"Zirkus der Angstmacherei"

Matthias Horx im Gespräch mit Ulrike Timm · 06.12.2011
Matthias Horx sieht die Diskussion über Ratings und Schulden entspannt. Der Mensch sei ein Angstwesen. Er erlebe aber immer mehr Menschen, die sich nicht mehr verrückt machen ließen von Krisenmeldungen.
Ulrike Timm: Dafür, dass wir alle zumindest mit dem großen Zeh längst im Abgrund stehen, geht es uns doch eigentlich ganz gut. In den Umfragen sprechen die Deutschen von Zufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Situation, sie trauen sich, mehr Geld auszugeben – nicht nur zu Weihnachten, sondern im gesamten Jahr bislang –, und die Arbeitslosenzahlen sind auch niedriger als noch vor ein paar Jahren.

Wie viel an der Krise ist Krise, und wie viel Krise reden wir uns mit apokalyptischen Schlagzeilen wie "Ist das das Ende?" und "Europa zittert vor der Kernschmelze" eigentlich erst herbei? Die Fachleute sind uneins, aber den berühmten Satz Börse ist Psychologie, den bemühen sie alle, mal mehr, mal weniger. Gehen wir es also mal psychologisch an: Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat sich viel damit beschäftigt, wie die pure Angst von Gesellschaften das Leben mitgestaltet, und er meint: Finanzkrise ist schlimm, aber schlimmer noch ist die Angst vor der Krise. Schönen guten Tag, Herr Horx!

Matthias Horx: Hallo, guten Tag!

Timm: Was macht Sie so sicher, dass Sie mit dieser These richtig liegen?

Horx: Das ist auch eine historische Erfahrung, und wir wissen ja auch vieles über den Menschen inzwischen aus der anthropologischen Forschung. Wir sind nun mal Angstwesen, und wir stecken uns auch mit Ängsten gegenseitig an. Und es war immer in der Geschichte so, dass wenn die Ängste überhand nehmen, wenn sie zu Panik und Paranoia und zur Hysterie werden, dann wird es wirklich schlimm, und man kann eben in dieser Krise das ganz besonders deutlich sehen und spiegeln, und man kann auch sehen, wie die Medien eine ungeheuer fatale Rolle dabei spielen gewissermaßen, die Dinge zu eskalieren und auch letzten Endes die Spannbreite für die Politiker immer enger zu machen, und …

Timm: Dann spiegeln …

Horx: … das ist in der Tat etwas, das mir Sorgen macht.

Timm: Dann spiegeln wir doch mal: Heute haut ja die Ratingagentur Standard & Poor’s auf die Pauke, indem sie eben die europäischen Länder generell in die Prüfung nimmt, ob sie dieses Triple A, dieses ominöse, noch verdienen, da wird es wieder neue Schlagzeilen geben. Der Mechanismus setzt sich fort. Trauen Sie sich eine Einschätzung, wie viel überhaupt noch real ist und wie viel irreal getrieben durch Panikmache?

Horx: Die Wirklichkeit ist durch Stimmungen bestimmt, und das gilt gerade in der Ökonomie so. Wir haben ja in den letzten Jahrzehnten eine ökonomische Theorie über uns kommen lassen, die den Menschen als rationales Wesen sah, aber das ist natürlich Unsinn. Ganz viele ökonomische Faktoren werden durch Erwartungen gesteuert. Zum Beispiel Inflation wird durch Erwartung gesteuert: Wenn die Menschen kein Vertrauen in den Geldwert haben, dann zirkuliert das Geld viel schneller, und dann wird auch die Inflation steigen. Und das sind natürlich alles Faktoren, die heute quasi auf dem Tisch der Geschichte liegen, und das ist das, was im Grunde genommen die Europakrise ist, kann sich dadurch eben tatsächlich gefährlich ausweiten.

Im Kern ist die Europakrise zunächst mal nur eine Systemkrise. Also wir haben Europa 1.0 Betriebssystem, das haben wir gewissermaßen falsch konstruiert, da gab es keine richtigen Rückkopplungen für diejenigen, die ihre Schulden nicht bezahlt haben oder die falsche Politik gemacht haben. Jetzt müssen wir Europa 2.0 konstruieren. Das ist gewissermaßen im Gange, die Frage ist nur, ob quasi die Hysterien eben so schnell sprießen, dass wir eigentlich gar keine Chance mehr dazu haben. Und daran sind ja auch Leute interessiert. Man muss ja auch wissen, dass Untergang ein gutes Geschäft ist, nicht? Also die amerikanischen Ratingagenturen, die wünschen sich ein Europa mit verschiedenen Währungen, das auseinanderfällt, weil da können sie tolle Geschäfte mit machen, da können sie wunderbar hedgen und all diese schönen Dinge machen, die Banken gerne tun.

Timm: Sind das wirklich die Ratingagenturen? Die machen ihren Job, die Frage ist doch: Wie nimmt man das auf, wenn man sich vor jeder schlechten Nachricht, dass die ein Land auf die Watch List nehmen, gleich so fürchtet, dass man denkt, jetzt geht das Abendland unter? Dann ist doch die Krise eher bei dem Empfänger der Nachricht oder dem Verbreiter der Nachricht als bei der Ratingagentur.

Horx: Ja, das hängt eben miteinander zusammen. Wir sprechen in der Zukunftsforschung auch von sogenannten Memen – das ist quasi das Äquivalent zu Genen, also unseren genetischen Prädispositionen –, und Memen sind Kulturmuster, die breiten sich eben in einer Gesellschaft auch manchmal epidemiehaftig aus. Und Menschen sind eben auch geprägt dazu, das zu glauben, was der andere glaubt, nicht? Wir sind ja ursprünglich Sippenwesen, wir haben ungefähr eine halbe Millionen Jahre mit maximal 100 Personen in einem Klan gelebt, und deshalb glauben wir immer das, was der Nachbar glaubt, nicht? Und wenn der Nachbar glaubt, das Geld ist zu Ende und die große Krise steht bevor, dann glauben wir das, und dann ist natürlich die Gefahr, dass es einen Bank Run gibt, also dass alle ihr Geld abheben.

Das ist wunderbar auf den Punkt gebracht worden von einem Bestseller, der gerade auf dem Markt ist, Robert Harris, "Angst" heißt das auf Deutsch. Und da erfindet ein Quantenphysiker einen Computer, einen Hedgefonds-Computer, der auf Angst setzt, also der das Internet scannt nach Begriffen wie Terror, Alarm, Horror, Ende, Niedergang, Kernschmelze, Abgrund, Sorge, Gefahr und so weiter. Und dieser Computer macht natürlich das, wozu er am Ende programmiert ist: Er macht immer mehr Buchungen, und dadurch steigt natürlich die Anzahl dieser Meldungen im Internet ständig an, das heißt, er produziert seine eigene Prophezeiung.

Und das kann natürlich eine Gesellschaft auch tun. Ich glaube, dass es nicht so kommt in diesem Fall, ich bin da auch Optimist, weil Menschen eine wunderbare Eigenschaft haben, das ist die Ignoranz. Ich sehe auch jeden Abend wie die meisten Deutschen Talkshows und lasse mich fürchten, aber ich sehe auch immer mehr Menschen, die aus diesem ganzen Zirkus der Angstmacherei aussteigen und sagen: Ich glaube das nicht. Und das ist ja auch etwas, was sie gerade sehen können: Die Medien belauern ja gerade die Deutschen regelrecht, nicht? Die Deutschen kaufen ja zu Weihnachten ein. Haben Sie das gelesen? Ein Skandal! Die müssten ja in den Keller gehen und sich fürchten. Aber nein, sie kaufen gegen die Krise an, so heißt es im "Spiegel".

Timm: Sie haben ja auch sozusagen große mentale Unterstützung bis hinauf zum früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der sagte bei seiner Rede beim SPD-Parteitag wörtlich: "Alles Gerede und Geschreibe über eine angebliche Krise des Euro ist leichtfertiges Geschwätz von Medien, von Journalisten und von Politikern." Heißt das: Ohne Geschwätz wäre schon alles in trockenen Tüchern?

Horx: Nein, aber ein erwachsener Umgang mit der Umwelt basiert ja darauf, dass man seine Ängste bändigt, nicht? Also wir sind wie gesagt Angstwesen, wir haben einen Angstreflex, der ist uns aus dem Überlebenstrieb erwachsen, und Erwachsenheit bedeutet eben, dass wir uns diese Sachen cool ansehen können, dass wir Sachen abwägen können, was können wir tun, was können wir nicht tun, und in der Tat hat Schmidt ja recht, der Euro selbst ist ja nicht gefährdet, der steht ja nach wie vor auf einem sehr guten Kurs.

Das Problem ist, dass wir eine viel zu hohe Staatsverschuldung haben, und dagegen gibt es Mittel und Wege. Es gab ja auch früher in der Geschichte schon Situationen, in denen Länder verschuldet waren, da wieder herausgekommen sind, letzten Endes mit Innovationskraft und Fleiß und mit Sparen, mit dieser Kombination. Also es ist möglich, aus dieser Krise herauszukommen, und ich glaube, das ist das, was wir auch behaupten müssen gegen die Medien, die natürlich um diese rare Ressource Aufmerksamkeit kämpfen. Und das ist natürlich ein furchtbarer Kampf. Ich bin selber Journalist gewesen, viele Jahre, ich war früher bei der "Zeit", da war es noch gemütlich, vor 15 Jahren. Heute haben Sie einen extremen Kampf um diese rare Ressource Aufmerksamkeit, und was macht am besten Aufmerksamkeit? Eine Angstschlagzeile. Ich weiß es selber, ich bin schließlich Journalist.

Timm: Andererseits lassen Sie uns die Schmidt-Rede mal cool abwägen: Der Helmut Schmidt stellte das ja alles in den historischen Zusammenhang vom 30-jährigen Krieg bis in die Zukunft, und vor diesem Hintergrund ist es auch nicht so schwierig, ein aktuelles Problem einzudampfen mit den Worten: Alles Geschwätz. Es gibt die Spekulationen gegen den Euro, es gibt die immense Verschuldung der europäischen Staaten schlicht und einfach real, Angstneurose hin oder her.

Horx: Ja, aber wie gesagt: Erwachsenheit heißt rationaler Umgang mit Gefahren und Bedrohungen. Und wenn Sie mal ein bisschen historisch genauer nachdenken, dann sieht man schon, dass wir heute in einer sehr anderen Situation sind, als zum Beispiel zur Weltwirtschaftskrise oder in den schlimmen Zeiten Europas. Wir haben heute nicht mehr das Europa der Nationalstaaten, die erbittert gegeneinander kämpfen. Es ist vielleicht nicht so, dass Angela Merkel und Sarkozy immer einer Meinung sind, aber das ist, glaube ich, auch nicht der entscheidende Punkt.

Wir leben heute in einer Welt mit sehr komplexen Gesellschaften, und komplexe Gesellschaften haben auch bestimmte Freiheitsgrade, sie haben Reaktionsmöglichkeiten. Sie können sich ändern, sie können sich anpassen und sie können neue Formen von Kooperationen schließen, also sich neue Regeln geben. Und das können erwachsene Menschen auch. Und wenn wir immer in unserem Leben so argumentieren würden – eine Krise ist das letzte der Dinge, und dann ist der Weltuntergang! –, dann würden wir niemals vorankommen.

Das ist zum Beispiel auch in Beziehungen, in der Ehe, ist das ja nicht viel anders: Wenn Sie eine Ehekrise haben, dann können Sie aus lauter Angst aus dem Fenster springen, sprich sich scheiden lassen, oder Sie nehmen die Krise an, und dann wird sich auch eine Verbesserung einstellen. Und das ist doch, was wir, glaube ich, auch als Kultur, als Gesellschaft lernen müssen, dass wir in einem rationalen Diskurs auch über Bedrohungen reden können. Weil wenn wir das nicht mehr haben – und das ist, glaube ich, auch ein Teil dieser gigantischen Medienflut, die wir im Moment haben –, dann kann sich das natürlich irgendwann aufschaukeln, und dann ist das Ende absehbar, dann werden nämlich die Früchte letzten Endes von den Populisten geerntet, weil Angstpolitik ist immer Machtpolitik.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Trendforscher Matthias Horx. Herr Horx, Sie sprachen an historische Beispiele: Die Weimarer Republik zum Beispiel – gibt es da aus Ihrer Sicht wirklich geschichtliche Beispiele, wo der Mechanismus schwierige Situationen plus Panikmache gleich Superkrise, wo das eingetreten ist?

Horx: Na ja, alle Untergänge, alle klassischen Untergänge, von denen wir heute ja auch immer albträumen, nicht? Es gibt ja ganz viele Menschen, die sagen: Die Zivilisation, die technische Zivilisation ist zum Untergang verurteilt, ob das jetzt ökologisch oder ökonomisch argumentiert wird. Das ist im Grunde genommen immer dann erklärbar, wenn quasi die Interpretationsmuster, die Menschen über ihre Umwelt haben, auseinanderbrechen. Und da gibt es ja wunderbare Beispiele, zum Beispiel der Untergang der Mayakultur.

Die Maya lebten ja in ihrer Hochblüte um 1300, 1400 lebten die in einem Gebiet, das eben sehr erdbebenstark war, da gab es Hurrikane, da gab es auch Trockenheiten, also in einer ziemlich bedrohlichen Umwelt – das könnte man fast parallelisieren heute mit unseren Wetterphänomenen, die wir ja heute eben dem Global Warming zuschreiben, aber die es wahrscheinlich immer schon gab. Und dort hat sich dann quasi eine verrückte Gesellschaft entwickelt, also die sind wirklich verrückt geworden, die Maya, im gewissen Sinne, sie haben eben immer extremere Rituale, also immer absurdere Talkshows – könnte man das übersetzen – benutzt, indem sie versucht haben, Angst zu beschwören bis hin zu diesem berühmten Herzherausreißen und Opferkulten, und dann ist irgendwann die Gesellschaft zusammengebrochen, weil sie nicht mehr an ihre eigene Zukunft geglaubt hat und weil man eben keine Innovation gemacht hat. Also die Maya hatten eben relativ wenig technische Mittel, um zum Beispiel zu transportieren oder zu bewässern.

Und daran kann man eben sehen, dass es letzten Endes immer die mentalen Kräfte sind, die inneren Kohärenzen innerhalb einer Gesellschaft. Mein Freund und Bekannter John Casti, ein amerikanischer Soziologe und Zukunftsforscher, hat ein neues Buch geschrieben, das ist leider noch nicht auf Deutsch herausgekommen, es heißt "Mood matters", also Stimmungen bestimmen die Welt, so wird, glaube ich, der deutsche Titel sein, und da weist er eben nach, dass ganz viele Entwicklungen auch innerhalb der jüngsten Geschichte von Erwartungshaltung geprägt sind. Das können Sie hin bis in die Schlagzeilen oder bis in die Songtexte von Popkultur können Sie das verfolgen: Pessimismus oder Optimismus als Erwartungshaltung.

Timm: Herr Horx, dann hoffen wir mal, dass wir anders als die Maya noch die Kurve kriegen. Ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Horx: Wir geben uns Mühe.

Timm: Der Trendforscher Matthias Horx war das darüber, wie Ängste eine Krise noch steigern können. Ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Horx: Danke schön!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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