100. Geburtstag des Philosophen John Rawls

Vordenker der Gerechtigkeit

41:29 Minuten
Die Zeichnung von Dariush Radpour zeigt den us-amerikanischen Philosophen John Rawls.
Ein Mindestmaß an Wohlstand und Entwicklungschancen stehe allen Mitgliedern einer gerechten Gesellschaft zu, so der politische Philosoph John Rawls. © akg-images / Fototeca Gilardi
Otfried Höffe im Gespräch mit Catherine Newmark · 21.02.2021
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Gerecht ist eine Gesellschaft, wenn sie auch den Schwächsten ein würdiges Leben ermöglicht. Für diesen Grundsatz steht der politische Philosoph John Rawls. Zu seinem 100. Geburtstag erinnert Otfried Höffe an den einflussreichen Denker.
Welche Grundregeln braucht eine gerechte Gesellschaft? Der US-amerikanische Philosoph John Rawls schlug gern ein Gedankenexperiment vor, um diese Frage zu beantworten:
Angenommen, Sie müssten zusammen mit vielen anderen Menschen entscheiden, in was für einer Gesellschaft Sie leben wollen. Aber niemand von Ihnen wüsste im Voraus, welche Rolle er oder sie in dieser Gesellschaft einnehmen würde. Wenn Sie also vorab nicht wüssten, ob sie sich dort als Präsidentin oder Arzt, Lehrerin oder Arbeitsloser wiederfänden, würden Sie sich dann für eine Gesellschaft aussprechen, in der nur Ärzte gut verdienen, oder für eine, in der auch Arbeitslose in irgendeiner Weise aufgefangen werden?

Durch den Schleier des Nichtwissens

John Rawls nannte diese gezielte Ungewissheit im Sinne einer gerechten Entscheidung den "Schleier des Nichtwissens". Wir kennen ein ähnliches Bild aus dem Gerichtswesen, sagt der in Tübingen lebende Philosoph Otfried Höffe: "Jede Darstellung der Justiz zeigt diese Frau mit verbundenen Augen." Dort gehe es aber jeweils darum, in einem Einzelfall unparteiisch zu entschieden. Rawls verlange Unparteilichkeit in Bezug auf die Prinzipien, nach denen eine Gesellschaft aufgebaut werde.
"Damit nicht nur die gut Gestellten, die von ihren Talenten oder von ihrer gesellschaftlichen Herkunft Bevorteilten gut dastehen, sondern alle Menschen – vor allem auch die Hilfsarbeiter oder die Arbeitslosen", fordere Rawls zwei Gerechtigkeitsprinzipien, so Höffe: "Einerseits größte gleiche Freiheit für alle und zum anderen, vorausgesetzt, es gibt eine Chancengerechtigkeit, dann soll es den Schlechtestgestellten möglichst gut ergehen."

Kein Glück für viele auf Kosten der Schwächsten

Mit dieser Gerechtigkeitsvorstellung habe John Rawls sich gegen die damals in der englischsprachigen Welt vorherrschende Ethik des Utilitarismus gewandt: "Nach dem Utilitarismus kommt es auf das größte Glück der größten Zahl an, und wie schon Marx und Engels gesagt haben, findet hier eine 'Ausbeutung des Menschen durch den Menschen' statt."
Die Zielvorstellungen des Utilitarismus könnten nämlich durchaus dazu führen, "dass Einzelne auf fundamentale Rechte verzichten müssen, um das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft zu befördern", erklärt Höffe, "und dagegen wendet sich Rawls vehement." Im Hauptwerk des politischen Philosophen, seiner 1971 erschienenen "Theorie der Gerechtigkeit", heißt es:
"Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird."

Entscheidung in Hiroshima

John Rawls, geboren am 21. Februar 1921 in Baltimore, Maryland, nahm als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil und wurde im Pazifik eingesetzt. Er sah Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe und soll daraufhin das Angebot einer Offizierslaufbahn ausgeschlagen haben. 1946 verließ Rawls die Armee im untersten Dienstgrad eines Private.
Als Philosoph sei es ihm gelungen, den in der Wissenschaft bis dahin als "schwammig" und "vage" geltenden Begriff der Gerechtigkeit ins Zentrum einer stringenten Theorie zu stellen, sagt Otfried Höffe.
Otfried Höffe zu Hause, vor seinem Bücherregal
Von Rawls können wir lernen, die unterschiedlichen Interessen vieler Menschen im Blick zu behalten, um möglichst allen gerecht zu werden, sagt der Philosoph Otfried Höffe.© privat
Ein basales Gerechtigkeitsempfinden sei ja schon bei Kindern zu beobachten und als "fast natürlich" zu betrachten, so Höffe. Erst philosophische Begriffe ermöglichten jedoch ein wirkliches Verständnis dafür, worum es eigentlich gehe, wenn wir Gerechtigkeit einfordern oder gegen eine unfaire Behandlung protestieren. Zum Beispiel der Begriff der "Verfahrensgerechtigkeit":
"Da gibt es die Regel: Der eine teilt, der andere wählt. Damit derjenige, der teilt, nicht am Ende schlecht dasteht, versucht er, den Kuchen, um dessen Verteilung es geht, so zu teilen, dass das kleinste Stück gleichwohl möglichst genauso groß ist wie das größte Stück. Und damit haben wir schon eine Idee von Gerechtigkeit, nämlich die Gleichverteilung – vorausgesetzt alle haben denselben Anspruch auf diesen Kuchen."

Gesundheit, Bildung und Wohlstand fair verteilen

Zentral für Rawls Verständnis von Gerechtigkeit sei der Begriff der "gesellschaftlichen Grundgüter", so Höffe: Damit alle Menschen nach Glück und Selbstverwirklichung streben könnten, welche individuellen Ziele sie dabei auch jeweils verfolgen mögen, müsse die Gesellschaft Voraussetzungen dafür schaffen, zu denen alle Zugang haben. An erster Stelle seien dies gleiche Rechte und Freiheiten, an zweiter Stelle stehe für Rawls die Verteilung von Chancen, Macht, Einkommen und Wohlstand.
Dabei habe Rawls keineswegs denselben Lebensstandard für alle gefordert, aber er sei für eine Chancengleichheit eingetreten, die es allen ermögliche, sich den eigenen Fähigkeiten und Interessen entsprechend zu entwickeln: "Es sind Ungleichheiten erlaubt, es darf Arme und Reiche geben, Begabtere und Unbegabtere, aber von dem System, das Reichen und Begabteren Chancen gibt, müssen die Schlechtestgestellten profitieren können."
Daraus ließen sich ganz konkrete sozialpolitische Forderungen ableiten, so Höffe. Eine Krankenversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger gehöre ebenso dazu wie Schulen, die auch Kindern und Jugendlichen aus armen Verhältnissen einen Zugang zu Wissen und Bildung eröffneten. Auch in Rawls Heimatland, den USA, seien diese Forderungen bis heute nicht vollständig eingelöst.

Mit Augenmaß durch die Pandemie

Wie würde John Rawls, der in späteren Werken durchaus über den Rahmen einzelner, national verfasster Gesellschaften hinausgeblickt und 1999 auch eine philosophische Theorie des Völkerrechts veröffentlicht hat, wohl heute die Herausforderungen der Coronapandemie beurteilen? Otfried Höffe ist davon überzeugt, dass Rawls vor allem darauf Wert legen würde, möglichst allen auf ganz unterschiedliche Weise von der Pandemie betroffenen Gruppen gerecht zu werden:
"Ich finde, es wird medial falsch inszeniert, dass wir primär an die Älteren denken, die den Schutz verdienen, aber weniger zum Beispiel an die Kinder, die in die Schule wollen, die mit ihren Freunden spielen wollen, die Auslauf brauchen – oder an die 30-, 40-, 50-Jährigen, deren Lebensperspektiven abgebrochen werden, und die darunter noch viele Jahre leiden werden."
Die Schwierigkeit bestehe ja gerade darin, so Höffe, "dass wir den verschiedenen Gruppen gleichermaßen Chancen geben und nicht willkürlich eine Gruppe herausgreifen und dann noch stolz sind, dass wir ja gerade die am schlimmsten Betroffenen besonders gut behandeln und vergessen, dass viele andere nicht viel besser dastehen."

Sinn für Gerechtigkeit als Stütze der Demokratie

John Rawls habe den Sinn für Gerechtigkeit als wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie betrachtet, sagt Otfried Höffe. Davon sei auch er selbst zutiefst überzeugt:
"Man kann hier auch von ‚Rechtschaffenheit‘ sprechen. Wenn nicht die meisten Menschen rechtschaffen sind, wenn der Staat viel zu viele Polizeikräfte einsetzen müsste und viel zu viele Menschen ins Gefängnis stecken müsste, dann würde die Demokratie nicht funktionieren."
Doch in diesem Punkt ist Höffe optimistisch, allen Tendenzen zur Polarisierung der Gesellschaft und antidemokratischen Misstönen zum Trotz: "Es gibt einerseits viel Egoismus in der Menschheit. Andererseits gibt es so viele Leute, die ehrenamtlich arbeiten – das war in der ‚Flüchtlingskrise‘ zu sehen, das gibt es jetzt auch in der Pandemie-Bekämpfung –, und der Anteil dieser Ehrenamtlichen ist so groß, das beweist ja, dass trotz allem Selbstinteresse das soziale Interesse stark genug ist, sodass ich glaube: Die Demokratie wird überleben."
(fka)

Otfried Höffe: "Gerechtigkeit denken. John Rawls' epochales Werk der politischen Philosophie"
Karl Alber Verlag, Freiburg 2021
192 Seiten, 28 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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