"Zum Verzeihen fehlt noch einiges"

15.12.2009
Der rumänischdeutsche Lyriker Werner Söllner habe lange gebraucht, um seine Spitzel-Tätigkeit zuzugeben und dies auch nur "scheibchenweise" getan, sagt der Schriftsteller Ernest Wichner. Dabei sei Söllners Arbeit für die Securitate nicht harmlos und banal gewesen.
Susanne Führer: Heute beginnen in Bukarest die Gedenkfeiern zum 20. Jahrestag der Demonstrationen gegen das Ceausescu-Regime. Demonstrationen, die damals in Temesvar begannen und auf andere Städte übergriffen, auch auf die Hauptstadt Bukarest. In Rumänien allerdings verlief die sogenannte Wende nicht so friedlich. Nicolae Ceausescu und seine Ehefrau Elena wurden am 25. Dezember 1989 erschossen, und zuvor hatte es in Bukarest offene Straßenkämpfe zwischen Securitate, also dem Geheimdienst, und der Armee gegeben, bei denen Hunderte oder auch Tausende starben – man weiß es bis heute nicht genau.

Zu Gast im Deutschlandradio Kultur ist nun Ernest Wichner. Er wurde in Rumänien geboren, in Banat, er ist Gründungsmitglied der Aktionsgruppe Banat, ein Literaturzirkel von Schriftstellern, sogenannten Banater Schwaben. 1975 hat er Rumänien verlassen und ist in die Bundesrepublik Deutschland gezogen. Er ist Schriftsteller, Übersetzer und Leiter des Literaturhauses Berlin. Herzlich willkommen, Herr Wichner!

Ernest Wichner: Guten Tag!

Führer: Ja, 20 Jahre Demonstrationen gegen Ceausescu, 20 Jahre Sturz des Ceausescu-Regimes – wie würden Sie das feiern, feiern Sie das?

Wichner: Also ich glaube nicht, dass ich das hier feiern muss in Berlin. Ich will nicht verhehlen, dass ich mich damals sehr gefreut habe darüber, dass auch in Rumänien diese kommunistische Diktatur an ein Ende gekommen ist, nur sind die Verläufe so gewesen, dass man nicht unbedingt in Feierlaune geriet. Das ist schon sehr verblüffend und irritierend, dass es ein Land in Europa gibt, in dem man, nun ja, ein blutiger Staatsstreich meinetwegen stattgefunden hat und man weiß nicht, wer wann mit welcher Absicht welchen Schießbefehl gegeben hat.

Führer: Damals schien es ja so, dass nach der Erschießung des Ehepaars Ceausescu war ja der Machtkampf entschieden und die Securitate wurde aufgelöst, also offiziell zumindest. Was ist denn mit den Mitarbeitern passiert?

Wichner: Es hieß, die Securitate sei aufgelöst – sie wurde natürlich nicht aufgelöst, aufgelöst worden ist die Stasi in der DDR. Da sind die Revolutionäre, sozusagen die Bürgerbewegten, in die Gebäude der Stasi eingedrungen und haben das Material gesichert.

Die rumänische Securitate ist in dem Sinne nicht aufgelöst worden, es ist die Führungsspitze ausgetauscht worden. Die Leiter der jeweiligen Abteilungen in den Kreisen und in großen Städten und in Bukarest sind durch die zweite Garde abgelöst worden, und der Geheimdienst ist schlicht und einfach umbenannt worden und besteht bis heute. Der heißt jetzt anders, heißt nicht mehr Securitatii Statului, sondern SRI, Serviciul Roman de Informatii.

Und die damals vor 20 Jahren sozusagen zweite Führungsriege ist heute die erste. Und die ersten, die exponierten sind aus ihren Ämtern entfernt worden. Zum Teil sind sie in die private Wirtschaft gegangen, zum Teil sind sie Rentner, und dieser Dienst betrachtet sich als einen normalen Geheimdienst, wie es den in allen Ländern der Welt gibt.

Führer: Wir sollten aber vielleicht doch noch mal dran erinnern, dass die rumänische Securitate um einiges brutaler war als die ostdeutsche Staatssicherheit zum Beispiel. Sie soll rund 10.000 Regimegegner ermordet haben, und in der Zeit von 45 bis 89 zwei Millionen Menschen verfolgt haben. 400.000 Spitzel haben am Ende für sie gearbeitet. Warum meinen Sie, Herr Wichner, ist das Interesse in Rumänien an diesem Teil der Landesgeschichte so gering?

Wichner: Das kann ich nicht ganz schlüssig erklären, ich frage mich das auch ständig. Man hat offenbar die Securitate nicht als so gefährlich angesehen in der Gesellschaft, oder aber diese Menschen haben auch Familie und haben Freundeskreise und Bekanntenkreise, und dieser Geheimdienst war sozusagen sozialisiert. Der hat alle Glieder der Gesellschaft ergriffen und zersetzt. Und offenbar fühlt sich eine relevante Mehrheit mit betroffen.

Führer: Wenn wir jetzt mal blicken auf Rumänien heute, welche Folgen hat denn das für die Gesellschaft, dass man dieses Kapitel so überhaupt nicht beleuchtet?

Wichner: Das führt zu großer Verunsicherung. Das merkt man, wenn man im Land ist und mit Leuten spricht, die ein bisschen exponierter sind, in exponierteren Jobs oder, ja, die dann auch heute noch, wenn ein Telefon nicht funktioniert, vermuten, dass sie abgehört werden. Die wissen und es auch jederzeit sagen, soweit sie es wissen, dieses Hotel und jenes Hotel gehört einem ehemaligen Securitate-Offizier, dort in dieses Lokal darf man nicht gehen, weil das einem Securitate-Menschen gehört. Also das findet bei kritischeren Menschen im Land schon statt, darauf wird geschaut, aber der Einzelne kann daran nichts ändern, das muss die rumänische Politik ändern.

Führer: Aber scheint mir auch so ein bisschen so wie eine Fortsetzung des Ceausescu-Regimes, ja? Das war ja sehr brutal und am Ende hin ja auch wirklich wahnhaft, also wahnsinnig. Das scheint ja irgendwie immer noch weiterzuleben, diese Angst, die – so schließe ich aus Schilderungen, ich habe ja da nicht gelebt – aber das ganze Land so überzogen hatte.

Wichner: Ein Teil dieser Angst lebt tatsächlich weiter. Sie ist nicht mehr so akut, sie ist nicht mehr in der Weise zerstörerisch, wie sie es Ende der 80er-Jahre war, aber sie ist noch vorhanden. Die Gesellschaft hat es versäumt, Institutionen zu schaffen, die ihr Sicherheit geben, in denen solche Angst auch aufgefangen und verarbeitet werden kann. Man merkte es jetzt auch wieder bei diesen Präsidentschaftswahlen, wie der eine den anderen Kandidaten – und da kann man keinen ausnehmen – bezichtigt hat, der Diktatur zu liebäugeln oder etwa die Errungenschaften dieser großartigen Wende rückgängig machen zu wollen. Wenn man mit solchen Argumenten heute Wahlkampf führen kann, dann zeigt das, dass diese kaputte Diktaturgesellschaft noch sehr präsent ist im Bewusstsein der Menschen, und zwar als ein unaufgearbeitetes Trauma.

Führer: 20 Jahre Sturz des Ceausescu-Regimes und der Securitate in Rumänien, zumindest offiziell. Darüber spreche ich mit Ernest Wichner im Deutschlandradio Kultur. Herr Wichner, seit dem Jahr 2000 – immerhin – können ehemalige Securitate-Opfer ihre Akte einsehen. Nun haben Sie das Land bereits 1975 verlassen. Haben Sie mal versucht, an Ihre Akte ranzukommen, haben Sie eine?

Wichner: Ich vermute, dass ich keine Akte habe, weil ich eben 75 das Land verlassen habe. Wichtiger schien mir in der ganzen Zeit, dass so jemand wie Herta Müller oder Richard Wagner seine Akte kriegt. Und die sind ja viele Jahre lang hingehalten worden. Obwohl es das Gesetz gab, dass ihnen das Recht zubilligte, ihre Akte zu sehen, hat es Jahre gedauert. Es hat mehrfach Auskünfte von dieser Behörde gegeben, es gäbe keine Akte über sie, bis dann endlich Anfang dieses Jahres sie mit den Akten rausrückten.

Führer: Welche Behörde ist denn jetzt dafür zuständig, die Akten rauszugeben?

Wichner: Das ist eine Behörde, die nennt sich CNSAS, die ist analog zu dieser Birthler-Behörde gegründet worden, auf massiven Druck auch aus dem Westen, dieses einzurichten, denn Rumänien wollte ja in die EU, und das war mit eine Bedingung, dass man einigermaßen anständig und transparent mit diesen Akten umgeht. Nun lagen die aber gut ein Jahrzehnt beim ehemaligen Geheimdienst, das heißt, man kann denen nicht ohne Weiteres trauen. Die sind in vielen Teilen gefiltert, gefilzt, reduziert …

Führer: Gefälscht.

Wichner: Gefälscht, also da ist nichts hinzu erfunden worden, sondern da sind wichtige, den Geheimdienst belastende Materialien entfernt worden. Das kann man an einigen Akten sehen.

Führer: Herr Wichner, Ihre Freundin Herta Müller hat ja nun gerade den Literaturnobelpreis bekommen, und dadurch ist ja das Thema Securitate wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, zumindest in Deutschland. Auch in Rumänien?

Wichner: In Rumänien auch, überraschenderweise, durch den Nobelpreis für Herta Müller, weil die ja immer davon gesprochen hat, was den Rumänen häufig nicht gepasst hat. Da gab es auch Stimmen, die sagten, es gibt doch noch sehr viel mehr in diesem Land, und es gibt ja auch Schönheiten und es hat auch früher, als du da gelebt hast, nicht nur die Securitate, sondern auch anderes gegeben. Und da wurde nicht verstanden, dass diese Frau eine politische Forderung stellt. Das Problem war, dass man seiner Vergangenheit beraubt war, und das wollte man ja sehen, was da geschehen war, zumal wenn man Verfolgungserfahrungen hatte.

Führer: In diesen Tagen ist ja bekannt geworden, dass ein weiterer rumäniendeutscher Schriftsteller, nämlich Werner Söllner, Anfang der 70er-Jahre einige Jahre für die Securitate gespitzelt hat, so zwei bis vier Jahre. Er hat das dann von sich aus beendet, er ist dann später selbst wiederum bespitzelt und verfolgt worden von der Securitate. Damals, er war jung, er hatte Angst und er hat dann 30 Jahre lang nichts davon erzählt, aus Schuld und Scham, sagt er. Können Sie das verstehen, können Sie ihm verzeihen?

Wichner: Also zum Verzeihen fehlt noch einiges. Ich kann schon verstehen, wie jemand in jungen Jahren zum Informanten der Securitate wird, obwohl ich andererseits auch weiß, dass es sehr viele gegeben hat, die dem widerstanden haben. Aber nun sind Menschen verschieden. Der eine widersteht, der andere meint, nicht widerstehen zu können.

Ich bin mit dem, was er bisher gesagt hat, noch nicht zufrieden, und ich habe es auch verfolgen können, dass er im Grunde seit einem Jahr etwa schon weiß, was wir wissen und dass wir wissen, dass er gespitzelt hat für die Securitate. Dann dauerte es schon ziemlich lange, bis er das zugab, und dann dauerte es noch mal lange, bis er bestätigte, dass er dieser Informant war. Und dann dauerte es noch mal lange, bis er bereit war, die Berichte, die man ihm auf den Tisch gelegt hat, auch zu bestätigen.

Er hat das so scheibchenweise zugegeben, wie das die Stasispitzel auch so getrieben haben, also die, die wir aus dem Kulturbetrieb kennen. Und das hat mich durchaus in diesem Jahr empört, weil ich mir dachte, er weiß es, es ist so viel Zeit vergangen, er hätte die Möglichkeit, sich hinzusetzen und das ausführlich darzustellen.

Führer: Also Sie werfen ihm eher den späteren Umgang vor als sein damaliges Verhalten?

Wichner: Auch sein damaliges Verhalten finde ich nicht so rühmlich, und wenn man es vergleicht eben mit anderen, die widerstanden haben und dafür durchaus auch Verfolgung oder Druck in Kauf nehmen mussten – Herta Müller wurde aus ihrem Job aus einer schlichten Fabrik rausgeschmissen, weil sie sich geweigert hat, und zwar nicht Freunde zu bespitzeln, sondern ausländische Mitarbeiter, die nicht gefährdet gewesen wären. Und dann kommt ein anderer und ist Student und soll seine Freunde bespitzeln, die Gedichte schreiben, und dann übersetzt er diese ins Rumänische und schreibt Gutachten dazu. Auch die Tätigkeit kann ich nicht so als harmlos oder banal ansehen.

Führer: Eine letzte Frage habe ich noch, Herr Wichner: In diesen ganzen Diskussionen der vergangenen Wochen um die Securitate lese ich immer wieder, dass in Deutschland ehemalige Securitate-Spitzel leben würden und ganz unbehelligt. Können Sie das bestätigen?

Wichner: Das kann ich sehr wohl bestätigen. Die Akten von Richard Wagner und Herta Müller sind voll von solchen Leuten und auch schlimmeren als Werner Söllner.

Führer: Also Rumäniendeutsche?

Wichner: Rumäniendeutsche, die ausgewandert sind, die in Deutschland leben, die jahrelang gespitzelt haben, die saßen in der Landsmannschaft, haben die konservative Politik der Landsmannschaft hier betrieben, haben zum Teil dafür gesorgt, dass Rundfunkjournalisten, die Interviews mit Herta Müller machten, als sie zu Besuch kam, als sie noch in Rumänien lebte, hier Literaturpreise bekam, da sind mitunter Interviews nicht gesendet worden auf Intervention der Landsmannschaft. Und die gleichen Leute stellen sich als Spitzel heraus.

Führer: Und gibt es da heute eine öffentliche Debatte innerhalb der rumäniendeutschen Gemeinschaft?

Wichner: Herta Müller hat anlässlich eines Preises vor paar Monaten darüber gesprochen, die Landsmannschaft ist offenbar nicht bereit, ihre eigene Geschichte zur recherchieren.

Führer: Der Schriftsteller und Leiter des Berliner Literaturhauses Ernest Wichner zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Herzlichen Dank für Ihren Besuch, Herr Wichner!

Wichner: Gern geschehen.