Zwischen Erkenntnisernst und genussvoller Albernheit

25.08.2012
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat seine Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 2008 bis 2011 veröffentlicht. Zwischen Zeit- und Selbstdiagnose, Hochmut und Demut pendelnd, sind "Zeilen und Tage" das grandiose Werk eines eigenbrötlerischen und zugleich exemplarischen Intellektuellen.
"Was zählt, ist das gut Gesagte", hat Peter Sloterdijk im Januar 2011 notiert. Seinen Verächtern wird die Parole wie eine unfreiwillige Selbstbezichtigung vorkommen, scheint sie doch zu offenbaren, dass der Karlsruher Philosoph ein sophistischer Lautsprecher ist. Sloterdijk seinerseits spöttelt, die dunkle Hälfte seines öffentliches Profils sei "ein anmaßendes Unding, ein Hybrid aus Dieter Bohlen, Muammar al Gaddafi und Carl Schmitt". Gleichzeitig sieht er sich durch die Fülle von Einladungen und Auszeichnungen als international bedeutender Denker etabliert - auch das sicher zurecht.

Wer in "Zeilen und Tage" indessen nur nach Argumenten für oder gegen den Autor sucht, verpasst viel. Ja, Sloterdijk gefällt sich im Blick auf den Kulturbetrieb bisweilen in Schopenhauerhafter Boshaftigkeit. Er liefert Indiskretionen und intime Bekenntnisse, auch den eigenen Unterleib betreffend. Wie allseits bekannt, mag Sloterdijk hübsche Dekolletés, luxuriöse Hotels, Radsport in echt und Fußball im TV, gutes Essen, guten Wein, gute Filme usw.

Auf Gipfelhöhe aber gelangt Sloterdijk, wenn helles Bewusstsein, präzise Weltbeobachtung und der notorisch abrufbare Bilder- und Bildungsreichtum zu originellen Gedanken und originellen Formulierungen gerinnen - was bei ihm fast das Gleiche ist. "Man fährt mit aller Kraft voraus - und will das Kielwasser verbieten", schreibt Sloterdijk über die Sehnsucht nach Gewinnchance ohne Verlustrisiko. So drückt man eine Paradoxie aus!

Sloterdijk hat unter seinen Tagebuch-Notizen aus vier Jahrzehnten den Band 100 ausgewählt (2008-2011). Er hat ihn gekürzt und gemäß dem Vorsatz nachbearbeitet, "vom Amüsanten mehr zu übernehmen als vom Peinlichen". Vom Alltagsgrau ungelifteter Tagebücher blieb keine Spur zurück. Stattdessen: nervöse Zeitgenossenschaft, politische Urteilsfreude, stramme Besserwisserei, kulturhistorische Tiefe. Und immer: Spaß an Sprachspielen, sei es aus Erkenntnisernst oder genussvoller Albernheit. Zahllose Anekdoten und Aphorismen unterbrechen kleine kluge Essays.

Sloterdijk verteidigt die Idee, Steuern durch Geschenke zu ersetzen. Als Dauer-Reisender gibt er Berlusconis Italien aber auch Ungarns Frauen der Lächerlichkeit preis. Er greift den späten Goethe an und diktiert Heidegger posthum, wie "Sein und Zeit" zu schreiben gewesen wäre. Die Freunde Peter Weibel und Boris Groys werden in zärtliche Semantik gebettet, Slavoi Žižek auf dem Nagelbrett der Stichelei gequält. Christian Wulffs Sentenz vom Islam, der zu Deutschland gehöre, wird völlig zerfetzt. Und es funkeln nietzscheanische Aperçus, die den Habermasens dieser Welt sauer aufstoßen:

"Wahrheit ist nicht eine Eigenschaft von Sätzen, sondern von Sommertagen."

Zwischen Zeit- und Selbstdiagnose, Angriff und Ermattung, Hochmut und Demut pendelnd, sind "Zeilen und Tage" das grandiose Werk eines eigenbrötlerischen und zugleich exemplarischen Intellektuellen. Sloterdijk verzeichnet lakonisch-bewegt Sterbefall um Sterbefall und behält die eigene Endlichkeit fest im Auge. So nistet zwischen den Zeilen oft Melancholie. Dass der "Weltallergiker" aber einmal seufzt: "Nie wieder Diskurs" - das muss man nicht ernst nehmen. Näher bei sich ist Sloterdijk, wenn er konstatiert: "Ich überreagiere, also bin ich."

Besprochen von Arno Orzessek

Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage. Notizen 2008-2011
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
639 Seiten; 24,95 Euro