Zwischen Demut und Lebenshunger

Von Bernd Sobolla · 19.03.2011
Der Trappisten-Mönch Rafael Arnáiz Barón starb 1938 und wurde 2009 heiliggesprochen. Schwester Ingrid widmet sich ihm seit Jahrzehnten. Maria Morh folgt in ihrem Dokumentarfilm ihrer Tante Schwester Ingrid auf den Spuren Rafaels.
Als 11-Jährige wollte die Filmemacherin Maria Mohr, 1974 geboren, selbst Nonne werden. Für ihren Film "Bruder Schwester" hat sie nun einige Zeit im Kloster gelebt, und ihre Tante, die Ordensschwester Ingrid, auf einer Spanienreise zu den Lebensorten eines Mönchs begleitet. Schwester Ingrid hat es sich zum Ziel gemacht, Bruder Rafael Arnáiz Barón bekannter zu machen. Vor rund 30 Jahren las die Nonne einige Texte des Trappisten-Mönchs, war begeistert von seinen Worten über Jesus, Liebe und Hingabe. Und so begann sie, diese ins Deutsche zu übersetzen und zu veröffentlichen. Aus einer privaten Begeisterung wurde eine Berufung, eine außergewöhnliche Liebe, wie es Maria Mohr nennt:

"Sie ist mit diesem Buch in der Hand losgezogen und hat Vorträge gehalten: Diavorträge, Radiovorträge, Fernsehvorträge und ist damit gereist. Also wenn sie über ihn spricht, dann ist es so, als hätte sie ihn wirklich gekannt. Und das ist sehr bemerkenswert. Und das ist das, was auch immer überspringt auf die Leute. Und da war für mich die Frage: Wo kommt das denn her? Wo kommt diese Begeisterung her? Wie kann jemand, der gestorben ist, bevor sie geboren wurde, sie so entflammen?"

Bemerkenswert ist vor allem, wie die Filmemacherin diese Geschichten in ihren eigenen Familienkontext setzt: Ihre Tante Ingrid und deren leiblicher Bruder, also der Vater der Regisseurin, wuchsen im Nachkriegsdeutschland in einem strengen katholischen Elternhaus auf. Und beide wollten ins Kloster gehen.

"Für die Geschwister war das Kloster ein Sehnsuchtsort. Ein Ausbruch aus der erdrückend strengen Familie. Und doch im Einklang mit deren religiösen Idealen."

Während Ingrid ihr Seelenheil bei den "Schwestern vom armen Kinde Jesus" fand, verließ ihr Bruder das Kloster bald wieder und gründete eine Familie. Sein Sohn Matthias, der Bruder der Filmemacherin, erkrankte an einer Muskelschwäche und starb mit 23 Jahren. Die einzige längere Reise, die Matthias je unternahm, führte ihn ins Kloster San Isidro de Dueñas nach Palencia. Dorthin, wo auch Rafael 60 Jahre zuvor gelebt hatte.

Rafael Arnáiz Barón wurde als Kind einer wohlhabenden spanischen Adelsfamilie geboren, besuchte zwei Jesuitenkollegs im Norden Spaniens und begann 1930 in Madrid Architektur zu studieren. Vier Jahre später trat er als Novize in das Trappisten-Kloster San Isidro de Dueñas ein. Im selben Jahr erkrankte er an Diabetes und musste das Kloster verlassen, kehrte aber 1936 wieder zurück. Zwei weitere Male musste Bruder Rafael das Kloster aus gesundheitlichen Gründen verlassen, ehe er dort 1938, im Alter von 27 Jahren starb. In seinem Tagebuch heißt es unter anderem:

"Zögere nicht, Herr! Dein Diener Rafael hat es eilig, bei Dir zu sein, Maria zu sehen … Welch herrliche Profess werde ich am Tag meines Todes ablegen! Ewige Gelübde der Liebe für immer …, immer!"

Texte wie dieser oder auch ein Foto, das Rafael lächelnd auf Eisenbahnschienen liegend zeigt, deuten es an: Schon früh freundete sich Rafael mit dem Tode an. Maria Mohr deutet dies noch differenzierter:

"Man kann es auch anders herum betrachten: Als Sehnsucht nach dem Tod. Und damit spielt er oder kokettiert er in dem Foto, wie es so junge Menschen gerne mal tun. Aber ich glaube, Jahre später, seine Haltung als Mönch ist gar nicht so anders. Eigentlich liebt er diese Idee, dann im Sterben sich von diesem Körper zu verabschieden und dann in einen anderen Zustand überzugehen."

Nicht nur Rafael entschied sich in seiner Familie für das Klosterleben, sondern ebenso seine Schwester, ein Bruder sowie eine Tante, mit der ihn eine große Liebe verband. Der Film "Bruder Schwester" handelt zum einen von der Sehnsucht, ein geistliches Leben zu führen. Aber es geht ebenfalls um Zweifel und Skepsis an der eigenen Berufung. Sie überkamen auch Rafael, der ein Lied darüber schrieb. Darin bittet er die Mutter Gottes um Beistand.

Zweifel überkamen einst auch Schwester Ingrid:

"Bis mir eine Schwester dann einmal sagte: 'Ja, wir können unser ganzes Leben lang zweifeln. Und dann geschieht gar nichts. Dann zweifeln wir immer nur: Ja, aber und wenn … Irgendwann mal sagen: So, jetzt entscheide ich mich für eine Sache, und die ziehe ich dann durch.' Dann habe ich gedacht: 'Ja, hat eigentlich recht.'"

"Bruder Schwester" wirkt auf mehreren Ebenen: Zum einen schildert der Film, wie sich die Sehnsucht nach Gott durch zwei völlig unterschiedliche Familien wie ein roter Faden zieht. Einmal in Spanien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, einmal im Nachkriegsdeutschland. Dann zeigt er, mit welchem Gottvertrauen einige Menschen – in diesem Fall sowohl Rafael als auch Matthias, der Bruder der Filmemacherin – sich dem nahen Tod anvertrauen. Und zum Dritten handelt er von familiären, geistigen und spirituellen Bruder-Schwester-Beziehungen.

Wobei sich Schwester Ingrid und Bruder Rafael nie begegnet sind. Und schließlich geht es auch um die Auseinandersetzung zwischen der Filmemacherin und ihrer Tante, weil jede die Lebensführung der anderen in Frage stellt. Das geschieht in wunderbar nachdenklich essayistischer, ja, manchmal sogar poetischer Form. Was dem Film nicht gelingt, ist herauszuarbeiten, worin sich Bruder Rafael eigentlich von anderen Heiligen unterscheidet: Zu kurz war sein Leben, um eine eigenständige Lehre zu hinterlassen, zu krank sein Körper, um wirklich aufopfernd für Andere zu arbeiten. So vermittelt der Film zwar nicht, dass Heilige geschaffen werden, wo Menschen ihren Projektionen freien Lauf lassen, aber er schließt diese Schlussfolgerung nicht aus.