Zwischen Tengri und Koran

Von Maya Kristin Schönfelder · 12.05.2012
Ausflug in ein ehemals sowjetisches, heute autokratisch regiertes Land: Der Islam ist Teil der Kultur, nach dem Ende der Sowjetunion wurden Moscheen gebaut. Im Dorf Turar Ryskulov in Südkasachstan gehört der Glaube zum Alltag.
Südkasachstan. Freitagmorgen. Über dem Dorf Turar Ryskulov geht die Sonne auf. Shymarbek Esdaulet sitzt auf einem Schemel in seinem Hof. Seine Beine stecken in Stiefeln aus dünnem Ziegenleder, über die er Gummigaloschen gezogen hat. Er trägt einen dicken Steppmantel. Auf dem Kopf sitzt eine Tjubiteka, eine runde Kappe aus Samt. Seine Augen sind schwach, seine Hände zittern auf dem Stock, der ihm auch als Gehhilfe dient.

Mit ruhiger Stimme spricht Shymarbek Esdaulet auf arabisch das Morgengebet. Er wiederholt es zweimal, für seinen Enkel, der vor ihm auf einem Holzschemel hockt. Mit zehn Jahren sei der jetzt alt genug, um alles zu lernen, was es über die Religion eines Kasachen zu wissen gibt, sagt Shymarbek-Ata. Ata heißt Großvater. Oder weiser Mann:

"Zu Sowjetzeiten waren Moscheen verboten. Nach dem Ende der Sowjetunion schossen die Moscheen überall wie Pilze aus dem Boden. Auch bei uns im Dorf wurde eine gebaut. Jetzt gehen alle dahin. Fünfmal am Tag beten ist Pflicht. Und am Freitag in die Moschee gehen zum Freitagsgebet."

Wenn Shymarbek Esdaulet über das Volk der Kasachen spricht, sagt er "wir Muslime". Sein Enkel nickt jedes Mal, weil er weiß, dass das von ihm erwartet wird und weil er fühlt, dass für den Großvater Religion und nationale Identität zusammengehören. In Kasachstan leben über 100 verschiedenen Ethnien mit unterschiedlichen religiösen Traditionen.

Da tut man als Volksgruppe, die dem Land seinen Namen gibt, wohl gut daran, sich besonders zu definieren, eben als Muslime. Shymarbek Esdaulet war zehn, als Kasachstan Teil der Sowjetunion wurde, so alt wie sein Enkel heute. Erst seit der Unabhängigkeit Kasachstans Ende 1991 gibt es wieder Gotteshäuser im Land. Zu Sowjetzeiten wurden Moscheen, Kirchen oder Synagogen als Getreidespeicher, Garagen, Bibliotheken, Museen oder sogar als Schwimmhallen benutzt.

Jede Beschäftigung mit Religion galt als konterrevolutionär. Inzwischen ist Shymarbek 86. Zu alt und zu schwach, um selbst in die Moschee zu gehen. Doch zum Glück steht das Haus so nah, dass er am Freitag die Gebete über Lautsprecher mithören kann. Vor jedem Gebet wäscht er sich sorgsam Hände, Gesicht und Füße, ganz wie es die Tradition verlangt. Das Wasser dafür kommt aus einer abgenutzten blauen Kanne. Die hat er schon seit fünfzig Jahren im Gebrauch:

"Zu Sowjetzeiten haben wir alle zu Hause gebetet. Die Mullahs landeten nach der Revolution im Arbeitslager. Später gab es dann keine mehr. Wir haben uns im Geheimen mit dem Koran beschäftigt. Einer von uns wusste mehr als die anderen, der war dann unser Mullah."

Inzwischen ist es kurz nach eins. In einer Stunde beginnt das Freitagsgebet, zu dem mich Askar Esdaulet, der älteste Sohn von Shymarbek und sein Enkel begleiten. Aus den Lautsprechern der nahen Moschee weht die Predigt des Mullahs über die staubigen Straßen von Turar Ryskulov. Bis vor ein paar Jahren hieß das Dorf Vanovka. Inzwischen trägt es den Namen eines kasachischen Märtyrers, der für die Einheit der Turkvölker kämpfte und später dem Stalin-Terror zum Opfer fiel.

Die Kinder auf der Straße sind diese Geschichten egal, genau wie der Ruf des Muezzins. Sie spielen Murmelweitwurf mit Flaschenverschlüssen aus Plastik oder flanieren in Grüppchen die Gasse hinunter. Ein halbwüchsiger Junge in schwarzen Lackschuhen rennt an uns vorbei. Er trägt einen feinen Blouson und ein weißes Käppi, das zeigt, dass er auf dem Weg zur Moschee ist wie wir. In seinen Ohren stecken Kopfhörer, die der Junge vor dem Eingang rasch in die Tasche stopft.

Die Moschee ist ein Flachbau mit zwei blauen Kuppeln, auf denen jeweils ein Halbmond wie eine Wetterfahne steckt. Die Wände bestehen aus Betonplatten, auf die jemand kunstvoll Suren aus dem Koran gemalt hat. Im Saal beten die Männer des Dorfes. Der Dorfpolizist starrt mich durch das Fenster böse an: Geschlossene Gesellschaft, sagt sein Blick. Frauen sind in der Moschee von Turar Ryskulov nicht zugelassen. Ich setze mich auf eine Bank hinter dem Haus. Meine männlichen Begleiter folgen mir.

Shymarbeks Sohn Askar Esdaulet hat mit Religion nichts am Hut und möchte nicht zum Gebet gehen. Er will aber auch nicht, dass die Nachbarn ihn wie einen Ungläubigen vor der Moschee herumlungern sehen. Zwar wohnt er schon seit dreißig Jahren nicht mehr im Dorf. Doch dem Ruf seines Vaters würde das Gerede schaden. So lauschen wir drei dem Mullah über Lautsprecher und schauen der kopftuch-tragenden Putzfrau zu, die auf dem menschenleeren Vorplatz mit Gummihandschuhen Müll aufklaubt.

Noch vor dem Ende des Gebets eilen die ersten Gläubigen aus dem Saal. Während sie in die Schuhe schlüpfen, stellen sie ihre Mobiltelefone an. Einer der letzten, die aus der Moschee kommen, ist ein Mann Anfang 40. Als er Askar Esdaulet auf der Bank sieht, stürmt er auf ihn zu. Dann liegen sich die beiden in den Armen. Wir waren früher Nachbarn, erklärt mir Askar, die Rowdys der Straße. Sein Freund Tulegen Kasbekov lacht. Lange her, winkt er ab. Inzwischen sei er Familienvater und ein anderer Mensch. Als ich sage, dass ich eine Reportage über Religion in Kasachstan machen will, klopft er mir auf die Schulter. Da sei ich genau am richtigen Ort. Und er sei mein Mann:

"Nach dem Ende der Sowjetunion haben sich die Menschen in Kasachstan der Religion zugewandt. Nicht nur dem Islam, auch dem orthodoxen Christentum oder dem Buddhismus. Sogar eine katholische Kirche wurde bei uns im Landkreis gebaut. Die Leute sind in Scharen in die Gotteshäuser marschiert, wahrscheinlich um ihre Sünden aus Sowjetzeiten wegzubeten."

Sünden, damit kenne sein alter Freund sich aus, sagt Askar Esdaulet, und der andere nickt. Es ist ein Leben voller Brüche, das Tulegen Kasbekov mir in wenigen Sätzen skizziert. Früher mal war er Kunstlehrer an der Dorfschule. Doch dann kam die Perestroika. Chaos und Mangel regierten. Kasbekov gründete eine Videothek mit Spielautomaten, im Krankenhaus, weil es der einzige Ort im Dorf war, an dem es rund um die Uhr Strom gab.

Es war der Beginn einer Karriere, die zielstrebig in die Unterwelt führte. Schutzgeldmafia. Menschenhandel. Raub. Die Liste seiner Vorstrafen sei lang, erklärt Tulegen Kasbekov, aber Gott habe ihn dafür gestraft. Sein ältester Sohn wurde schwer krank, die Ärzte verloren die Hoffnung. So beschloss seine Familie eine Wallfahrt nach Turkistan, zur Grabmoschee des Hodscha Sufi Ahmad. In den letzten Jahren wurde die Anlage mit Mitteln aus der Türkei renoviert. Für gläubige Muslime in Zentralasien kommen drei Pilgerfahrten nach Turkistan einer Wallfahrt nach Mekka und Medina gleich:

"Meine Großmutter meinte dort zu mir, ich müsse mich jetzt Gott anvertrauen und Buße tun, um meinen Sohn zu retten. Und eines schönen Freitags bin ich zum ersten Mal in die Moschee gegangen. Nach dem Gebet kam ich mir vor, als ob ein riesiger Staubsauger all den Schmutz aus mir herausgesaugt und in den Himmel geblasen hätte. Von meinen Schultern fiel ein ganzer Zementblock. Das war, als ob mir in meine Augen ein komplett neuer Film eingelegt worden wäre."

So begann sein neues Leben, erzählt Tulegen Kasbekov. Sein Sohn wurde gesund. Und er fand einen bürgerlichen Job. Als Manager eines Tankstellennetzes verdient er genug für seine Familie, zu der inzwischen eine Tochter und ein weiterer Sohn gehören. Tulegen Kasbekov ist zufrieden, wie Kasachstan sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Kasachstan sei jetzt eine wohlhabende Ölnation, sogar hier auf dem Dorf sei das zu spüren. Meine Bemerkung, dass das Land seit 1991 von Nursultan Nasarbajew in autokratischer Manier regiert wird, entlockt Tulegen Kasbekov nur ein Kopfschütteln. Ich solle mich doch mal umschauen bei den zentralasiatischen Nachbarn, da reiße die Serie der blutigen Aufstände nicht ab. Nein, Hauptsache Frieden. Die Freiheit, die er brauche, gebe es in Kasachstan auf jeden Fall:

"Was die Religion angeht, herrscht hier vollkommene Freiheit. Bei uns im Dorf gibt es zum Beispiel Kasachen, Türken, Deutsche, Russen, die zu den Baptisten ins Gebetshaus gehen. In der Moschee beten Türken, Kasachen, Usbeken, alle möglichen Nationen gemeinsam. Am Basar steht die orthodoxe Kirche. Dahin gehen auch Muslime, also Kasachen, nicht nur Russen oder Deutsche. Jeder sucht sich in Sachen Religion bei uns das aus, was ihm gefällt."

Auf dem Weg zurück nach Hause passieren wir einen hellblau gestrichenen Kirchenbau. Gebetshaus, steht auf Russisch über dem Tor, darunter ein Bibelspruch. Jeden Sonntag halten hier die Baptisten Gottesdienst auf Russisch und auf Kasachisch ab. Im Hof spielen Kinder Gummitwist. Fast alle haben asiatische Gesichtszüge. Es sind Kinder von Nomaden, erklärt mir Askar Esdaulet. Sie leben bei den Baptisten, um im Dorf zur Schule zu gehen.

Zu Hause ist nach kasachischer Sitte auf dem Boden eine festliche Tafel gedeckt. Weil ich der Ehrengast bin, erhalte ich einen Platz mit dem Blick zur Tür. So kann der Gast sicher sein, dass hinter ihm nicht ungesehen ein Feind auftaucht. Bis heute bestimmen die Gewohnheiten aus dem Leben der Nomaden den Alltag. Die Familie im Raum ist sich einig, dass dies ein Teil ihrer Religion ist, auch wenn nichts davon mit dem Islam zu tun hat. Es gibt feste Regeln, wer spricht. Wer schweigt. Welches Kind sich um die Eltern kümmert. Welcher Enkel welche Aufgabe im Familienverband hat. Selbst wie man eine Schwelle übertritt, ist geregelt. Viele kasachische Festtraditionen haben mit der Natur zu tun, erzählt Askar Esdaulet:

"Wenn Kasachen heiraten, springen sie zum Beispiel durch das Feuer. Das Brautpaar wird dann mit Rauch eingehüllt. Schließlich streut man Butter und Salz ins Feuer. Es werden bestimmte Gerichte zubereitet, die ihre religiöse Bedeutung haben. Auf kasachisch heißt das alles Rim. Das übersetzt man mit Formalitäten, aber das ist sehr wichtig in unserer Kultur. Für mich sind das heilige Sachen, wenn man davon etwas auslässt, dann ist es irgendwie nur halb."

Seine Rolle als ältester Sohn der Familie füllt Askar Esdaulet bewusst aus - dafür muss er viele dieser Formalitäten beachten. Obwohl er fünf Schwestern hat, ist er in den Augen der Eltern nach alter kasachischer Tradition das einzige Kind. Denn Töchter gehen nach den überlieferten Vorstellungen mit der Heirat in die Familie des Mannes über. Nur wenn der Ehemann stirbt, kehren sie zu ihren Eltern zurück. Die Jugend in der Stadt ignoriere solche Traditionen natürlich, erklärt Askar Esdaulet, der als Maler und Bildhauer in der Großstadt lebt. Aber Südkasachstan sei das Herzland der Kasachen, da sei vieles noch wie zu den Zeiten, als Nomaden durch die Steppe zogen. Dazu gehört auch, dass man das ganze Dorf bewirtet, wenn ein Familienmitglied stirbt. Und zwar nicht nur einmal.

Gemeinsam besuchen wir am nächsten Tag die 40-Tagefeier eines befreundeten Künstlers. Kasachen beerdigen ihre Toten spätestens nach 24 Stunden. Nach drei Tagen, so heißt es, verlässt die Seele das Haus des Verstorbenen, das ganze Dorf trifft dann zu einem großen Festmahl ein. Nach 40 Tagen wird seine Seele in den Himmel verabschiedet. Nach einem Jahr erinnern sich Freunde, Bekannte und Verwandte zusammen mit dem Mullah ein weiteres Mal rituell an den Verstorbenen. Es sind Traditionen, die alle Menschen in Kasachstan teilen, Muslime wie Nichtmuslime. Heute rauchen auf der Straße mannshohe Samoware. In gusseisernen Pfannen mit zwei Metern Durchmesser schmort Plov, ein zentralasiatisches Reisgericht. Im Haus betet der Mullah für Bachit, den verstorbenen Künstler. Bei ihm sitzen die Männer. Die Frauen sitzen nebenan beim Tee.

Erst als der Mullah nebenan eine letzte Gebetsformel spricht, beten auch die Frauen mit. Dann erheben sie sich rasch und gehen auf die Straße. Vor dem Haus haben die Angehörigen lange Tafeln aufgestellt, an denen die Menschen aus dem Dorf und der nahen Umgebung das Reisgericht verzehren. Heute ist hier jeder willkommen, egal ob er den Toten kannte oder nicht.

Die meisten nutzen den Anlass für einen Schwatz und packen das Essen unangerührt in ein eigens dafür mitgebrachtes Vierecktuch. Gebetet für den Toten wird auch hier. Der Mullah kommt dafür extra auf den Hof. Solche Trauerfeiern seien bis heute auch in größeren Städten üblich, allerdings in kleinerem Rahmen, erzählt Aigul Koshaewa. Sie arbeitet in der Großstadt Almaty als Übersetzerin, stammt jedoch aus einer Nomadenfamilie. Ihr Bruder lebt mit seiner Frau und drei Kindern bis heute als Viehzüchter in der Steppe:

"Also wenn wir irgendwelche Familienfeste haben, oder wenn wir Familientrauer haben, gehört das einfach zu den Traditionen unserer Familie und unseres Volkes, dass wir dabei nach den islamischen Traditionen verfahren. Wir laden einen Mullah ein, er liest sein Gebet, und da trage ich auch ein weißes Tuch auf meinem Kopf. Das gehört dazu. Aber dann endet diese Zeremonie, das ist für mich wie Theater, und ich gehe zurück in meine Familie, und mein ganz normales Leben, mein Alltag beginnt dann."

Aigul Koshaewa ist ausgebildete Künstlerin. Neben ihrer Arbeit als Übersetzerin kuratiert sie Kunstausstellungen und Kataloge. Besonders interessiert sie dabei das Verhältnis der kasachischen Künstler zum Tengrismus, der ursprünglichen Religion der Turkvölker in Zentralasien. In deren Mittelpunkt steht der Himmelsgott Tengri. Viele Elemente von Rim, den Formalitäten, die im Alltag der Kasachen bis heute eine wichtige Rolle spielen, haben ihre Wurzeln im Tengrismus, erklärt Aigul Koshaewa. Dazu gehöre zum Beispiel die Verehrung der Ahnen, die jedes kasachische Kind bis zur siebten Generation mit Namen aufzählen kann:

"Nie waren Nomaden richtige Muslime. Wir glauben an Feuer, an Himmel, denn das Nomadenleben war sehr von der Natur abhängig. Deswegen glauben wir auch an die Natur. Mehr an die Natur als an Allah. Wie viel Vieh wir haben und ob dieses Vieh genug Weiden hat und ob wir genug Milch und Nahrungsmittel vom Vieh haben. Das war viel wichtiger. Jeder Kasache glaubt, dass alles Weiße, also Milchprodukte, Käse, Kefir, heilig sind. Das ist fast Gott für uns. Das liegt innen, also ganz tief."

Der Sinn des Lebens in diesem religiösen Kosmos bestehe eben darin, mit dem im Einklang zu leben, was unter dem Himmel ist, erklärt Aigul Koshaewa. Nicht umsonst bilde das Shanyrak den Mittelpunkt der Flagge Kasachstans. Das Shanyrak stellt die stilisierte Kuppel einer Jurte dar, in deren Mitte das sogenannte Himmelsauge sitzt. Das ist das Symbol für die göttliche Verbindung zwischen Himmel, Feuer und Erde, denn durch das Himmelsauge fällt das Licht in die Jurte und damit auf die Feuerstelle und auf die Erde. Die zunehmende Islamisierung seit der Unabhängigkeit Kasachstans verdränge jedoch immer mehr die alte Kultur, sagt Aigul Koshaewa. Geopolitische Interessen von Staaten wie der Türkei, Ägypten oder Saudi-Arabien bescheren selbst entferntesten Dörfern eine Moschee, mit ausgebildetem Mullah. Türkisch-kasachische Internate erscheinen besonders kinderreichen Familien verlockend als kostengünstige Ausbildungsmöglichkeit:

"Negativ ist, dass in diesen Schulen unbedingt islamische Religion unterrichtet wird. Und das heißt, wenn sie da sechs bis zehn Jahre verbringen, dann sind sie einfach anders. Also sie gehören vielleicht schon nicht mehr ihrer Familie und ihrer Kultur, sie gehören schon der anderen Kultur. Die islamischen Staaten laden auch unsere jungen Leute ein, zum Beispiel in arabischen Ländern kostenlos zu studieren, und da ist klar, dass sie da in erster Linie Islam lernen werden."

Wie stark die ausländische Einflussnahme über den Islam ist, darüber macht sich Turan Abaidulla keine Gedanken. Der ehemalige Hausarzt von Shymarbek Esdaulet schaut jeden zweiten Tag bei seinem alten Patienten vorbei, auch wenn er schon lange nicht mehr in der Poliklinik arbeitet. Vor allem, weil er mit ihm über Religion sprechen kann. Für Doktor Abaidulla ist der Besuch in der Moschee inzwischen Teil des gesellschaftlichen Lebens. Wie Shymarbek-Ata sieht er den Islam als Kern der kasachischen Kultur:

"Bis zu meiner Pensionierung bin ich nie in die Moschee gegangen. Aber ich wohne in der Puschkinstraße, das ist gleich nebenan. Jeden Morgen höre ich den Ruf zum Gebet. Das war mir irgendwann peinlich und ich habe darüber nachgedacht, dass Gott wahrscheinlich doch existiert. Seitdem gehe ich in die Moschee."

An der Tafel der Familie Esdaulet geht es an diesem Abend hoch her: Verwandte und Nachbarn sind zusammengekommen. Aufgeregt wird über das Thema Religion diskutiert. Unvermittelt erhebt der Großvater seine Stimme. Er streckt beide Hände Richtung Himmel, die Handflächen nach oben. Alle Anwesenden lassen den letzten Bissen sinken und tun es ihm nach. Dann spricht der Großvater Bata, das Familiengebet. Er bittet um Weisheit für seinen Enkel, um dessen Gesundheit und darum, dass er ein Muslim wird, irgendwann:

"Bata, das ist so ähnlich wie die Fürbitte bei den Christen. Es ist kein Gebet in dem Sinne, sondern ein Wunsch, der vom Ältesten ausgesprochen wird. Dass alles gut wird, dass die Kinder gesund bleiben, dass man selbst gesund ist und solche Wünsche. Danach sagt man allahu akbar und Amen und die Tafel ist aufgehoben. Später kann man vielleicht noch Tee trinken, aber es gibt nichts mehr zu essen. Das ist wie ein Ritual, um die Mahlzeit zu beenden."

Der Großvater spricht weiter, unterbrochen von den anderen, die ihm immer neue Bitten zurufen, die er aufnehmen soll. Er bittet um Frieden. Um die Einheit der Kasachen. Um den Besuch der deutschen Radiohörer in Kasachstan. Schließlich führt Shymarbek-Ata die Hände zum Gesicht. Wir anderen tun es ihm gleich. Nach dem Glauben der Kasachen liegt in unseren Händen jetzt der Segen des Himmels, den wir am Ende des Bata über unsere Körper streifen.
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