass die Flieger nur Nahrungsmittel und Brot für die hungernde Bevölkerung abwürfen. Die Finnen nannten sie "Molotows Brotkörbe" und fertigten das passende "Getränk" dazu: Die staatseigene Firma Alkoholiliike, die bis heute als Alko weiterexistiert, schickte diese "Molotow-Cocktails" samt Streichhölzer paketweise an die Front, 450.000 Stück. Die Finnen hielten dem übermächtigen Nachbarn stand.
Toivo: "Stolz waren die Kriegsheimkehrer trotzdem nicht."
Matti: "Das war für die Finnen so eine Sache, bitter, weil sie ja Teile Finnlands verloren …"
Die Finnen wahrten ihre Unabhängigkeit, aber zu einem hohen Preis: Sie mussten im Südosten große Teile Kareliens - eine seenreiche Region zwischen Ostsee, Weißem Meer und Ladogasee – an die Sowjetunion abtreten. Hunderttausende flohen in ihrer Not in den Westen, nach Finnland. Auch nach Kalajoki.
Autorin:
Trotz der schmerzhaften Verluste – menschlich und geografisch – bescherte der Winterkrieg dem Land einen Helden.
Saarinen: "Wir stehen vor dem Denkmal Mannerheims, die einzige Reiterstatue in Helsinki. Das unterstreicht seine Bedeutung in der finnischen Geschichte. Hier steht auch nur Mannerheim, nicht seine Vornamen, Lebensdaten - er ist ein Mythos."
Aber mit dem Winterkrieg war längst nicht alles vorbei. Der Zweite Weltkrieg tobte, und die nächsten verheerenden Kämpfe folgten bald.
Finnland im Zweiten Weltkrieg
Die Stimme Hitlers in der weltweit einzigen Tonbandaufnahme, auf der Hitler privat zu hören ist. Sie stammt aus Finnland: 1942 tauchte er als Überraschungsgast beim 75. Geburtstag des finnischen Generals Carl Gustav Mannerheim auf.
Saarinen: "Der Zweck: Finnland bei der Stange zu halten. Aber Hitler muss Mannerheim verehrt haben, und dass er, der sich für den größten Feldherrn aller Zeiten hielt, Mannerheim aufsucht, das war schon was wert. Aber Mannerheim hat Distanz gehalten zu Hitler."
Aber: Finnland entschied sich für ein Zusammengehen mit Deutschland. Allerdings gab es keinen Bündnisvertrag, und Mannerheim unterstützte weder die Belagerung Leningrads noch die Operation gegen die Murmansk-Bahn.
Andererseits unterstützte die rechtsextrem orientierte finnische Staatspolizei Valpo die deutschen Einsatzkommandos. Kommunisten, Partisanen und Juden wurden für Massenexekutionen als erste aussortiert. Erst 2003 ist bekannt geworden, dass Finnland während des Krieges Tausende sowjetische Kriegsgefangene nach Deutschland deportiert hat. Auch Juden.
Warum paktierten die Finnen mit den Nazis?
Als der Krieg ausbrach, suchte Finnland als junges, unsicheres Land Sicherheit im Westen. Vergeblich. Nach dem Winterkrieg blieb nur Deutschland als Verbündeter.
Radionachrichten von 1942: "Bei erfolgreichen Vorstößen deutscher Truppen erlitt der Gegner hohe blutige Verluste. Im nördlichen Frontabschnitt scheiterten stärkere Angriffe der Sowjets. In Lappland nahmen deutsche Gebirgsjäger zusammen mit finnischen Verbänden einen stark ausgebauten feindlichen Stützpunkt und vernichteten 40 Kampfstände mit ihren Besatzungen."
Saarinen: "Als Deutschland die Sowjetunion angriff, hat Hitler im Radio verkündet, dass die Finnen an der Seite Deutschlands kämpfen. Das war ein bisschen prekär, weil - Finnland hat die Ansicht vertreten, Helsinki wäre bombardiert worden, deshalb müssen wir in den Krieg. Man nannte ihn den Fortsetzungskrieg, Jatkosota, weil man die Gebiete zurückhaben wollte, die man verloren hatte im Winterkrieg. Man ging aber weiter, Teile von Karelien wurden besetzt, die nie zu Finnland gehört haben."
Außerdem betrieben die Deutschen von 1941 bis 1944 rund hundert Lager zwischen auf finnischem Boden. Die vorwiegend sowjetischen Gefangenen schliefen in Erdlöchern oder errichteten notdürftig aus Pappe und Sperrholz Jurten und Zelte.
Ein Drittel der knapp 30.000 Gefangenen wurden hingerichtet, sie starben an Hunger oder Seuchen. Für die 200.000 Mann starke deutsche Armee waren sie überlebenswichtig. Die Zwangsarbeiter hackten Brennholz, heizten die Baracken, räumten den Schnee, setzten Häfen und Flughäfen instand oder wurden für Forst- und Gleisarbeiten eingespannt.
In der Bibliothek der "Nationalen Verteidigungsakademie", der finnischen Militäruniversität, wuchtet der Historiker Pentti Airio, ein ehemaliger Brigadegeneral, die gesammelten Ausgaben des Lappland-Kuriers von 1941 bis 44 auf den Tisch - die damalige "Zeitung für deutsche Soldaten in Nordfinnland".

Finnland schließt Sondervertrag mit der UdSSR

Pentti: "Deutsche und Finnen waren Waffenbrüder, nicht Alliierte. Man kann sich das vorstellen wie eine Liebesbeziehung: Es gibt offene Beziehungen, in denen beide getrennt wohnen und ihr eigenes Geld haben. Die nächste Stufe: Das Paar lebt zusammen, ist aber nicht auf dem Papier liiert. Und dann gibt es noch die offizielle Ehe. Das Verhältnis von Deutschen und Finnen war damals so etwas wie eine offene Beziehung mit gemeinsamer Wohnung."
Radionachrichten von 1942: "In Lappland wiesen deutsche Gebirgsjäger mehrere feindliche Angriffe ab und fügten dem Gegner schwere Verluste zu."
Drei Jahre eint Deutsche und Finnen der gemeinsame Feind Sowjetunion. Doch im Herbst 1944 schwenkt Finnland um und schließt mit der Sowjetunion einen Sondervertrag. Von heute auf morgen werden militärische Freunde zu Feinden, persönliche Beziehungen stehen ebenso in Frage wie die Zukunftspläne der Menschen.
Mit dieser Zeit und ihren Menschen hat sich die Autorin Irja Wendisch in ihren Büchern beschäftigt. Sie stammt aus Oikarainen in Lappland.
Irja nimmt mich mit auf eine Fahrt durch die endlose Tundra Lapplands. Vor dem Fenster flimmert das Weiß der Birken zwischen den Kiefernstämmen, die in Flechten gebettet sind wie auf silberfarbenen Kissen. Ein gelber Mittelstreifen teilt den Asphalt in zwei Hälften und verliert sich nach jedem Hügel aufs Neue im Horizont. Hier also waren die 210.000 deutschen Soldaten stationiert - in einer Region mit nur 180.000 Einwohnern.
Irja: "Da hinten fließt der Kemijoki, der längste Fluss Finnlands. Und das ist hier das Haus des Sportvereins, hier wurden Deutsche untergebracht, in Oikarainen war ein Rückzugsort für das Sturmbootkommando, ein Übungsort."
Irja hält am Dorfrand von Oikarainen, und zeigt auf die Abbildungen in einem ihrer Bücher: In "Dr. Conzelmanns Kriegsjahre in Lappland" hat sie den Briefwechsel des deutschen Militärarztes mit seiner Geliebten dokumentiert.
Irja: "Die schwärmten alle von Finnland und Oikarainen: Die Landschaft und die Milch! Ich denke, auch die hübschen finnischen Mädchen."
Irgendwann wird Finnland klar, dass die Deutschen den Krieg verlieren werden. Taktisch geschickt wartet Mannerheim ab, bis Deutschland nicht mehr stark genug ist, Finnland zu besetzen. Im Waffenstillstandsabkommen verlangt Stalin die Vertreibung der deutschen Truppen von finnischem Boden.
Pentti: "Das war vor allem schwierig auf der persönlichen Ebene. Erst stehen sie gemeinsam an der Front, und jetzt sollten sie plötzlich gegeneinander kämpfen. Ein Bekannter, der dabei war, erzählte mir, dass sie sogar noch einen verletzten Deutschen heimlich auf die deutsche Seite brachten."
Die Deutschen zerstören ganze Dörfer, Straßen und Brücken. Wohnhäuser gehen in Flammen auf – der Feind soll im nahen Winter kein Obdach finden. Denn Deutsche wie Finnen rechnen mit einem Vormarsch der Russen. Lapplands Provinzhauptstadt Rovaniemi wird restlos niedergebrannt.
Drei Jahre, in denen die Finnen mit den Deutschen verbündet waren, steht die kurze Zeit der Feindschaft in den letzten Kriegsmonaten gegenüber - doch diese hat die finnische Gesellschaft nachhaltig geprägt. Ehemalige Freundschaften zu den Deutschen wurden zum Tabu und die finnischen Liebhaberinnen zu "Nazi-Huren". Die jungen Mütter unter ihnen verstecken in der Nachkriegszeit oft ihre Kinder oder verleugnen sie.
Irja: "Ich bin überzeugt, dass sie sich so geschämt haben, dass sie die Scham für sich behalten mussten. Es war eine Schande, ein uneheliches Kind zu haben. Und eine doppelte und dreifache Schande, sich mit einem Deutschen eingelassen zu haben."
Die Autorin Irja Wendisch hat Wehrmachtskindern bei der Suche nach ihren deutschen Wurzeln geholfen und darüber geschrieben. Als ihr Buch 2009 erschien, rührte sie an ein ungebrochenes Tabu: Man sprach nicht über den Krieg, immer noch nicht. Über die Liebesbeziehungen schon gar nicht. Nicht in der Öffentlichkeit, auch nicht im geschützten Kreis der Familie.
Halt an einer Raststätte. Schummriges Licht, finnischer Tango knistert aus einer Jukebox. Der Tango ist in Finnland überall, spätestens seit der Musiker Toivo Kärki im Winterkrieg gegen Russland 1939/40 die ersten finnischen Tangos komponierte: Mit dem Tango gab er den Finnen eine Sprache, mit der sie alles Unausgesprochene sagen konnten. Für Worte ist dagegen bis heute oft kein Raum, eine Volksweisheit lautet: Der finnische Mann spricht nicht, und er küsst nicht.
Irja: "Jede Kultur hat ein anderes Schamgefühl, 'häpeä'. Man sagt ja über die Finnen, die schweigen in zwei Sprachen, das hat schon Brecht gesagt. Da ist viel Wahres dran. Viele sagten, gut, dass du drüber schreibst, wir haben so viel unter den Teppich gekehrt. Nach dem Krieg musste man schweigen, dass wir euphorisch den Pakt mit Deutschland geschlossen haben."
Der Kalte Krieg und die Zeit danach
Kalajoki entwickelte sich in der Nachkriegszeit zum größten Kartoffelproduzenten im Land und bot ein typisch finnisches Szenario: Ein kleiner Ort in einem großen, dünn besiedelten Agrarstaat. Auch meine Familie lebte in einfachen Verhältnissen, erzählt mein Onkel Matti:
Matti: "Wir hatten Kühe und unsere Mutter hat auf der Nerzfarm gearbeitet. Unser Vater war Fischer, aber er hat auch alles Mögliche andere gemacht, Handwerksarbeiten."
Politisch stand Finnland vor der Herausforderung, die politische Balance zwischen Ost und West zu halten. Im Kalten Krieg zwischen dem Westen und der Sowjetunion, danach zwischen dem Westen und Russland.
Esko Aho war Anfang der 90er-Jahre Premierminister von Finnland. Ich treffe ihn in Helsinki bei einem der Unternehmen, für die er heute arbeitet. Ein aufgeräumter, jugendlicher Typ in dunkelblauem Anzug.
Aho: "Nach dem Krieg konnte man nur sagen, man muss nehmen, was man kriegt. Man hat mit der Sowjetunion Geschäfte gemacht, man ist mit ihr ausgekommen. Und hat sich gleichzeitig dem Westen angenähert und das Gleichgewicht gewahrt. Finnland hat das gut hingekriegt."

Finnland als neutraler Staat

Prägend für diese Politik im Nachkriegsfinnland war Urho Kekkonen, Präsident von 1956 bis 1982. Kekkonen erzielte seinen größten Erfolg für Finnland, als die Ost-West-Entspannungskonferenz 1975 in der finnischen Hauptstadt stattfand: die KSZE-Konferenz von Helsinki. Das festigte die Stellung Finnlands als neutraler Staat. Aufatmen konnten die Finnen aber erst nach 1989, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa.
Blick in die Finnlandia-Halle in Helsinki während der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975
Blick in die Finnlandia-Halle in Helsinki während der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975© dpa / picture alliance / Horst Sturm
Matti: "In der Politik änderte sich endlich was, die wurde freier, sie war nicht mehr so Russland-hörig."
Esko Aho wurde 1991 zum Staatschef gewählt. Tatsächlich schaffte Aho es, gegen alle, auch parteiinterne, Widerstände, den Weg in die EU zu ebnen. Heute spricht man sogar offen über einen Beitritt zur NATO. Und in Phyäjoki, 20 Kilometer von meinen Verwandten in Kalajoki entfernt, wird zurzeit ein Atomkraftwerk mit russischer Beteiligung gebaut.
Aho: "Für Europa ist es wichtig, dass wir Russland nicht ausgrenzen."
Sagt der ehemalige finnische Staatschef Esko Aho. Die Balance zu halten: das ist die Rolle Finnlands in Europa spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In dieser Rolle hat das militärisch schwache Land Stärke bewiesen.
Im Innern ist die finnische Gesellschaft unruhig geworden, wie so viele andere europäische Gesellschaften. Der islamistische Terrorist, der in Turku Anfang August dieses Jahres zwei Menschen niederstach, hat das Volk erschüttert. Politiker fordern härtere Gesetze gegen Einwanderer, die Rechtspopulisten machen weiter Stimmung gegen Flüchtlinge, deren Zahl 2015 um 822 Prozent stieg - aber nur, weil es vorher quasi keine gab. Im selben Jahr rückten die rechtspopulistischen "Wahren Finnen" in die Regierung ein.
Finnland ist keine Insel der Weltpolitik mehr, die Globalisierung verändert und verstört Teile der Gesellschaft. Wie in ganz Europa ist die Frage, wie die Finnen mit dieser Herausforderung umgehen. Ob das Märchenland, von dem Unto Munonen in der inoffiziellen Nationalhymne "Satumaa" erzählt, nur ein Traum ist oder eine Vision.
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