Zorn

Von Susanne Mack · 23.01.2010
Ärgern ist menschlich, und eine Portion Wut im Bauch kann durchaus gesund sein. Wenn sie jedoch in Zorn umschlägt - dann wird daraus eine Todsünde. Zorn ist oft unvernünftig, unproduktiv und zeitigt verheerende Folgen, vor allem, wenn er maßlos wird.
"Ja, so um 9.30 Uhr kamen irgendwelche Schüsse von außerhalb. Wir dachten, das wären irgendwelche Bauarbeiten draußen. Dann wurde die Tür aufgerissen, und wir haben nach hinten geguckt, und dann hat der halt angefangen, an die Tafel vor zu schießen … "

Frank, ein Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden. Er hat das Massaker im Frühjahr 2009 überlebt. - 15 Menschen wurden am Vormittag des 11. März erschossen. Von Tim Kretschmer, einem 17-Jährigen, der sich am Ende selbst das Leben nahm.

Was ist der Grund, dass Leute wie Kretschmer derart ausrasten in einer demokratischen Gesellschaft, wo doch jeder gesetzlich verbriefte Rechte besitzt, die er auch einklagen kann. – Der Psychologe Heiko Ernst:

"Zorn oder Wut entstehen, wenn wir das Gefühl haben, man nimmt uns was weg. Oder wir werden missachtet und so weiter. Also, eine Kränkung oder eine Verletzung erregt unseren Zorn. - Es ist eine nützliche Verhaltensweise, die den Nachteil hat, dass sie sehr oft entgleist. Dass sie auch im Übermaß praktiziert wird und sozusagen enthemmt stattfindet. Der Zorn wütet dann und kann kein Ende mehr finden."

"Es ist auffällig, dass primär Mädchen getötet wurden. Acht Schülerinnen und ein Schüler. Auffällig ist auch, dass der Täter primär Kopfschüsse auf die Opfer abgegeben hat."

In Winnenden war ein schießwütiger Zorn am Werk, der sich am Blutbad berauscht. – Aber es gibt auch den kalten, den maskierten Zorn. Sogar den Zorn in der Maske des Engels der Gerechtigkeit, der klagt sich verbissen durch alle Instanzen:

"Das sind dann diese Kohlhaas-Typen, die überhaupt keinen Schlussstrich mehr ziehen können und Genugtuung haben wollen um jeden Preis."

Michael Kohlhaas, Titelgestalt einer Novelle von Kleist, kämpft ohne Rücksicht auf Verluste um sein gutes Recht, wird dabei selbst zum Mörder und verurteil zum Tod durch das Rad.

"Nun ist bei der Todsünde des Zorns nicht gemeint, dass jemand mal ungeduldig wird, oder das jemand mal bös’ wird oder so. Es geht dabei immer um Grundhaltungen."

Pater Herrmann-Joseph Zoche.

Halten wir zunächst einmal fest: Ärgern ist menschlich, und eine Portion Wut im Bauch - die kann durchaus gesund sein, meint auch der Psychologe Heiko Ernst:

"Dieser Zorn, der aufgrund von Ungerechtigkeit zum Beispiel oder von Missverhalten anderer entsteht, ist zunächst ein Impuls, der diese Ungerechtigkeit korrigieren soll. Wir wehren uns. Das gehört zu unserem biologischen Erbe dazu."

"Es gibt niemanden, der sich nicht "aufregt", der noch nie einen Anlass gefunden hätte, sich zu ärgern. Ärger gehört zu unserem Alltag … "

… schreibt der Philosoph Stéphane Bornhausen in seinem jüngsten Buch mit dem Titel: "Mensch, ärgere Dich!"

"Viele große Denker, ob Philosophen wie Aristoteles und Seneca oder Männer der Kirche wie Augustinus, haben sich alle Mühe gegeben, dem Menschen das Ärgern abzugewöhnen … "

… hat Bornhausen festgestellt, er selbst ist aber anderer Meinung: Ein gesundes Ego ärgert sich. Wer das Gefühl der Wut nicht kennt, läuft Gefahr, depressiv zu werden. Denn der Ärger ist ein Stachel unseres Selbstwertgefühls. Der Ärger bewegt uns, Mut zu fassen, für unsere Rechte einzustehen und andere, die unberechtigte Ansprüche stellen oder uns manipulieren wollen, in die Schranken zu weisen.

Allerdings: wer dauernd und bei nichtigem Anlass ausfällig wird – verbal oder sogar körperlich, sprich: Gewalt gebraucht und maßlos wütet, braucht einen Therapeuten, hier ist die Todsünde "Zorn" am Werk. Übrigens auch dort, wo Menschen ewig lästern und sticheln müssen, überhaupt, eine Lust daran finden, andere zu verletzen, meint Pater Hermann-Joseph Zoche:

"Es gibt so eine Grundhaltung, dass Menschen nur noch in einer zornigen Ablehnung von Sein verharren: viele Menschen, die zu reinen Zynikern werden. Darin liegt eine große Lebensverneinung."

Ernst: "Es gibt ja auch den Heiligen Zorn Gottes. Wir kennen das aus der Bibel, der dann, ja, zurecht sich austobt, mit der Sintflut zum Beispiel."

Jähzornig ist dieser Gott, dem biblischen Mythos zufolge, aber durchaus nicht gewesen, sein Zornesausbruch war wohl überlegt. Immerhin hat er Noah beauftragt, eine Arche zu bauen, um die Seinen vor der Sintflut in Sicherheit zu bringen.

Auch Jesus von Nazareth, der die Friedfertigen selig pries, konnte bei Gelegenheit zornig werden. Zum Beispiel hat er sich über die Viehhändler und die Geldwechsler geärgert, die im Vorhof des Tempels zu Jerusalem ihr Geschäft betrieben. – Im Johannesevangelium heißt es:

"Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle zum Tempel hinaus, auch die Schafe und die Ochsen. Und die Münzen der Wechsler schüttete er aus, und die Tische warf er um. Und zu den Taubenverkäufern sprach er: 'Nehmt dies weg von hier. Macht nicht meines Vaters Haus zu einem Kaufhaus!'"

Es gibt Situationen, da ist eine Prise Zorn durchaus vernünftig und produktiv. Und es gibt andere, da ist Zorn unvernünftig, unproduktiv und zeitigt verheerende Folgen, vor allem, wenn er maßlos wird. Der Todsünde Zorn sind aber nicht nur Amokläufer und Bombenleger verfallen, sondern jeder von uns in dem Moment, wo er sich auf das böse Spiel einlässt, das jeden Tag gespielt wird auf Ämtern, in Büros, in Kaufhäusern aber auch im trauten Familienkreis. – Das Spiel, das da lautet: "Ich ärgere Dich, weil Du mich geärgert hast."

"Ärger ist, glaub ich, so die leise Epidemie unserer Gesellschaft. Alle ärgern sich ständig über irgendwelche anderen. Der Zorn hat auch immer was leicht Paranoides. Also, man denkt auch sehr häufig, es geschieht einem Unrecht, es wird einem was genommen. Und das ist deswegen auch heute ein Problem, weil wir ja in einer gewissen Anspruchsgesellschaft leben. Jeder hat ja unveräußerliche Rechte. Und hat sehr viele Rechte. Und hat sehr viel auch Besitz manchmal, und sehr viel Privilegien. Und wehrt sich immer sofort heftig, wenn ein anderer, ja, ihm in die Quere kommt, das geht bis ins ganz Banale."

Der Psychologe Heiko Ernst.

Allerdings: Die ökonomische Verfasstheit unserer Gesellschaft schürt auch den Zorn ihrer Mitglieder. Pater Hermann-Joseph Zoche registriert eine mürrische Unzufriedenheit, die sich leise im Land verbreitet. Immer mehr seien frustriert von dem Gefühl, nicht erfolgreich genug zu sein in den Augen einer erfolgsverliebten Gesellschaft:

"Das ist ja eine ganz miese Suggestion, die von allen möglichen Seiten auf die Menschen einträufelt: 'Du musst es nur wollen!' Das ist ja ein unglaublicher Zynismus. 'Du armer Hartz-IV-Empfänger, Du hast eben nur nicht genügend gewollt!' Das steckt ja dahinter. 'Dir fehlt es ja nur an der Kraft, Deine Visionen auch zu verwirklichen!' Wie viele Menschen werden dadurch fehlgeleitet."

Wer an vielen Erlebnissen nicht teilnehmen kann, die die Gesellschaft für notwendig hält, weil er kein Geld hat für das Konsum-Erlebniskarussel, der wird leicht zornig.

"Genau. Der Zorn, 'Ich bin hier fern eines Ortes der Freude, weil ich vielleicht wirtschaftlich nicht in der Lage bin, das zu teilen.' Es gibt eine innere Wut sozusagen auf die Gesellschaft, die in diesem Zorn sich begründet, ja."

Musik:
"Selbst wenn jemand rüpelhaft und taktlos sich benimmt,
verlier ich niemals die Geduld und bleibe froh gestimmt.
Wenn man mich schlägt, beleidigt, oder sonst wie provoziert,
zuck ich nur mit den Achseln und bleibe ungerührt.

Doch manchmal, ja manchmal, da halt ich’s nicht mehr aus:
Die Galle läuft mir über, es platzt aus mir heraus: Du Drecksau!"


Ernst: "Es gibt so viele Zwischenfälle inzwischen, dass Menschen, ja, Schießereien, Messerstechereien um einen Parkplatz austragen. Oder dieses permanente Lichthupen, Hupen, Gestikulieren, die obszönen Gesten, die gemacht werden. Also, wir sind permanent zornig. Wenn uns jemand die Vorfahrt nimmt, oder wenn jemand zu langsam vor uns fährt oder zu schnell fährt. - Dieses Gefühl, der andere will mir was, obwohl er vielleicht nur ein bisschen geistesabwesend gefahren ist – aber der hat mich persönlich gemeint! Der will mir mein Tempo vermiesen, oder der will mir die Vorfahrt nehmen, das ist so tief in uns drin, dass wir zornig oft reagieren. Wir schreien, oder wir zeigen den Vogel oder noch Schlimmeres."

"Die Schmähungen der Einfältigen und die Vorwürfe Unkundiger muss man sich mit Gleichmut anhören. Ein Mann von starkem Geist und richtiger Selbsteinschätzung rächt sich nicht für Beleidigungen. Denn sie bedeuten ihm nichts."

Lucius Annaeus Seneca, Klassiker der stoischen Philosophie und Ikone der stoischen Lebenshaltung. Seneca ist den Schmähungen und Vorwürfen seines jähzornigen Kaisers Nero tatsächlich mit Gleichmut begegnet - bis in den Tod. Seine Zeitgenossen haben ihn dafür bewundert.

Ernst: "Ich denk’, dass es weniger um diese innere Größe geht, die so große Gestalten halt auch verkörpern. Die kann nicht jeder haben. - Es geht einfach zunächst um so was wie Intelligenz. Oder emotionale Klugheit. Wir sprechen heute auch von emotionaler Intelligenz."

"Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang!"

Schiller. - Wir sollten uns darin üben, dem aufkeimenden Zorn die Tugend der Besonnenheit entgegenzusetzen. Es gehört seelische Stärke und vor allem Selbsterfahrung dazu, dem Zorn die Zügel anzulegen und den unkontrollierten Ausbruch zu verhindern.

Ernst: "Schau’ voraus. Überleg’, was die Konsequenzen sind. Zähl’ auf zehn, atme zehnmal durch, bevor Du erwiderst. Und diese Impulskontrolle, um die es eigentlich geht, die setzt natürlich voraus, dass ich weiß, dass ich mir vor Augen führe, wohin ausgelebter Zorn führen kann."