Zwischen Determination und Willensfreiheit

Rezensiert von Jörg Plath · 12.04.2006
Eric Kandel erhielt im Jahr 2000 - zusammen mit zwei anderen Kollegen - den Nobelpreis für Medizin. In seinem Buch "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" geht der Wissenschaftler der Frage nach: Wie funktioniert der menschliche Geist? Dazu beschreibt Kandel die materiellen und biochemischen Grundlagen des Bewusstseins und führt den Laien in die Welt der Synapsen und Transmitter ein.
Als Neunjähriger emigrierte Erich Kandel 1939, ein angsterfülltes Jahr nach der so genannten Reichskristallnacht, mit seinen jüdischen Eltern aus Wien nach New York. In der neuen Heimat nannte er sich Eric Kandel und begann Geschichte zu studieren, um die Ereignisse zu begreifen, die ihn aus seiner Heimat vertrieben hatten.

Im Jahr 2000 erhielt Kandel zusammen mit zwei Kollegen den Nobelpreis – für Medizin. Wie er von der Geistes- zur Naturwissenschaft gelangte und ein äußerst erfolgreicher Wissenschaftler wurde, erzählt Kandel in seinem Buch "Auf der Suche nach dem Gedächtnis". Es ist eine seltene Mischung aus Autobiographie und Forschungsbericht und eine streckenweise spannend zu lesende, oft luzide Einführung in die Hirnforschung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Denn Kandel vermag als überzeugter Reduktionist Fragestellungen gewaltigen Ausmaßes – Wie funktioniert der menschliche Geist? Was sind die materiellen, biochemischen Grundlagen des Bewusstseins? – in kleinste, experimentell nachprüfbare Schritte herunter zu brechen. Sein Prinzip, "eine Zelle zur Zeit" zu untersuchen, liefert Bahn brechende Ergebnisse. Weil Kandel außerdem klar und plastisch schreibt, vermögen auch naturwissenschaftliche Laien seinen komplexen, manchmal allerdings zu detaillierten Darlegungen über Synapsen, Transmitter und Proteinkinase A zu folgen.

Zugänglich erscheint "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" auch, weil Kandel mit den Schriften von Sigmund Freund, Immanuel Kant und René Descartes vertraut ist. Der immer wieder versuchte Brückenschlag zwischen Geistes- und Naturwissenschaft dürfte der Grund dafür sein, dass sich der Wissenschaftler in der seit Jahren lautstark geführten Diskussion zwischen Neurobiologen und Philosophen über Determination und Willensfreiheit nicht auf die eine oder die andere Seite schlägt. Allerdings glaubt er als Materialist an neuronale Entsprechungen des Geistes und als experimentierender Naturforscher an den schlussendlichen Erfolg seiner Suche nach ihnen.

Kandels Forschungen beginnen auf der kleinsten Ebene, der der Nervenzelle mit ihren Synapsen. Sie stammen von einem wirbellosen Tier, von dem ihm die "Säugetier-Chauvinisten" seiner Zunft dringend abraten, weil es geistlos sei. Die Meeresschnecke Aplysia ist so groß wie eine kleine Katze, sie besitzt wenige, praktischerweise große Nervenzellen – und sie ist überraschend lernfähig. Kandel und seine Kollegen erforschen an ihr die elektrische und chemische Reizleitung in den Nervenzellen. Sie finden heraus, wie nach wiederholten Berührungen der empfindlichen Haut über den lebenswichtigen Kiemen aus dem Kurzzeitgedächtnis das Langzeitgedächtnis hervorgeht: indem die Neuronen, die Nervenzellen, zusätzliche Synapsen ausbilden. Die weitere Forschungsarbeit verlagert sich auf die chemischen Prozesse, die die neuen Synapsen stabil erhalten, und auf die Verschaltung der Neuronen. In den angeborenen Schaltkreisen der Nervenzellen erkennt Kandel die Kantsche Erkenntnis a priori.

In der zweiten Hälfte des Buches tritt die Autobiographie stark zurück. Sie wird ohnehin nur in großen Zügen erzählt – so erstaunlich Kandels Einblicke in die Funktionsweise der Nervenzellen sind, so unerklärlich bleibt auch ihm die Fähigkeit des menschlichen Gedächtnisses zur Zeitreise. Ebenso unhinterfragbar ist seine Liebe zur Heimatstadt Wien, wo ihm bei Besuchen des öfteren Salon-Antisemitismus entgegenschlägt.

In der Forschung steigt der Reduktionist von den kleinsten Einheiten, den Zellen, auf zu größeren und wird dabei immer allgemeiner. Euphorisch äußert er sich über die neuen Möglichkeiten, das aktive menschliche Gehirn zu untersuchen. Kandel ist optimistisch, dass für Schizophrenie, Depression, Alzheimer und andere Krankheiten Therapien gefunden werden können. Ihre Ursachen seien noch unbekannt, doch so andersartig als die bereits bekannten elektrischen und biochemischen Vorgänge in den Nervenzellen könnten sie nicht sein. Denn die Natur, so hat Kandel immer wieder herausgefunden, ist nicht erfinderisch, sondern eine große Wiederverwerterin. Wie viel Systematik, Beharrlichkeit und Einfallsreichtum es dennoch braucht, um ihr auch nur einige einfachere Tricks abzulauschen, zeigt dieses erstaunliche Buch.

Eric Kandel: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes
Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober
Siedler Verlag. München 2006
524 Seiten, 24,95 Euro