"Zu Bethlehem geboren ..."

Von Michael Hollenbach · 30.08.2008
In diesem Jahr wird neben der israelischen Menschenrechtsgruppe MachsomWatch und dem Friedensaktivisten Andreas Buro der palästinensische Pfarrer Mitri Raheb mit dem Aachener Friedenspreises ausgezeichnet. Der Preis ehrt Menschen und Basisinitiativen, die sich "von unten her" für Völkerverständigung einsetzen. - Eine schwierige Herausforderung in Bethlehem. Dort ist Mitri Raheb Pastor in der evangelischen Weihnachtskirche.
Mitri Raheb sitzt in seinem modernen Büro im Internationalen Begegnungszentrum in Bethlehem. Hinter ihm in der Wand sind einige Einschusslöcher zu sehen; Gewehrkugeln von israelischen Soldaten, als sie vor sechs Jahren Bethlehem besetzten und Teile des Zentrums zerstörten. Doch der 46-jährige lutherische Pfarrer lässt sich von Rückschlägen nicht entmutigen. Mirti Raheb ist viel mehr als der Pfarrer einer lutherischen Gemeinde; zum evangelischen Begegnungszentrum gehören heute ein Kindergarten, eine Schule, ein Gesundheits- und Erholungszentrum, ein Kultur- und Konferenzzentrum und eine Fachhochschule.

"Was die Menschen suchen, ist eine Vision. Sie möchten sehen: Es gibt eine Zukunft. Die Politik bietet das nicht an; die Religion im Allgemeinen bietet das nicht an, weil die meiste Religion führt hier zu Fundamentalismus und Rückzug aus dem Leben. Aber hier sehen die Leute eine Vision, und das ist nicht eine Vision, die wir durch Worte verkaufen, sondern eine Vision, die auch Fleisch und Blut hat."

Mittlerweile ist das Zentrum der drittgrößte Arbeitgeber in der Region Bethlehem. Mitri Raheb ist in Bethlehem geboren. Als sein Vater starb, war Mitri 13. Damals musste er – neben der Schule – den väterlichen Buchladen weiterführen. Nach dem Abitur studierte er in Deutschland Theologie und promovierte in Marburg im Fach Kirchengeschichte. Mitri Raheb ist ein Intellektueller: ein kluger, besonnener Mann – mit Managerqualitäten.

"Leider ist es so, als ich in Deutschland Theologie studiert habe, habe ich keinen Kurs in Management gemacht, das ist so, aber – ob in Deutschland oder hier – ein Pfarrer verbringt sehr viel Zeit mit Management."

Manche in der Gemeinde hätten früher über ihn gespottet, er sei ja mehr ein Manager als ein Seelsorger. Doch dieser Spott ist mit der erfolgreichen Arbeit des Begegnungszentrums verstummt:

"Management ist sehr wichtig für die Gemeindearbeit, Theologie ist für mich ist sehr wichtig fürs Management, also ohne Theologie gäbe es diese Organisationen alle nicht. Die Inspiration hängt für mich mit Theologie zusammen, aber eine Inspiration, die ohne Management lebt, würde im Keim erstickt."

Doch die Arbeit von Mitri Raheb stößt an eine Grenze, eine Mauer, eine israelische Mauer, die seit sechs Jahren um die Region Bethlehem gebaut wird.

"Bethlehem ist ein großes offenes Gefängnis, und das wird noch mehr zugemauert, und es wird jeden Tag mehr, und ich denke, in einem Jahr wird Bethlehem etwa acht Quadratmeter groß sein, umgeben von einer Mauer, eigentlich ein Ghetto. (…) wenn man überlegt: unsere Kinder, die wachsen auf und überall, wo sie in dieser Stadt stehen, sehen sie eine Mauer um sich herum."

Vom Flur vor Rahebs Büro führt eine schmale Holztreppe hinauf und hinaus auf das Flachdach des Begegnungszentrums. Von hier schaut man auf Bethlehem und auf die Hügel des Berglandes.

"Nordöstlich beginnt dort ein Stacheldraht, dann wird es zu einer neun Meter hohen Mauer, dann geht es Richtung Westen, dort ist es etwa fünf Meter hoch, und dann geht es rum, und dann kommt es im Süden raus, das heißt, im Moment bleibt nur der Osten, wo noch keine richtige Mauer ist, aber wird dort auch kommen."

Israel begründet den Sinn der Mauer mit dem Schutz vor Selbstmordattentätern. Die Israelis nennen die Mauer einen Sicherheitszaun.

"Hat mit Sicherheit eigentlich nichts zu tun. Das ist eine faule Ausrede. Das ist ein Landraub, was hier geschieht: zum Beispiel hinter der Mauer, auf der nördlichen und westlichen Seite, haben 1835 christliche Familien ihre Länderein, das ist der grüne Teil von Bethlehem, der wird bewusst auf die andere Seite der Mauer gelegt, das heißt, diese Menschen können ihre Oliven nicht pflücken. (…) die Mauer wird da gebaut, wo das letzte Haus steht, die Stadt darf nicht wachsen, aber eine Stadt, die nicht wachsen kann, ist verurteilt zu sterben."

Vom Dach des evangelischen Begegnungszentrums kann man den Verlauf der Mauer und des Zaunes erkennen und sehen, dass auf den umliegenden Hügel überall neue israelische Siedlungen entstanden sind:

"Es geht um Wasser, das unterirdische Wasserreservoir wird auf israelische Seite gestellt. In der Westbank gibt es etwa 3000 touristische Attraktionen, die meisten auf der anderen Seite der Mauer, das heißt, das ist Einkommen, das hat mit Sicherheit nichts zu tun."

Unter dem Dach des evangelischen Begegnungszentrums befindet sich auch die neue Fachhochschule. Junge Palästinenserinnen und Palästinenser werden hier in sechs verschiedenen Bereichen ausgebildet. Die Palette reicht von der Ausbildung zum Dokumentarfilmer über Glas- und Keramikkunst bis hin zum Touristikführer. Dass die evangelische Kirche die Fachhochschule gegründet hat, ist für deren Dekanin Nacha Yudi nur folgerichtig:

"Die lutherische Kirche ist traditionell sehr aktiv im Bildungssektor, aber nur im schulischen Bereich und im Kindergarten. Jetzt hat die Kirche hier zum ersten Mal den Schritt gewagt zur Hochschulausbildung. Das ist sehr wichtig, denn die Kirche hat eine Mission und dazu gehört, dass sie die jungen Palästinenser in den Bereichen ausbildet, die ihnen später die Aussicht auf einen guten Job eröffnen."

Bethlehem leidet unter dem Weggang vor allem der jungen Leute. Besonders viele Christen verlassen die Geburtsstadt Jesu; mittlerweile stellen die Christen nur noch ein Drittel der Bevölkerung Bethlehems; die meisten davon sind orthodox, nur wenige sind Lutheraner.

"Das wichtigste ist, dass sie bleiben. Und um das zu erreichen, muss man ihnen die Möglichkeiten geben: die Ausbildung, das Handwerkszeug, um in neuen Märkten Fuß zu fassen, und ich denke, mit der Ausbildung hier haben sie nicht nur Chancen auf dem lokalen Markt, sondern auch auf dem internationalen, ohne die Heimat zu verlassen."

Als Beispiel nennt Nacha Yudi die Dokumentarfilmer, die bereits von internationalen Fernsehstationen angefordert werden. Für Mitri Raheb ist die Arbeit des Zentrums mit den neu entstandenen Arbeitsplätzen ein kleiner Vorgeschmack auf das Palästina der Zukunft:

"Wenn die Leute das sehen: viele sind nicht nur bereit hier zu bleiben, sondern sogar aus dem Ausland zurückzukehren.

Also ich heiße Marwa Nasser-Metzler, ich bin in Jerusalem geboren, lebe momentan in Bethlehem seit Monaten, habe mein Studium im Libanon in Theologie gemacht, und habe insgesamt dreieinhalb Jahre in Amerika gelebt und viereinhalb in Deutschland, mein Mann ist Österreicher, ein Orgelbauer und ich habe zwei Kinder."

Marwa Nasser-Metzler gehört zu den Rückkehrern. Sie arbeitet nun in dem neuesten Projekt des Zentrums: sie betreut und berät junge christliche Familien.

"Es gibt genug Herausforderungen im normalen Leben, und dann gibt es bei uns die Extra-Herausforderungen, zum Beispiel wir können nicht außerhalb Bethlehem gehen, die Leute, die hier in Bethlehem, Beit Jala, Beit Sahur leben, haben nicht viele Möglichkeiten, für sich selbst etwas zu machen. (...) Freizeitmöglichkeiten sind sehr begrenzt; Spielplätze haben wir nicht, außerhalb Bethlehem können wir nicht gehen, es gibt die Mauer."

Das idyllische Bild, das in christlichen Liedern von dem biblischen Orte besungen wird, stößt hier auf die harte Realität Bethlehems 2000 Jahre nach Jesu Geburt.

"Wir leben in einem großen Gefängnis, und man fühlt das, man spürt das im Hintergrund unserer Köpfe, du kannst praktisch nirgendwo hingehen, du bist eingesperrt, das ist wie Druck, der sich sammelt, und der wird größer, und wenn es keine Löcher gibt, um diesen Druck rauszunehmen, dann wird es irgendwann explodieren. (...) und deshalb finde ich, solche Projekte helfen solchen Druck positive Energie zu geben."

Die meisten Angebote des evangelischen Begegnungszentrums richten sich an alle Menschen in Bethlehem, unabhängig von ihrer Religion. Nur das Angebot für Familien konzentriert sich zunächst einmal auf die Christen – und das ganz bewusst, sagt Marwa Nasser-Metzler.

"Als Minderheit in so einem Krisengebiet hast du sehr viele Ängste und dann möchtest du einen Platz haben, wo du dich wohl fühlst und wo du deine Identität voll lebst ohne Ängste, dass dich jemand nicht akzeptiert oder bedrückt oder dir genau sagt, wie du dich anziehst."

Die 31-Jährige kennt auch aus ihrer Zeit in Augsburg das kirchliche Leben in einer deutschen evangelischen Gemeinde. Dort sei die Kirche lediglich ein kleiner Teil des Lebens gewesen, meist nur am Sonntagmorgen. Das sei in der Weihnachtskirche in Bethlehem ganz anders:

"Das ist unser Leben. Ich arbeite in der Kirche, ich gehe am Sonntag in die Kirche, unsere gesellschaftlichen Aktivitäten sind von der Kirche, (…) es ist das Zentrum unseres Lebens, also von meinem Leben und viele Leute, die ich hier kenne, weil sie Minderheit sind und eine Minderheit in der Minderheit, weil sie Lutheraner sind. Die Kirche ist das Zentrum unseres Lebens."

Doch Mitri Raheb predigt die Offenheit. Die Mehrheit der Besucher des evangelischen Begegnungszentrums sind Muslime. Die Lutheraner gehören zu den kleinsten konfessionellen Gruppen in Bethlehem; gerade auch deswegen dürften sie sich nicht abschotten.

"Eine ganz große Gefahr momentan besteht darin, dass jeder hier sich in seine Subkultur sich wohl fühlt und denkt, das gibt Geborgenheit, das man sich mehr und mehr einkapselt, und dass die Gesellschaft in kleinen Grüppchen ihre Einheit verliert."

Den rund 3000 Katholiken, die – neben der Geburtskirche – in der St. Katharinenkirche ihre Gemeinde haben, hält Mitri Raheb vor, zu wenig auf die anderen Konfessionen und Religionen zuzugehen. Sie seien zu selbstgenügsam.

"Kirche darf eben nicht eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten sein, das wäre eher eine ideologische Gruppe als eine Kirche."

Das moderne Zentrum mit den hellen Wänden, hohen Räumen und vielen Fenstern ragt aus den zum Teil heruntergekommenen Häusern der Altstadt heraus. Ein erfolgreiches Projekt, das vor allem mit Geldern aus Skandinavien und den USA finanziert wurde. Aus Deutschland, dem Land Luthers, flossen dagegen kaum Gelder, sagt Mitri Raheb.

"Ob man enttäuscht ist oder nicht, hängt natürlich davon ab, welche Erwartungen man an Deutschland stellt: im Laufe der Jahre habe ich gemerkt, man kann eigentlich von Deutschland nicht sehr viel erwarten. Momentan erwarte ich fast nichts von Deutschland: weder ein Politiker noch ein Bischof noch irgendjemand kann die Courage habe, die Wahrheit beim Namen zu nennen."

Die Wahrheit: das bedeutet für den lutherischen Pastor vor allem die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel:

"Israel importiert drei Systeme, die überall gescheitert sind, aber die implementieren sie im 21. Jahrhundert: sie importieren, die Mauer von Deutschland – hat nicht funktioniert; sie implementieren ein Apartheidsystem von Südafrika, ist gescheitert; und sie implementieren von den USA diese Reservate für die Indianer, letztlich Bethlehem wird zu einem Reservat umgeben von der Mauer und total von Israel abgeschottet."

Und auch Rahebs Kollege Shedallah Jahadi, evangelischer Pfarrer im benachbarten Beit Jala, ist enttäuscht von der deutschen Politik:

"Die Politiker in den letzten Jahren, nach dem Wahlsieg von Angela Merkel, hüllen sich in Schweigen. (…) Früher als Schröder und Außenminister Fischer regiert hat, bei jeder Rede haben sie zwar gesagt, dass Israel das Recht hat, sich zu schützen, aber zur gleichen Zeit redeten sie deutlich davon, dass das palästinensische Volk auch seine Zukunft braucht, seinen Staat braucht, das (..) vermisse ich bei den deutschen Politikern zurzeit."

Aus Angst vor Antisemitismus-Vorwürfen würden die Deutschen schweigen.

"Ich kann verstehen, dass man durch seine Geschichte belastet ist, aber das heißt noch lange nicht, dass man nicht Unrecht beim Namen nennt."

Und Mitri Raheb kritisiert auch die Philosophie der deutschen Entwicklungshilfe.

"In Deutschland gibt es ein wirkliches Problem, dass die Kirche in Deutschland mit Erfolg nicht gut umgehen kann, das heißt, wenn sie sehen, dass unsere Arbeit hier eigentlich sehr erfolgreich ist und inzwischen innerhalb von 13 Jahren alle diese Organisationen gegründet haben, ohne dass ein deutscher Manager hier sitzt, sondern mit einheimischen Leuten, sie tun sich damit schwer. Das ist so irgendwie: nur der arme Palästinenser, dessen Nase läuft und überall Fliegen um den Kopf mit schmutzigen Klamotten; und wenn sie das hier sehen, dann sagen sie, es darf eigentlich gar nicht so etwas in Palästina geben. Die Amerikaner sind da anders: Erfolg ist etwas Positives; wenn man nicht erfolgreich ist, dann ist etwas faul. In Deutschland – wenn man erfolgreich ist, dann muss man sich eigentlich entschuldigen."

Das Weihnachtslied kann man in Bethlehem auch im Sommer hören. Die Touristen reisen mit den Bussen an zu einer Stippvisite in die Geburtskirche. Und es kommen immer mehr. Insgesamt entwickelt sich dieses Jahr zum besten Tourismusjahr überhaupt für das Heilige Land. Allerdings: die Einnahmen aus dem Tourismus fließen zu über 90 Prozent nur in israelische, und nicht in palästinensische Kassen:

"Das heißt, der Tourismus ist der zweitwichtigste Faktor, die Kluft zwischen Israel und Palästina noch größer zu machen, und wenn man sich überlegt, all diese christlichen Gruppen, die hier herkommen, singen über Frieden und Gerechtigkeit und sie wissen gar nicht, dass sie durch die Reise, wie sie sie gestalten, einen Beitrag zur Ungerechtigkeit liefern."

Manchmal könnte Mitri Raheb verzweifeln über die politische Situation in seiner Heimatstadt Bethlehem. Und er weiß, dass bei vielen Einwohnern die Stimmung zwischen Depression und Wut hin und her schwankt.

"Ich denke, die Frage ist, was macht man, wenn man wütend ist? Natürlich kann man ein Selbstmordattentat begehen als Reaktion oder was wir als Alternative zeigen: man kann so wütend sein, man kann diese gewaltige Energie auch dahin kanalisieren, dass man neue positive Fakten schafft. (…) die Lage ist katastrophal, aber jedes Mal, wenn wir so wütend sind, beginnen wir mit einem neuen Zentrum, (…) weil das ist die einzige Alternative."