Zwischen Größenwahn und Heulanfällen

14.11.2011
Gabriel will abtreten, aber mit einem richtig großen Knall. Er ist Mitte 20, er sitzt in einer Entzugsklinik, er hat sein Leben gegen die Wand gefahren. Seine geplante Selbstabschaffung soll ihm einen letzten Rausch der Freiheit verschaffen, weil er kurz vor dem Selbstmord nichts mehr zu verlieren hat. Das glaubt Gabriel zumindest.
Die britische Literatur bringt öfter solche Typen hervor, die wie Gabriel zwischen steilem Snobismus und schmuddliger Ärmlichkeit, zwischen Größenwahn und Heulanfällen hin und her wanken. Der schnoddrige, hysterische, überdrehte Gabriel ist aber genauso ein typischer DBC-Pierre-Held.

Seit seinem Erstling "Jesus von Texas", der prompt mit den angesehensten britischen Buchpreisen ausgezeichnet wurde, lässt DBC Pierre seine Romanfiguren in einer exzessiven und poetischen Sprache auf die Welt los. Seine "Jesus von Texas"-Satire hat die Fratze der amerikanischen Mediengesellschaft vorgeführt, auch der neue Roman hat eine Mission, eine noch viel größere: Das System Kapitalismus entblößen. Dafür wird Gabriel in die Welt der schamlos dekadenten Event-Gastronomie katapultiert.

DBC Pierre setzt einen irrsinnigen Plot in Gang, der von der Londoner Drogenklinik über japanische Edellokale bis in die Katakomben des Berliner Flughafens Tempelhof führt. In Tokio will sich Gabriel mit seinem alten Saufkumpan Smut noch einmal richtig die Kante geben, bevor er seinen Abschied von dieser Welt nimmt. Smut ist ein aufstrebender Koch, in seinem Restaurant bekommen Business- und Mafiatypen mit giftigen Kugelfischen den kulinarischen Oberkick verpasst. Leider füttert Smut einen Mafiaboss mit dem falschen Fischteil, der Mann ist hin und Smut in größter Gefahr. Gabriel muss nun doch weiterleben, um seinen Freund herauszuhauen. Das aber geht nur in Berlin.

Der in Australien geborene, in Mexiko aufgewachsene, heute in Irland und London lebende DBC Pierre kennt sich in Berlin bestens aus, denn auch dort war er schon mal zu Hause. "Das Buch Gabriel" wird im zweiten Teil mit vielen präzise gezeichneten Schauplätzen zu einem veritablen Berlin-Roman, in dem Pierre die Stadt zur liebenswürdigsten, weil unökonomischsten aller westlichen Hauptstädte verklärt.

In den Katakomben des Tempelhofer Flughafens findet nun die Mutter aller Ausschweifungen statt, ein überbordendes Bacchanal, zu dem die größten Übeltäter des Finanzkapitalismus eingeflogen werden. Gabriel muss hier mittun, um seinen Freund Smut in Tokio freizukaufen, praktischerweise kann er dabei gleich einen Rachefeldzug gegen die feiernden Finanzhaie planen. Dass ihm dabei ausgerechnet ein sympathischer früherer Stasimann helfend beiseite steht, kann einen kaum noch überraschen.

Die Handlung ist aberwitzig, aber das stört nicht weiter in diesem freisinnig zwischen Thriller und Klamotte, Anklageschrift und Dekadenzschinken schillernden Roman. Der bildersatte und expressive Sound trägt auch über die ärgsten Unwahrscheinlichkeiten hinweg. Die Übersetzerin Kirsten Riesselmann hat die aufgeheizten Sprachspiele von DBC Pierre in ein energiegeladenes, unverschämtes Deutsch gebracht. Am Ende schlägt der Roman einen letzten Haken, sodass womöglich auch Gabriels Selbstmord ausfallen könnte.

Besprochen von Frank Meyer

DBC Pierre: Das Buch Gabriel
Roman
Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011
378 Seiten, 19,95 Euro