Zuzugssperre für anerkannte Flüchtlinge

"Wir brauchen doch Menschen in Pirmasens"

Passanten gehen durch die Fußgängerzone von Pirmasens in Rheinland-Pfalz
Durch den Zuzug von Flüchtlingen, habe sich auch die Innenstadt von Pirmasens wieder belebt, sagen Bewohner. © picture alliance/ dpa/ Oliver Dietze
Von Anke Petermann · 03.04.2018
Günstige Wohnungen und freie Kita- und Schulplätze - viele Flüchtlinge zogen deshalb nach Pirmasens. Zu viele, befand die Stadt und ließ einen Zuzugsstopp verhängen. Ehrenamtliche halten dagegen: Die Stadt brauche mehr Zuwanderer.
Warum so viele Flüchtlinge nach Pirmasens ziehen? Die pensionierte Lehrerin Karola Streppel, baut die Frage in ihren ehrenamtlichen Sprachkurs für syrische Flüchtlingsfrauen ein. Sanaa Harb muss nicht lange überlegen:
"Mein Mann war in Ludwigshafen: keine Wohnung in Ludwigshafen. Ein arabischer Freund hier sagte, 'hier in Pirmasens gibt es viele Wohnungen'."
Harb lebt seit einem Dreivierteljahr in Pirmasens. Die Stadt in der Westpfalz verlor mit dem Niedergang der Schuhindustrie Fabriken, Jobs und Einwohner. Sie schrumpfte um ein Drittel auf knapp über 40.000. Hohe Arbeitslosigkeit, viel Kinderarmut. Der massive Wohnungsleerstand und günstige Mieten locken Flüchtlinge an. Inzwischen leben hier doppelt so viele, wie Pirmasens laut Zuteilungsquote aufnehmen müsste. Für diejenigen, die da sind, heißt das: endlos warten auf Sprachkurse und Kita-Plätze, wenig Chance auf Arbeit. Sanaa Harb fühlt sich trotzdem wohl, ihr Mann hatte unlängst ein erstes Vorstellungsgespräch. Ihre beiden Töchter kommen auf der Grundschule gut klar, die ältere wechselt demnächst aufs Gymnasium.
"Und das macht mich sehr glücklich."
Die Englischlehrerin, geflohen aus Sueida im Süden Syriens, strahlt. Die anderen Frauen können noch nicht so gut Deutsch.
Und weil so viele Flüchtlinge in Pirmasens lebten, ergänzen sie, sprächen sie mehr Arabisch als in den kleinen Orten, aus denen sie wegen schlechter Busanbindung und nicht erreichbarer Kinderärzte weggezogen sind. Karola Streppel schaltet sich ein. Da sei doch dieser Frauenabend am kommenden Samstag, organisiert vom Arbeitskreis Christentum und Islam.
"Da könnt ihr auch Deutsch sprechen. Nur erzählen, einfach kennenlernen."
Und ganz nebenbei von türkischstämmigen Frauen erfahren, wie diese sich integriert haben, wo es hakte und wie es dennoch gelang.
"Ja, das ist sehr gut!"
Wo in Pirmasens ein Integrationsproblem auftaucht, packen Ehrenamtliche an, es zu lösen.
"O.k. Gut – bis Samstag!"
Die Kraft der Zivilgesellschaft in der gebeutelten Stadt - erstaunlich. Die AWO eröffnet demnächst ein Café International, die Diakonie ein Begegnungszentrum in der leerstandsgeplagten Fußgängerzone.

Stricken auf Pfälzisch und Arabisch

Der Verein "Knüppe und Knote", hochdeutsch 'knüpfen und knoten', lädt Flüchtlingsfrauen zum gemeinsam Stricken ein. Die städtische Wohnungsgesellschaft "Bauhilfe" hat ein Konfliktmanagement eingeführt: Die Deutsch-Marokkanerin Nadia Krautwurst vermittelt zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, die in den vielen bis dato leerstehenden Wohnungen leben. Und macht klare Ansage, auch auf Arabisch.
"'Also, ab zehn Uhr muss Ruhe! Sonntags müsst ihr auch nicht immer wild sein!' Weil sonntags ist für die Flüchtlinge, für alle Ausländer: Da kommt die ganze Verwandtschaft und erzählt so laut. Aber für andere Mitbewohner ist das zu viel. Und ich versuche, Verständnis zwischen den beiden zu vermitteln."
Das gelinge oft, es entstehen nachbarschaftliche Beziehungen.
"Manchmal, wenn sie Fest haben – denn sie feiern sehr gern – sage ich: 'Die direkten Nachbarn laden wir eben ein!' Und das haben auch ein paar Leute gemacht und da funktioniert 's wunderbar!"
Doch insgesamt funktioniert es in Pirmasens alles andere als wunderbar, da ist sich die Stadt-Spitze mit dem rheinland-pfälzischen Städtetag einig. Der vom Land verhängte Zuzugsstopp soll unter anderem Ehrenamtler vor Überlastung schützen. Renate Edrich und Gudrun Veit betreuen die Kinder der syrischen Kursteilenehmerinnen, sie winken ab.
"Wir brauchen doch Menschen in Pirmasens."
"Von ausgebrannt kann keine Rede sein!"
"Ich find' das für Pirmasens ein Fehler, diese Zuzugssperre, denn Pirmasens fängt an zu leben. Wenn sie heute in die Fußgängerzone gehen, ja - wir sehen viele ‚Fremde‘, aber wenn sie vor zwei oder drei Jahren in die Fußgängerzone gegangen sind, war die Fußgängerzone tot. Wir brauchen doch eigentlich Menschen in Pirmasens!"

Ist die Integration gefährdet?

Die Ex-Frankfurterin ist aus der früheren Heimat eine hohe Migranten-Quote gewohnt. Die angeblich ausgebrannten Ehrenamtlichen - eine Schutzbehauptung? Von konservativen Kommunalpolitikern nur aufgestellt mit dem Ziel, der widerstrebenden grünen Integrationsministerin eine Sperre abzuringen? Bürgermeister Markus Zwick, CDU, schüttelt energisch den Kopf. Der überdurchschnittlich starke Zuzug von Flüchtlingen vor allem in die Kernstadt habe dazu geführt, …
"dass wir in bestimmten Schulen und Kindergärten tatsächlich eine Situation erreicht hatten, und nicht nur dort, bei der die Integration konkret gefährdet war, obwohl die Leute dort sehr engagiert und motiviert sind."
Jetzt hofft Zwick, dass Flüchtlingskinder früher einen Kita-Platz bekommen und zur Einschulung das Deutsche schon beherrschen. Der Stopp dämpft die Probleme, bekräftigt Wolfgang Neutz, Geschäftsführer des rheinland-pfälzischen Städtetags:
"Denn eines muss man sehen: Wenn das auch Zuzugssperre heißt, bedeutet das ja nicht, dass gar keine Flüchtlinge mehr beispielsweise nach Pirmasens kämen. Die nach der Normalquote aufzunehmenden Asylbewerber muss die Stadt Pirmasens auch weiter aufnehmen. Es geht nur darum, einen Zuzug, der über diese festgelegte Grenze hinausgeht, jetzt zunächst mal zu stoppen."
"Hier ist der Kopf, da sind die Zehen."
Im Evangelischen Lutherkindergarten unweit vom Rathaus stehen 100 Kinder auf der Warteliste. Daniela Kroiss leitet die Kita.
"Wir haben 65 Kinder in der Einrichtung."
Zu etwa 80 Prozent mit Migrationshintergrund - in deutschen Metropolen keine Ausnahme, in Pirmasens schon.
"Es sind auch ganz viele Kinder Transferleistungsempfänger, und so geschätzt etwa zehn Flüchtlinge."
Wie die vierjährige Marwa aus Afghanistan. Sie ist seit zwei Jahren da und macht lebhaft mit.
"Hier ist der Kopf, da sind die Zehen."
"Also, Spiele und Lieder, die immer wiederholt werden, da lernen sie zählen, die Monate die Jahreszeiten."
Allerdings braucht es dazu immer Anleitung, ergänzt Kita-Chefin.
"Dadurch, dass wir viele Kinder aus schwierigen Verhältnissen haben und sehr viele Kinder mit Migrationshintergrund oder Flucht-Erfahrung, dadurch ist die Sprachentwicklung hintendran. Das ist insofern schwierig, als die Kinder nicht voneinander lernen, sondern immer jemanden brauchen wie eine Erzieherin oder eine Lesepatin, die sich mit ihnen mit der Sprache intensiv beschäftigt."

Zu wenig Plätze, zu wenig Personal

Der Zuzugsstopp, findet Kroiss, sei zu flankieren durch einen verbesserten Personalschlüssel. Außerdem mehr Sprachförderung, nicht nur alltagsintegriert, sondern auch in personalintensiven Kleingruppen. Drei Erzieherinnen in der Luther-Kita sind Sprachförderkräfte, eine Fachkraft Sprache finanziert der Bund über ein spezielles Programm.

Dennoch reiche es nicht. Und:
"Es gibt definitiv zu wenig Kita-Plätze, und das kann die Stadt nicht allein stemmen, da brauchen wir auch das Land mit ihm Boot, dass die finanziell noch unterstützen."
Lässt das Landesbildungsministerium die Pirmasenser Kitas mit ihrem hohem Migrationsanteil hängen? Rheinland-Pfalz hat das Gesamtbudget für zusätzliche Sprachförderung im vergangenen Förderjahr um eine halbe Million Euro erhöht, bis zu 6000 Euro mehr pro Jahr entfallen bis 2019 auf Pirmasens, rechnet ein Sprecher auf Anfrage vor.

Zurück zum Frauen-Sprachkurs im Nachbarschaftsladen PS Patio. Kurzer Plausch der ehrenamtlichen Flüchtlingshelferinnen. Die Zuzugssperre allein löst keine Probleme, das sind sich die drei einig. Was jetzt ansteht?
"Nicht zu sagen, 'es geht gar nichts mehr', sondern zu sagen, 'alle Themen, die zum Teil alt sind, müssen auf den Tisch' – dann wäre es noch für was gut",
… meint Karola Streppel. Zu den alten ungelösten Problemen gehörten fehlende Sprachkurse für Mütter. Außerdem zu bürokratische Anforderungen an Hilfskräfte. Gebraucht würden Menschen aller Qualifikationen, die sich um Kinder mit besonderem sozialen oder Sprachförderbedarf kümmern, egal welcher Herkunft. Dafür könne man bereits integrierte Flüchtlinge einbinden, müsse aber auch Honorare locker machen. Denn:
"Die Menschen, die hier sind, sind hier. Und dass es die Probleme gibt, war einfach schon länger klar. Und da mein' ich: an einen Tisch setzen, hören, was kann man tun. Das hätte aus meiner Sicht schon früher passieren sollen."

Zuzugssperre auch in anderen Städten

Der Städtetag Rheinland-Pfalz dagegen sieht in der Zuzugssperre keine heikle Notlösung, sondern einen willkommenen Problem-Puffer. Deshalb findet Geschäftsführer Neutz den Stopp allein für Pirmasens unzureichend.
"Weil wir der Überzeugung sind, wir werden auch in anderen Städten ähnliche Situationen vorfinden, die die Verhängung einer Zuzugssperre entweder jetzt oder zu einem späteren Zeitpunkt notwendig machen wird. Und deswegen sind wir der Auffassung, dass eine gesetzliche Regelung so ausgestaltet sein sollte, dass sie auch für derartige künftige Fälle eine Grundlage bietet."
Die grüne Integrationsministerin war noch im vergangenen Jahr strikt gegen eine Zuzugssperre. Nun hat sie dem Drängen von Pirmasens nachgegeben. Dessen Bürgermeister sieht seine Stadt aber nicht als Ausnahmefall, sondern als Vorreiter.
"Wir kämpfen hier eigentlich für alle Kommunen in Rheinland-Pfalz, denn ich bin der Überzeugung, dass das Problem nicht nur auf Pirmasens zutrifft."
Heißt es bald: Rheinland-Pfalz macht dicht? Obwohl Pirmasens aus Sicht des Integrationsministeriums die Ausnahme bleiben sollte? 'Wir brauchen erstmal weiteres Datenmaterial', wiegelt die grüne Staatssekretärin Christiane Rohleder ab.
"Wir haben jetzt gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden eine Abfrage bei den Kommunen gemacht, um Wanderungsbewegungen in Rheinland-Pfalz genau nachvollziehen zu können und zu sehen, ob es signifikante Wanderungsbewegungen gibt, oder so, wie wir den Eindruck haben, die eben nicht in dieser starken Form gibt."
Kann sein, dass sich anerkannte Flüchtlinge verstärkt in der Nachbarstadt Kaiserslautern niederlassen, der Stadt im finanziellen Würgegriff eines zu groß geratenen Fußballstadions. Zieht sie als nächste die Reißleine? Alles noch ungewiss. Fakt sei aber, so Rohleder: Rheinland-Pfalz legt eine Million für Jugendsozialarbeit drauf.

Horst Seehofer – eine Heimatminister auch für Afghanen?

Vom Bundesinnenministerium erwartet die Grünen-Politikerin aber auch etwas:
"Zum Beispiel bei den Integrationskursen halte ich es für überfällig, dass die für mehr Menschen geöffnet werden. Zum Beispiel, die Menschen aus Afghanistan können nicht teilnehmen an den Integrationskursen, weil sie nicht als Menschen mit guter Bleibeperspektive angesehen werden, obwohl wir alle wissen, dass fast alle Menschen, die aus Afghanistan kommen, auch bei uns bleiben werden."
Ob die Familie der vierjährigen Marwa bessere Chancen bekommt, sich in ihrer neuen Heimat zu integrieren, hängt also auch an einem CSU-Politiker: Bundesheimatminister Horst Seehofer.
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