Zwischen Super-Nerd und gefährlichem Freak

Monika Scheele Knight im Gespräch mit Katrin Heise · 27.05.2013
Wenn in Medien über Autisten berichtet wird, dann heißt es oft, dass sie außergewöhnliche Fähigkeiten besitzen. Das treffe aber nur für zehn Prozent der Autisten zu, sagt Monika Scheele Knight. Sie ist Mutter eines autistischen Jungen und betont, dass für die anderen 90 Prozent der Alltag eher gewöhnlich aussehe.
Katrin Heise: Der weltweit viertgrößte Softwarehersteller SAP hat angekündigt, bis 2020 ein Prozent Autisten anzustellen. Gesucht werden jedoch nur hochfunktionale Autisten für spezielle Softwarescans.

Software-Hersteller SAP will also Autisten einstellen. Autismus – das Wort wird umgangssprachlich zwar immer häufiger verwendet, aber deswegen ja nicht unbedingt verstanden. Wenn sich jemand nicht besonders um seine Wirkung auf seine Mitmenschen schert, dann wird er schon mal spaßigerweise als Autist bezeichnet.

Die WHO bezeichnet Autismus als eine tiefgreifende Wahrnehmungsstörung, Informationen werden im Gehirn anders verarbeitet. Autismus äußert sich völlig unterschiedlich, gemeinsam ist Autisten aber, dass sie nicht sozial angemessen kommunizieren können.

Ich konnte vor der Sendung Monika Scheele Knight im Studio begrüßen. Ihr Sohn John, der ist bald 13 Jahre alt, und er ist Autist. Ich habe sie anfangs auf die Suche von SAP angesprochen und gefragt, ob das was für ihren Sohn sein könnte, ob der sich später mal für so einen Job bewerben würde.

Monika Scheele Knight: Nein, also mein Sohn John, der würde in diese Kategorie überhaupt nicht reinfallen. Er befindet sich auf einem ganz anderen Ende dieses ganz großen Autismusspektrums, und mein Sohn spricht zum Beispiel nicht, und er interessiert sich auch nicht für Technologien, Computer, Software, solche Dinge, die da gefragt sind. Er ist auf diesem ganz breiten Spektrum auf dem genau entgegengesetzten Ende zu den Autisten, die da, glaube ich, gesucht werden.

Heise: Wenn wir noch mal einen Moment bei dieser Einstellungsaktion von SAP bleiben, sehen Sie das als eine Chance? Fördern die tatsächlich die Selbstständigkeit von Autisten?

Scheele Knight: Ich denke, für die Autisten, die sich tatsächlich für diese Dinge interessieren und die ihre Fähigkeiten da auch haben, ist das sicherlich eine Chance. Und da gibt es ja unterschiedliche Arbeitsagenturen, die jetzt auch sehr populär geworden sind, die versuchen, Autisten in Arbeit zu bringen, und das ist, denke ich, sicherlich ein sehr lobenswertes Streben. Allerdings ist es für mich natürlich so ein bisschen so, dass es in eine Richtung geht, die uns auch wirklich überhaupt gar nicht betrifft.

Heise: Wenn Sie Ihren Sohn noch mal ein bisschen näher uns vorstellen würden, also wie sein Alltag aussieht.

Scheele Knight: Ich habe ja schon gesagt, er kann nicht sprechen. Unser Alltag ist eigentlich so wie bei vielen anderen Familien auch, glaube ich. Er steht morgens auf und geht in die Schule und kommt nachmittags nach Hause – also er hat in dem Sinne auch einen relativ normalen Lebensalltag, und nachmittags oder am Wochenende oder in den Ferien ist es allerdings so, dass wir ihn quasi keine Minute alleine lassen können. Wenn er nicht in der Schule ist, dann ist es wirklich so, dass er mindestens eine Person, und mittlerweile aber auch eigentlich schon zwei Personen, schon bindet, indem er wirklich diese Aufmerksamkeit braucht, und man auch wirklich aufpassen muss, dass ihm nichts passiert, weil er keine adäquate Gefahreneinschätzung hat, zum Beispiel.

Heise: Keine adäquate Gefahreneinschätzung, und Sie sagen, er spricht nicht. Wie wird Ihrer Erfahrung nach, Ihrer Beobachtung nach Autismus hierzulande dargestellt?

Scheele Knight: Ich nehme es schon so wahr in den Medien, dass sehr oft über außergewöhnliche Fähigkeiten berichtet wird, und in Wirklichkeit sind es ja nur zehn Prozent der Autisten, die solche außergewöhnlichen Fähigkeiten haben. Das heißt also, im Grunde genommen werden diese zehn Prozent sehr überrepräsentiert dargestellt, und die 90 Prozent eigentlich nicht.

Und ich erfahre das in meinem Alltag auch die ganze Zeit. Wenn irgendjemand mich neu kennenlernt und hört, dass mein Sohn Autist ist, fragen die als erstes sofort: Was hat er denn für außergewöhnliche Fähigkeiten? Weil ich glaube, dass das in den Köpfen der Menschen schon so drin ist, dass das so etwas ist, was Autisten haben.

Heise: Ist allerdings doch ein positives Klischee, und ein positives Vorurteil. Macht sich das auch positiv im Umgang mit Ihren Sohn bemerkbar? Wie gehen die Leute auf ihn zu?

Scheele Knight: Das ist ganz unterschiedlich, das ist natürlich erst mal sozusagen eine positive Annahme, das stimmt. Wenn wir einfach so in der Öffentlichkeit unterwegs sind – ich sage mal, wir gehen mit ihm zum Spielplatz, oder wir gehen mit ihm irgendwo in Berlin oder woanders raus –, dann ist es schon so, dass wir auch negative Erfahrungen machen, dass Leute uns anstarren, er macht eben komische Geräusche, er hat komische Bewegungsabläufe, und das fällt sofort auf, dass er anders ist und dass er auch ziemlich schwer behindert ist, und da ist dann schon die Reaktion sehr unterschiedlich: teilweise sehr positiv, und teilweise eben aber auch negativ.

Heise: Und Sie haben den Eindruck, durch diese zehn Prozent, diese außergewöhnlichen, diese von uns ja dann auch bewunderten zehn Prozent, dass durch diese Alleinstellung quasi Sie so ein bisschen nicht wahrgenommen werden in ihren Problemen, oder das heruntergespielt wird?

Scheele Knight: Ich denke einfach, dass die Leute genau das nicht so unbedingt verstehen, dass das auch Autismus ist, sondern sie denken, sie haben ein anderes Bild vom Autismus, und das lässt sich jetzt nicht so ganz schnell in Deckung bringen mit der Tatsache, dass mein Sohn auch Autist ist. Das Verständnis dieses Spektrums ist einfach noch nicht so groß in der Öffentlichkeit.

Heise: Mit Monika Scheele Knight, Mutter eines autistischen Sohnes, unterhalte ich mich über die verschiedenen Bilder, die unsere Gesellschaft von Autisten hat, die hier vorherrschen. Ihr Sohn John ist in den USA geboren. Wie wird dort eigentlich über Autismus diskutiert?

Scheele Knight: In den USA ist Autismus ein ganz großes Thema, und auch ein wirklich allgemeingesellschaftliches Thema. Hier ist es ja eigentlich noch eher so ein Randthema, aber in den USA ist es so, dass wirklich in allen großen Zeitungen und Fernsehsendern und so weiter über Autismus berichtet wird, weil einfach die Diagnosezahlen so rasant angestiegen sind in den letzten 10, 15 Jahren, und deshalb hat sich dieses Interesse formiert, was hier in Deutschland eigentlich noch nicht so angekommen ist. Wir nehmen das noch nicht so wahr, dass diese Diagnosezahlen so stark ansteigen.

Heise: Die Diagnosezahlen haben sich durchaus auch verändert, weil die Diagnose an sich erweitert worden ist.

Scheele Knight: Genau.

Heise: Es fällt jemand unter die Diagnose Autismus, der früher als sonderbar galt und nicht unbedingt eben ein Krankheitsbild damit dann beschrieben wurde. Ist das positiv, wie Sie das in den USA erleben, dass das ein allgemeines Thema ist, oder ist dadurch vielleicht auch so ein spezielles Hingucken, dann auch wieder, jeder wird gleich abgestempelt beispielsweise?

Scheele Knight: Also ich denke, es hat positive und negative Anteile. Als positiv daran sehe ich, dass die Menschen sich tatsächlich mehr damit auseinandersetzen. Und dadurch, dass so viel darüber berichtet wurde, ist wirklich ein größeres Wissen in der Öffentlichkeit entstanden.

Andererseits ist es so, dass auch eine gewisse Panikmache eingetreten ist, dass sozusagen der Autismus epidemisiert wurde, also es wird wirklich ganz davon gesprochen in den USA, dass Autismus eine Epidemie sei, das ist etwas, was in vielen Sendungen und Artikeln besprochen wurde, wo eben nicht angenommen wird, dass dieser Anstieg an Diagnosen wirklich damit zu tun habe, dass wir jetzt genauer hingucken und dass wir anders diagnostizieren, sondern dass angenommen wird, es gibt jetzt tatsächlich mehr Autisten, was ich zum Beispiel nicht glaube. Ich glaube, unsere Aufmerksamkeit hat sich vielleicht verändert.

Heise: Auch unsere Wahrnehmung hat sich verändert, zum Beispiel durch Serien, die aus den USA kommen. Ich erinnere da nur an "Doktor House", dieser genial diagnostizierende Mediziner, der auch als Autist, als Asperger-Autist dargestellt wird oder so angesprochen wird. Ist das was Positives?

Scheele Knight: Das ist auf jeden Fall extrem stark, dass dieses Bild des Autisten in allen möglichen Medienformen jetzt vorkommt. Zum Beispiel gibt es ja diese Millennium-Trilogie von Stieg Larsson, die Lisbeth Salander ist da die Hauptfigur, die ist auch eine Asperger-Autistin. Also Autisten kommen in verschiedensten Zusammenhängen in der Literatur und in Filmen und in Serien und so weiter wirklich in den letzten Jahren sehr verstärkt vor.

Das zeigt aber eigentlich, glaube ich, auch einfach dieses gestiegene Interesse gegenüber dem Autismus, und ich nehme an, dass es damit zu tun hat, dass es gewisse Parallelen gibt zwischen der Art, wie wir heute leben, und den Defiziten und Stärken, die Autismus ausmacht. Irgendwie ist es so ein bisschen so ein Zeichen unserer Zeit geworden.

Heise: Was meinen Sie damit?

Scheele Knight: Es gibt sehr, sehr viele Überschneidungen, also wir können uns heute mit ganz vielen Dingen identifizieren, die eigentlich ein Autist auch hat, zum Beispiel Reizüberflutung. Für Autisten ist es sehr üblich, dass sie Reizüberflutung wahrnehmen, und dass sie Schwierigkeiten haben, mit Reizen umzugehen, dass es Ihnen leicht zu viel wird, und dass sie zum Beispiel sehr empfindlich sind, was Hören angeht, was Sehen angeht und so weiter.

Und Reizüberflutung ist auch ein Thema, mit dem sich heute jeder identifizieren kann, weil wir den ganzen Tag mit Informationen bombardiert werden, und im Prinzip ist das sozusagen so eine Gemeinsamkeit. Und deswegen kann man sich in einen Autisten, glaube ich, heute auch vielleicht ein bisschen mehr reinversetzen, weil man selber auch viele dieser Dinge kennt.

Heise: Der Alltag eines Autisten, der Alltag eines "normalen" Autisten, sage ich jetzt mal, jetzt keinem Hochbegabten, der interessiert allerdings dann wiederum nicht so sehr. Die Erfahrung haben Sie gemacht, Sie haben nämlich die Lebensgeschichte bisher Ihres Sohnes, die Erfahrung, die Alltagsgeschichte Ihres Sohnes aufgeschrieben, sind an Verlage herangetreten, das hat niemanden interessiert. Jetzt verlegen Sie das Buch selbst im Internet. Was hat man Ihnen da zur Antwort gegeben, wenn Sie nachgefragt haben?

Scheele Knight: Da kam eigentlich oft so etwas, erstens mal, das wäre so ein Randthema, das ist so eine Minderheit, die gar nicht so ein großes öffentliches Interesse abdeckt, das ist dann eben noch etwas, was hier sehr anders ist als in den USA, und dann kam eben auch dieses Argument, dass Autismus eigentlich sehr faszinierend sei, aber diese Faszination jetzt in dieser bestimmten Art nicht rüberkommt, und ich denke, dass es damit zusammenhängt, dass mein Sohn eben keine außergewöhnlichen Fähigkeiten hat, und dass er nicht spricht, und dass es wirklich sehr schwer darzustellen ist, wie er lebt und wie wir leben. I

ch habe das im Schreiben dieses Buches auch festgestellt, dass es wirklich schwer ist, das zu transportieren, wenn jemand selber nicht spricht. Ich kann auch nicht für meinen Sohn sprechen. Ich weiß nicht, was er denkt, ich weiß nicht, wie er fühlt, ich kann das beobachten, und ich kann vielleicht auch Vermutungen anstellen, ich kann manchmal wirklich sehen, dass er sehr glücklich ist, oder ich kann manchmal sehen, dass er sehr traurig ist, wenn er viel lacht oder viel weint, aber es ist alles sehr ... also es sind immer Vermutungen, und es gibt auch so ganz viel zwischen diesem unbändigen Lachen oder der unbändigen Traurigkeit, da gibt es vieles, was man gar nicht so richtig interpretieren kann.

Und insofern ist es schon wirklich schwierig, und ich glaube, es ist einfacher, über jemanden zu schreiben, der außergewöhnliche Fähigkeiten hat, weil es sozusagen unmittelbar faszinierend ist.

Heise: Welche Darstellung von Autismus wünschen Sie sich in der Öffentlichkeit?

Scheele Knight: Ich wünsche mir eigentlich, dass dieses große Spektrum abgebildet wird, weil ich denke schon, dass die außergewöhnlichen Fähigkeiten auch interessant sind, aber ich denke, oder würde mir wünschen, dass man wirklich dieses gesamte Spektrum irgendwann sieht und alle Autisten betrachtet und sagt: Okay, sie können vielleicht an dem einen Ende des Spektrums sein oder an dem anderen Ende oder irgendwo in der Mitte, aber dass man Autismus einfach als so ein breitgefächertes Spektrum wahrnimmt.

Heise: Ihr Buch wird einen Aspekt auf jeden Fall beleuchten. "Tomorrow Can Wait" heißt es oder wird es heißen – "Morgen kann warten" –, das Buch von Monika Scheele Knight über ihren autistischen Sohn John. Im Internet wird es voraussichtlich in dieser Woche noch in englischer Sprache online gestellt werden. Frau Scheele Knight, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!

Scheele Knight: Gerne, danke!

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