Zwischen Wahnsinn und Realität

Moderation: Liane von Billerbeck · 16.01.2011
"Black Swan" ist in mehreren Golden-Globe-Kategorien nominiert. Absolut zurecht, findet Waltraud Tschirner, die sich mit Regisseur Darren Aronofsky getroffen hat. Besonders beeindruckend sei aber Natalie Portman als Hauptdarstellerin: "Schwerelos, grazil, ganz großartig."
Liane von Billerbeck: Wenn heute Abend, spät am Abend die Golden Globes vergeben werden, dann ist das ja alle Jahre wieder so: Sie gelten als wichtige Vorboten für die im Februar folgenden Oscars. Dann könnte es auch für Darren Aronofsky und seine Black-Swan-Protagonisten spannend werden: Dieser Film steht ja auf der Liste, als bester Film ausgezeichnet zu werden und für die beste Regie, und außerdem ist Natalie Portman als beste Darstellerin nominiert, wie auch ihr Gegenpart im Film, Mila Kunis, die gilt nämlich als Anwärterin für die Kategorie "Beste Nebendarstellerin".

Waltraud Tschirner hat den Film "Black Swan" gesehen und kürzlich auch den Regisseur getroffen, und sie ist jetzt im Studio. Hallo!

Waltraud Tschirner: Guten Morgen!

von Billerbeck: Darren Aronofksy war ja mit seinem vorletzten Film "The Wrestler" sehr erfolgreich. Jetzt ist er also in die hohe Kunst des Balletts umgestiegen. Liebt der Mann die Kontraste?

Tschirner: Ja, das fragt man sich natürlich sofort. Also wie kommt er dazu, quasi von der niedersten aller Künste sofort in die hohe, geschlossene, feine Welt einer klassischen Tanzcompany zu gehen, fragt man sich – hier Mickey Rourke am Ende seiner Kräfte, und da die junge schöne aufstrebende Natalie Portman als Ballerina. Wenn man dann allerdings näher hinsieht, dann gibt es schon erstaunlich viele Parallelen.

In beiden Filmen versucht ein Mensch, in seiner kleinen Welt perfekt zu funktionieren, sich zu verwirklichen. Beide Male geht es auch ums Ausloten der physischen Möglichkeiten, die ein Mensch hat: Extremsituation, Würde, psychische Konstitution. Vielleicht ist es ja da auch hilfreich zu wissen, dass Aronofsky, Jahrgang 69, nicht nur Film studiert hat, sondern auch Anthropologie, und entsprechend über die Menschen nachdenkt. Und er selbst sieht auch Parallelen:

Darren Aronofsky: Das ist interessant: Wir haben immer gewusst, dass es da eine Menge Verbindungen gibt zwischen dem schwarzen Schwan und dem Wrestler, und ich denke auch, genau darin liegt die Magie des Kinos, dass du einen Film über einen 50-jährigen, gealterten Wrestler machen kannst, oder über eine Anfang 20-jährige, ehrgeizige Ballerina. Und am Ende entstehen verblüffend ähnliche Geschichten. Und wenn die Charaktere gut gezeichnet sind, dann kann man sich selbst zu den Persönlichkeiten auf der Leinwand in Beziehung setzen und sich mit ihnen identifizieren oder an ihnen reiben. Und das ist immer die eigentliche, die große Herausforderung für mich: Wie kriegt man das Publikum dazu, mit den Darstellern auf den Trip zu gehen durch die Geschichte des Films?

von Billerbeck: Wir haben im Vorsetzer ja gehört, dass es natürlich ums Tanzen geht beim schwarzen Schwan, da ist der "Schwanensee" von Tschaikowsky ja ganz nah, aber es geht eben auch um Ninas selbstzerstörerischen Drang nach Perfektion, im Zentrum des Films steht dieser Drang. Eignet sich für Letzteres eben gerade die geschlossene klassische Ballettwelt besonders gut als Demonstrationsuniversum?

Tschirner: Das scheint genauso zu sein. Aronofsky hat darüber offenbar auch vorher nachgedacht und diese Welt ganz bewusst ausgewählt, und er versucht auch zu erklären, warum das für ihn so gut funktioniert, da die Perfektion festzumachen:

Aronofsky: Ich denke, da ist etwas in der Welt des Balletts, das nach Perfektion geradezu ruft. Man spricht ja von klassischem Ballett, und dieses klassisch ist im Sinne von Perfektion gemeint. Wenn man von einem klassischen Gebäude spricht, dann assoziiert man damit klassische Säulen, klassische Fassaden mit perfekten Proportionen, und das wird oft in die Ballettwelt übertragen. Man verbindet damit auch eine Art idealen menschlichen Körperausdruck, aber natürlich wird perfekt ja auch im Sinne einer großartigen Aufführung verwendet, eine Aufführung, bei der alles stimmt.

Wir alle haben so etwas schon mit eigenen Augen gesehen, auf der Bühne oder im Film, oder eben im Ballett, wo jemand buchstäblich eins geworden ist mit seiner Kunst, und mit der Musik geradezu verschmolzen ist, der Moment, in dem Künstler und Publikum alles um sich herum vergessen. Auch von dieser Art der Perfektion ist hier die Rede.

von Billerbeck: Kommen wir zu den Darstellern. Die beiden Tänzerinnen, Natalie Portman und Mila Kunis, also die Darstellerinnen der Tänzerinnen, muss man ja sagen, sind für die Golden Globes nominiert – zu Recht, aus Ihrer Sicht?

Tschirner: Absolut zu Recht, also beide, muss man sagen, aber es ist einfach so, dass Natalie Portman den tragenden Part hat und die wirkliche Hauptrolle, und da muss man sagen: Hut ab, es ist absolut beeindruckend, was sie für diesen Film offenbar geackert haben muss. Also sie hat als Kind wohl mal Ballettstunden gehabt, wie sich das dann so gehört für Tochter aus gutem Hause, und ist dann im Alter von 28 – war sie damals bei den Dreharbeiten – sozusagen noch mal richtig eingestiegen.

von Billerbeck: Ist ja ein hohes Alter im Ballett.

Tschirner: Ist erstaunlich, es ist Wahnsinn, wirklich in diese Tanzwelt hinein. Sie sagt selber, es war ein absolutes Hardcore-Training, also mit ganz vielen Schmerzen, und sie hat also extrem viel Ballett natürlich geübt, musste dazu ganz viel schwimmen, dass der Körper das überhaupt aushält, diese ganze Belastung, die Ernährungsumstellung, gut, kann man jetzt mal vernachlässigen. Aber man sieht auch im Film, dass sie vieles selbst tanzt, und man wundert sich: Es ist wirklich schwerelos, grazil, ganz großartig.

Und zu dieser physischen Herausforderung kommt nämlich noch die andere: Sie spielt ja immer so ein bisschen an der Kante zwischen Wahnsinn und Realität, und das muss man ja auch irgendwie noch ausdrücken. Da gibt es zwar dann noch filmische Tricks, damit klarzukommen, aber auch sie muss da eine Menge leisten. Und ich vermute mal ganz stark, dass ihr ihr Psychologiestudium, was sie irgendwann absolviert hat, nicht unbedingt geschadet hat bei der Vorbereitung auf diese Rolle – also wirklich: Hut ab!

Aronofsky: Wir haben mit den Vorarbeiten zum Film vor ungefähr zehn Jahren begonnen. Seit damals habe ich mich immer wieder mit Natalie getroffen, um über das gemeinsame Projekt zu sprechen. Wir haben gemeinsam recherchiert und viel geredet über dieses Milieu. Wir wollten die Geheimnisse dieser Ballettwelt ergründen, wollten beobachten, wie die Leute da ticken, und haben uns entsprechend darin vertieft. Denn das ist wirklich eine völlig eigene Welt und eine ganz spezielle Form von Kunst, und die wollten wir ganz praktisch verstehen.

Eigentlich haben wir während dieser langen Vorbereitungszeit nicht so sehr über psychologische Fragen geredet, aber ich bin sicher, dass Natalie sehr viel darüber nachgedacht hat, schon weil sie sehr reflektiert, gebildet und klug ist. Aber das hat sie mehr mit sich abgemacht. Während der Dreharbeiten haben wir beide ganz normal über den äußeren Ablauf der Szenen gesprochen.

Tschirner: Ganz großartig übrigens auch, den haben wir jetzt noch gar nicht erwähnt, in der Rolle des französischen Choreografen, Vincent Cassel, den man ja zuletzt gesehen hatte als "Public Enemy No.1", in diesen beiden Teilen. Und da hat man ihn irgendwie ganz anders gespeichert. Und jetzt als Choreograf – er war ja vorhin auch zu hören, also er wird natürlich auch so etwas Französisch sprechend synchronisiert, er ist der französische Choreograf – ist er einfach ganz großartig, kann einen absolut begeistern, und auch Aronofsky war da offenbar verzückt von dem, was er gemacht hat.

Aronofsky: Er ist ein sehr guter Schauspieler, und er ist unglaublich wandlungsfähig. Ja, er ist wirklich großartig in dieser Rolle, was vermutlich auch damit zu tun hat, dass sein Vater ein großer Tänzer war, und er überhaupt aus einer Tänzerfamilie stammt. Und so war er absolut froh, diese Rolle spielen zu können.

von Billerbeck: "Black Swan" ist also ein Ballettfilm, aber es geht eben nicht nur um Ballett, es geht um Vollkommenheit, das ist ja etwas, was viele in solchen Künsten anstreben. Wie denkt denn der Regisseur, der studierte Anthropologe, eigentlich selbst darüber?

Tschirner: Ja, genau das wollte ich auch wissen, und ich habe ihm dann wirklich die Frage so gestellt. Ich habe gesagt, Sie haben jetzt die ganz große Gelegenheit, mal den großen Schöpfer persönlich zu spielen und quasi Menschen nach ihrem Bilde zu formen. Was wäre die Mixtur, die für Sie die richtige ist, einen Menschen perfekt zu machen? Und er antwortet so:

Aronofsky: Ich habe darüber noch nicht wirklich nachgedacht, aber ich denke, das hat viel mit Balance zu tun, also wirkliche Vollkommenheit hat mit Ausgeglichenheit zu tun, also genug Spaß haben, genug Zeit für sich selbst haben, sich ausreichend Zeit für andere Menschen zu nehmen, Zeit mit der Familie verbringen zu können, genügend Zeit zum Glücklichsein, genügend Zeit zum Traurigsein. Das alles fügt sich für mich zu einer Art von Ausgeglichenheit und Vollkommenheit zusammen.

Tschirner: Gerade in den USA wird ja gerne mal von etwas geschwärmt, was dann "bigger than life" genannt wird, und dazu kann ich jetzt einfach zum Schluss noch sagen: Nix da, das richtige Leben ist doch das größere und das eigentliche, denn bei den unglaublich vielen Balletttrainingsstunden hat es offenbar oder ganz definitiv zwischen Natalie Portman und ihrem Ballettlehrer gefunkt. Die beiden sind mittlerweile verlobt, und sie hat sich kürzlich bei ihrem Regisseur ganz herzlich dafür bedankt, dass sie jetzt fett ist, sie ist nämlich schwanger und glücklich, und das ist doch das eigentliche Happy End von "Black Swan"!
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