100 Jahre Erster Weltkrieg

"Jüdische Herkunft spielte nur sekundäre Rolle"

Zu sehen sind jubelnde Soldaten am Fenster eines Zuges, der sie im August 1914 an die Front des Ersten Weltkrieges bringt.
Die Kriegsbegeisterung war im August 1914 groß, auch bei Deutschen jüdischen Glaubens, die als gleichberechtigte Bürger anerkannt sein wollten, erläutert Ulrike Heikaus. © dpa
Ulrike Heikaus im Gespräch mit Philipp Gessler · 13.07.2014
1914 riefen jüdische Organisationen im Deutschen Reich ihre Mitglieder durchweg zu unbedingtem Patriotismus auf, sagt Ulrike Heikaus. Die Begeisterung sei bei jüdischen Deutschen zu Kriegsbeginn sehr groß gewesen, so die Kuratorin.
Ralf Bei der Kellen: Auch im letzten Beitrag der heutigen Ausgabe von "Religionen" bleiben wir beim Ersten Weltkrieg. Neben den Christen und – nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs – den Muslimen taten auch Menschen jüdischen Glaubens den Dienst an der Waffe in ihren jeweiligen Heimatländern. An das Schicksal der deutsch-jüdischen Soldaten erinnert jetzt das Jüdische Museum München mit der Ausstellung "Krieg! Juden zwischen den Fronten 1914-1918". Die Ausstellungsmacher haben unter Zuhilfenahme von Feldpostbriefen, Tagebüchern, Fotografien und anderen persönlichen Objekten den Versuch unternommen, das historische Ereignis in individuell erlebte und beschriebene Momente zu zerlegen und damit erfahrbarer zu machen.
Mein Kollege Philipp Gessler hat vor der Sendung mit der Kuratorin der Ausstellung Ulrike Heikaus gesprochen und wollte zunächst von ihr wissen, warum die Begeisterung bei vielen jüdischen Männern für den Krieg so groß war, und warum sich so viele von ihnen freiwillig meldeten.
Ulrike Heikaus: 1914, als es zum Kriegsausbruch kam, habe ich bei meinen Recherchen feststellen können, war es wirklich durchgängig so, dass jüdische Organisationen ihre Mitglieder eigentlich zu unbedingtem Patriotismus aufgerufen haben. Es war ein sehr großer Loyalitätsdruck und auch der Wusch, jetzt endlich diese historische Chance der Anerkennung wahrnehmen zu können. Und deswegen war die Begeisterung am Anfang sehr, sehr groß bei jüdischen Deutschen. Es war im Grunde mit der Hoffnung verbunden, dadurch auch anerkannt als gleichberechtigte Bürger in der Gesellschaft irgendwie Eingang zu finden.
Philipp Gessler: Also das Motiv dahinter eigentlich, zu zeigen, wir sind 100-prozentige Deutsche, auch als Juden, und wir sind tapfer genauso wie alle anderen auch?
Heikaus: Ja, genau, das war so der Wunsch dahinter, dass man eben unterstreicht, wir sind vorrangig Deutsche jüdischen Glaubens. Für viele spielte dann zum Teil ja auch ihre jüdische Herkunft wirklich nur sekundär eine Rolle und es ging wirklich darum, den Patriotismus auszuweisen.
Gessler: Gab es denn auch so etwas wie bei manchen von den jüdischen Soldaten dann auch gewisse Bedenken, so nach dem Motto, wir könnten ja als jüdische Soldaten in der deutschen Armee gegen Juden in anderen Armeen kämpfen?
Heikaus: Ich habe es eher so von jüdischen Intellektuellen und Geistesgrößen dann gefunden, diesen Diskurs auch innerjüdisch, inwiefern das sozusagen ein Problem sein kann oder eine ganz bestimmte Brisanz, wenn jüdische Deutsche gegen die britische Armee – und dort sind eben jüdische Glaubensbrüder –, wie das sozusagen zu lösen ist. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass in der Recherche oder auch jetzt in den Personen, die ich in der Ausstellung vorstelle, dieses Dilemma nicht präsent war, also dieses Bewusstsein nicht. Aber es war eben, gerade weil sie als Deutsche in den Krieg zogen, nicht vordergründig dabei, bei diesem Eintritt in den Krieg.
Gessler: Es gab explizite Kriegsgegner, wenn auch sehr wenige, bei den Christen, die gesagt haben: Jesus verlangt, dass wir Feindesliebe praktizieren! Gab es solchen radikalen Pazifismus auch im Judentum?
Heikaus: Der ist mir in dieser Form, auch so jüdisch-religiös interpretiert, nicht begegnet. Die Ausstellung zeigt auch Kriegsgegner, sie zeigt also auch, dass nicht nur alle für den Krieg gestimmt haben, sondern es gab natürlich auch von Anfang an Persönlichkeiten, die sich dagegengewendet haben, aber dann eher in der säkularen Richtung, also Künstler, Literaten, und wir stellen eben Antikriegsgedichte von Erich Mühsam, von Ernst Toller, von Lion Feuchtwanger vor. Dort wird also dieses Entgegenwirken sichtbar. Aber in der religiösen Auseinandersetzung habe ich davon nichts gefunden und auch jetzt nichts ausgestellt.
Gessler: Sie stellen ja in Ihrer Ausstellung fest, dass es Antisemitismus auch im Felde gab, also unter den Kameraden. Das ist mir einerseits einleuchtend, weil, Antisemitismus verschwindet ja nicht von heute auf morgen. Auf der anderen Seite hat man doch als, sagen wir mal, christlicher Soldat gesehen, dass eben ein jüdischer Kamerad genau wie ich leidet und im Grunde unter denselben Nöten, und vielleicht ach dieselbe Tapferkeit hat wie ich. Warum hat sich dieser Antisemitismus trotzdem noch so geäußert, auch im Felde?
"Antisemitismus war tatsächlich von Anfang an da"
Heikaus: Das ist etwas, was die Ausstellung oder was ich auch jetzt bei den Recherchen feststellen konnte, dass das im Grunde genommen von Anfang an präsent war, der Antisemitismus und auch die Idee, erst mal zu schauen, was bedeutet es, als deutscher Jude im Ersten Weltkrieg zu dienen. Das losgelöst davon zu betrachten, dass das im Grunde genommen von Anfang an nicht funktioniert, weil dann doch auch in den Briefen und Selbstzeugnissen und Tagebuchaufzeichnungen es immer wieder einfließt. Bei einem Soldaten, den ich zum Beispiel vorstelle aus Nürnberg, Paul Lebrecht, der hat ein sehr ausführliches Kriegstagebuch geschrieben. Man kann ihn wirklich als säkular verstehen, er hat sich also mit seiner jüdischen Herkunft nicht religiös intensiv auseinandergesetzt, und trotzdem, in seinen Aufzeichnungen gibt es immer wieder Belege dafür, dass seine Kameraden, wenn es darum ging, zum Beispiel an jüdischen Feiertagen freizubekommen, dass dann sofort diese Diskussion auftrat, das Jüdische. Dass sie sich drücken würden, dass sie sich weniger als die anderen einsetzen würden als ihre christlichen Kameraden oder vielmehr nicht jüdischen Kameraden. Das findet man wirklich durchgehend und erschreckenderweise in sehr vielen Egozeugnissen über den Ersten Weltkrieg.
Und ich denke, dass das ein Stück weit einerseits damit zusammenhängt, dass das jetzt auch für den Militärapparat erst mal neu war, also in der Form und zahlenmäßig so viele jüdische Soldaten zu integrieren, und das hat natürlich auch eine gewisse Struktur benötigt, es wurden Feldrabbiner eingesetzt, man musste sich auch um koschere Nahrungsmittel kümmern oder die Literatur besorgen. Das war also, dieser formalisierte Apparat musste auf dieses Bedürfnis jetzt reagieren. Und ich denke, da ist zum Beispiel ein Grund, warum es gerade im Kontext der jüdischen Religion oder den Feiertagen immer wieder zu Irritationen und zu diesem Aufgreifen von alten Stereotypen kam, da vermischt sich dann einiges. Und das andere, was ich feststellen konnte, ist eben, dass der Antisemitismus tatsächlich von Anfang an da war, trotz des Burgfriedens oder dieses Aufrufs am Anfang, wir sind jetzt alle, wir kämpfen für eine Sache, ist es im Kriegsalltag tatsächlich immer wieder, dass es zu dieser Erfahrung der Ausgrenzung und Diffamierung kommt, die Stereotype, die Vorurteile, der Antisemitismus ist einfach in den Köpfen und somit auch in dem ganzen militärischen Apparat verankert gewesen.
Gessler: Ein ganz großer Bruch oder die Spitze war im Grunde dann die Judenzählung 1916, also der irgendwie versuchte statistische, offizielle Beweis, dass angeblich die Juden im Felde eben nicht so tapfer seien wie ihre nicht jüdischen Kameraden. Das haben viele Juden als Schlag ins Gesicht gewertet. War danach die Loyalität völlig weg?
Heikaus: Es ist tatsächlich so, dass das eigentlich durchgehend als Bruch und Zäsur, als wirklich ... Es gibt einen Brief, den wir zeigen, da wird von einer Ohrfeige ins Gesicht ..., dass diese Judenzählung, diese statistische Erhebung also wirklich auf jüdischer Seite zu ganz großen Verletzungen, aber auch zu Bitterkeit führte. Man kann jetzt nicht, zumindest nicht auf der Ebene, in der ich mich quasi an dieses Thema herangepirscht habe, ich habe immer geguckt, was ist auf der individuellen Ebene, wie wurde das quasi in den Tagebuchaufzeichnungen oder Briefen in irgendeiner Form ausgearbeitet oder weiterverwertet, dass man dann sagen kann, dass daraufhin man sagen kann, sie haben sich abgekehrt von der ganzen Sache, sondern vielmehr ist der Druck noch stärker geworden. Es war ja immerhin noch zwei Jahre Krieg dann im Anschluss. Dass man eher sagen kann, dass aufgrund dieser Erfahrung der Judenzählung viele jüdische Soldaten dachten, jetzt müssen wir es noch mehr zeigen.
Der Druck war also eigentlich noch viel stärker und nur ganz wenige haben vielleicht innerhalb ihres Selbstverständnisses gesagt, wir können tun und lassen, was wir wollen, wir werden immer ausgegrenzt, wir werden immer zu Juden stigmatisiert, selbst wenn wir versuchen, den Teil unserer Identität irgendwie aufzulösen. Und haben daraufhin sich mehr innerjüdisch sozusagen im Selbstbewusstsein entwickelt. Das ist natürlich, in Anführungszeichen, eine positive Entwicklung, die aber jetzt auch sozusagen nicht zahlenmäßig irgendwie belegt ist. Es ist aber sicherlich auch wichtig, aus dem innerjüdischen Selbstverständnis heraus diese Konsequenzen zu sehen.
Gessler: Sie sprechen ja in Ihrer Ausstellung auch davon, dass es eine Radikalisierung des Antisemitismus durch den Krieg gab. Können Sie das ein bisschen erläutern?
"Durch die Judenzählung ist tatsächlich eine Zäsur zu erkennen"
Heikaus: Ja, wir haben eine Station, die nennt sich auch Kontinuität des Antisemitismus. Da geht es eigentlich um die Judenzählung, aber es zeigt auch, dass es im Grunde genommen von 1914 an, also durchgehend im militärischen Apparat, aber auch von der Bevölkerung unterstützt, antisemitische Ausgrenzungen gab. Es ist zwar einerseits Radikalisierung, aber es ist auch eine Kontinuität vorhanden von Anfang an. Durch die Judenzählung ist tatsächlich sozusagen eine Zäsur zu erkennen, es ist ein quasi von der Politik und vom militärischen Apparat getragener antisemitischer Vorgang, der im Grunde genommen die Spitze dann zeigt. Und was sich dann eben nach 1918 daraus entwickelt, ist, dass sich sofort so ein Kampf um die Erinnerung lostritt, also dass mit Ende des verlorenen Krieges und vor allem mit dieser Schmach eigentlich die gesamte deutsche Bevölkerung ratlos, rastlos nach Verantwortlichen suchte und sofort die Fokussierung eben auf die jüdischen Verantwortlichen, nicht nur als Soldaten, sondern auch in der Wirtschaft, also Rathenau ist da zum Beispiel ein Stichwort, gesucht haben, die Verantwortlichen. Und so radikalisiert sich das eigentlich immer mehr hin bis 1918 und vor allem darüber hinaus.
Gessler: Nun ist ja eine zusätzliche tragische Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs die Tatsache, dass viele jüdische Kriegsveteranen, die zum Beispiel das Eiserne Kreuz wegen Tapferkeit bekommen hatten im Ersten Weltkrieg, dann sich nach 1933 gar nicht vorstellen konnten, dass sie als Juden durch die Nazis verfolgt werden könnten und sogar umgebracht werden könnten. Also, viele haben gedacht, wir können doch gar nicht verfolgt werden, sie wogen sich sozusagen in Sicherheit. Ist das eine tragische Geschichte, der Sie auch nachgehen?
Heikaus: Ja, diese Geschichte wird eigentlich an sehr vielen Stationen in der Ausstellung aufgezeigt. Es gibt eine Station, die nennt sich "Lebenslinien. Objekte erzählen", da werden sieben Soldaten oder das Schicksal dieser sieben jüdischen Soldaten wird nachgezeichnet anhand von Exponaten und man schaut im Grunde genommen genau darauf. Man dokumentiert erst mal die Kriegsteilnahme, die Eisernen Kreuze, die Auszeichnungen, man sieht, an welchen Schlachten sie teilgenommen haben, ihr eigenes Selbstverständnis zum Krieg. Und dann gibt es einen Bruch, der findet 1933 statt, und in all diesen ausgestellten Lebenswegen ist immer der Versuch der Porträtierten, sich auf ihre Kriegsteilnahme zu beziehen und zu hoffen, dass sie jetzt dadurch einen gewissen Schutz haben. Und die Ausstellung zeigt auch, dass dieser Schutz nie gegeben war.
Es gibt also immer ein Dokument, das sind meistens Briefe, Verteidigungsbriefe oder Belege, man versucht quasi, den Verantwortlichen, den NS-Behörden zu belegen, dass man eben diese Weltkriegsteilnahme unter großem Einsatz getätigt hat. Und dann gibt es im Grunde genommen immer das Dokument, das diese Fragestellung beantwortet, und dann gibt es eben den Ausschluss aus der Reichskulturkammer bei einem Musiker, oder es gibt bis hin, dass man dann verfolgt und ermordet wird. Das wird immer aufgezeigt, und im Grunde genommen, dieser Schutz war nicht gegeben. Und die Frage aber stand immer im Raum, wir sind doch geschützt? Und die Antwort gibt dann die Ausstellung und wir wissen es ja auch selber über den Fortgang der Geschichte, dass der Schutz nicht gegeben war.
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