Zygmunt Bauman: "Retrotopia"

Zurück ans Stammesfeuer

Zusammenrotten, abschotten, Gewalt ausüben: Der Trieb zum Tribalismus sei im Menschen wieder erwacht, schreibt der verstorbene Soziologe, Zygmunt Bauman in "Retropia".
Zusammenrotten, abschotten, Gewalt ausüben: Der Trieb zum Tribalismus sei im Menschen wieder erwacht, schreibt der verstorbene Soziologe, Zygmunt Bauman in "Retropia". © Suhrkamp; imago/Westend61
Von Jörg Himmelreich · 28.12.2017
"Retrotopia" ist ein posthum erschienenes Buch des Soziologen Zygmunt Bauman. Seine These: Der Glaube an eine bessere Zukunft werde heute ersetzt durch die Hinwendung zur Vergangenheit.
Verklärung der Vergangenheit und eine "verzweifelte Sehnsucht nach Kontinuität in einer fragmentierten Welt", beides steht weltweit derzeit hoch im Kurs. Diese Hauptmerkmale der Geistesverfassung unserer Zeit macht sehr treffend der zu Beginn diesen Jahres verstorbene Brite Zygmunt Baumann als einer der wichtigsten Soziologen und Philosophen der Gegenwart in seinem gerade posthum erschienenen Buch "Retrotopia" aus.
Thomas Morus hatte dem jahrtausendealten Menschheitstraum von der Rückkehr ins Paradies den Namen 'Utopia' gegeben habe und damit den festen und zuversichtlichen Glauben des Fortschritts in eine bessere Zukunft beflügelt. Fünfhundert Jahre später beherrschen heute zahlreiche Visionen der Rückwärtsgewandtheit die "globale Hegemonie des Denkens". Sie speisen sich "nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit".
Wie sind diese Retrotopien zu erklären? Eine schonungslose Analyse der globalen politischen Gegenwart bietet die Folie für seine soziologischen und historischen Erklärungen.

Zurückgekehrt in die Welt von Thomas Hobbes

Ein Technologiewandel, der Arbeitsplätze vernichtet; Globalisierung, Flexibilisierung und Migration, die Gemeinden destabilisieren; sich auflösende Familienstrukturen; eine ins Schwanken geratene politische Ordnung im Nahen Osten; eine zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit; und eine ausfransende Weltordnung. All das sind die Kennzeichen seiner prägnanten Diagnose der weltpolitischen Gegenwart weit über den Tellerrand einer oft engen, alleine auf sich selbst bezogenen deutschen Selbstbetrachtung hinaus. Schon diese Diagnose allein macht "Retrotopia" lesenswert. Selbst wenn der Autor dann in seinen Erklärungen der heutigen Retrotopien unter anderem nur die bekannten historischen Erklärungsmuster der Entstehung und Entwicklung des Nationalismus hinzuzieht.

Bauman unterstreicht jedoch als Hauptursache für die Retrotopien von heute die nach Volumen und Intensität starke Zunahme von Gewalt. Wir sind heute in die Welt der Gewalt von Hobbes zurückgekehrt, in der jeder Mensch dem anderen ein Wolf ist. Als Folge drängt es den Einzelnen zum Schutz in die kleine Nachbarschaft mit bewehrten Grenzen. Aus dem Trieb des Menschen zum "Tribalismus" steigert er die wahrgenommenen Unterschiede dann zur Abwehr des Anderen und dem Gefühl der Überlegenheit der eigenen Gruppe. Sich aus Angst vor Gewalt "zurück ans Stammesfeuer" zu begeben, um sich dann um so gewaltbereiter abzugrenzen, das ist eine scheinbar unauflösliche soziologische Spirale der Gewalt. Sie uns ungeschminkt, ausführlich und sorgfältig belegt vor Augen zu führen ist es, was "Retrotopia" auszeichnet.
Da bleibt mit Bauman nur als letzte Hoffnung gegen die Retrotopien dieser Welt mit der einzigen weltweiten Autorität von Papst Franziskus eine "Kultur des Dialogs" zu fordern und zu fördern. Selbst wenn Baumann damit entgegen dem von ihm selbst beklagten Zeitgeist der Epoche noch einmal die Kraft zur Utopie beschwört, haben wir langfristig wohl keine andere Alternative: "Entweder wir reichen einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber."
Zygmunt Bauman (1925−2017) im März 2013 bei einer Buchvorstellung in Barcelona
Zygmunt Bauman (1925−2017) im März 2013 bei einer Buchvorstellung in Barcelona© dpa / picture alliance / EPA / Toni Albir

Zygmunt Bauman: Retrotopia
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
Suhrkamp, Berlin 2017
200 Seiten, 14 Euro

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