Zimmer ohne Aussicht

Von Robert B. Fishman · 18.04.2012
Vom einstigen französischen Schmuddelkind mausert sich Marseille zum Vorzeigeprojekt. Die alten Viertel verschwinden, doch immer noch gehören Sozialkonflikte zum Alltag von Frankreichs ärmster Stadt. Genauso wie die Plattenbauviertel, wo es weder Arbeit noch Perspektive für die Einwanderer aus Nordafrika gibt.
Stadtrundfahrt durch Saint Henri, einem Vorort im Norden Marseilles.

"Hier ist das 'Zigeunerlager'. Wir selbst hatten zum Glück bisher keine Probleme mit ihnen, aber wenn man sich ihr Benehmen anschaut, könnte sich das schnell ändern."

Vor dem Fenster des kleinen, alten Citroën von Elisabeth Kosa-Alargent ziehen Einfamilien- und Reihenhäuser vorbei. Auf einer matschigen Brachfläche stehen ein paar alte, verlassene Wohnwagen. Mehr ist vom ehemaligen sogenannten Zigeunerlager nicht übrig. Frankreichs derzeit wahlkämpfender Präsident Nicolas Sarkozy ließ im Sommer 2010 mehr als 8000 Roma des Landes verweisen. Und das, obwohl die betroffenen Roma meist Bürger der EU-Länder Rumänien und Bulgarien waren. Anwohner hatten sich auch in Marseille immer wieder über Betteleien, Diebstähle und herumliegenden Müll beschwert. Elisabeth Kosa-Alargent, scheint froh zu sein, dass die ungeliebten Nachbarn verschwunden sind:

"Diese Unordnung ist ja nicht gerade gut fürs Image der Stadt. Die könnten uns ja bestehlen. Wir haben Angst um unsere Sicherheit."

Etwas oberhalb von Saint Henri ragt wie eine Festungsinsel ein Haufen verwitterter, eng beieinander stehender Wohnklötze aus der felsigen Hügellandschaft: Die Hochhaussiedlung La Castellane. Elisabeth traut sich wie die meisten Anwohner dort nicht hinein:

"Ich habe es noch nie versucht, da rein zu gehen. Da verlasse ich mich auf die Warnungen, die ich gehört habe."

Vor einem der rund 15 Stockwerke hohen Wohntürme steht ein junger Mann. Die Kapuze seines Pullis hat er gegen den kalten Wind über den Kopf gezogen. Sein Gesicht verbirgt er hinter einer verspiegelten Sonnenbrille. Misstrauisch beäugt er jedes Auto, das so aussieht, als wollte es nach La Castellane einbiegen.

Ende letzten Jahres haben Polizisten das Kassenbuch eines Drogendealers im Marseiller Norden gefunden: Im Schnitt bringt der illegale Handel jedem Dealer gut 100.000 Euro Umsatz im Monat - steuerfrei. Davon gehen, so die französische Internetzeitung "rue89", rund 4800 Euro im Monat an die Jungs aus dem Viertel, die für die Dealer Schmiere stehen. Rund 9000 Euro kassieren die Kleindealer, die den Stoff auf der Straße verkaufen.

La Castellane, die Hochhaussiedlung in Saint Henri, nennt "rue89" als eines der Zentren im Marseiller Drogengeschäft. Rund einen Kilometer den Hügel hinunter wohnt die aus Ungarn stammende Chemikerin Elisabeth mit ihrem Mann und den beiden Kindern in einer abgeschlossenen Reihenhaussiedlung. Das Gelände ist eingezäunt. Mit einer Fernsteuerung öffnet sie das Tor zur Einfahrt. Dahinter spielen Kinder auf den kleinen Anliegerstraßen. Jedes Häuschen hat seinen eigenen kleinen Garten.

"Bei fast allen unseren Nachbarn wurde schon eingebrochen. Bei uns auch. Jetzt haben wir alle möglichen Alarmvorrichtungen. Die schalten wir immer ein und das Haus schließen wir immer gut ab."

Saint Henri war einst ein provenzalisches Dorf zehn Kilometer vom Zentrum der Hafenstadt Marseille entfernt. Rund um die Kirche stehen zweistöckige Häuserzeilen mit hellblau und grün gestrichen Fensterläden, darin Wohnungen, kleine Geschäfte. Seit den 60er-Jahren rückte dann die Großstadt immer näher. Weil Frankreichs Industrie Arbeitskräfte brauchte, strömten Einwanderer ins Land. In Südfrankreich landeten zudem Tausende von Algerien-Franzosen, den sogenannten Pieds Noirs.

Die Stadtplaner ließen für die Wohnungssuchenden gigantische Wohnblocks in die felsige Berglandschaft rund um Marseille betonieren. Schnell musste es gehen und billig sein. Aus den Neubauvierteln wurden in den 80er-Jahren Problembezirke: Der Beton bröckelt. Viele Wohnungen verkommen.

Als 2005 in den heruntergekommenen Pariser und Lyoner Vororten die Jugendlichen demonstrierten und Autos anzündeten, blieb es in Marseille erstaunlich ruhig. Anders als dort hatten die Stadtplaner hier ihre Hochhaussiedlungen wie mit der Gießkanne über die gewachsenen Dörfer und Vororte rund um die Stadt verteilt: La Castellane oder Plan d'Aou im Norden, La Cayolle oder La Rose im Süden.

Frankreichs Fußballstar Zinadine Zidane ist in La Castellane aufgewachsen. Das Fußballspielen hat er beim FC Saint Henri unten im Dorf gelernt.

In einem kleinen Vereinsbüro sitzt Malek an einem Laptop und plant die Aufstellung für die nächsten Spiele. Der Vereinsvorsitzende stammt wie Zidane aus einer nordafrikanischen Einwandererfamilie. Nein, mit Rassismus gäbe es im Verein keine Probleme. Zu schaffen macht ihm wie vielen vor allem die Arbeitslosigkeit hier im Norden Marseilles. Unten am Meer habe der Staat eine Freihandelszone eingerichtet: 10.000 Arbeitsplätze gegen zahlreiche Steuervorteile.

"Vereinbart war eigentlich, dass die Unternehmen für die Steuervorteile, die sie bekommen haben, Leute hier aus der Gegend einstellen. Daran haben sich aber viele nicht gehalten. Für die Jugendlichen gibt es kaum Arbeit. Aber wer wirklich arbeiten will und sich anstrengt, der findet schon was."

Malek zumindest hat es geschafft. In einem Pharmaunternehmen hat er eine Stelle als medizinisch-technischer Assistent gefunden. Seine Freizeit verbringt er im Verein. Hier, sagt er, sind alle gleich:

"Ich bin hier auch Trainer und Spieler. Und wenn ich spiele, bin ich auch als Präsident ein ganz normaler Spieler. Da darf mich der Trainer genauso anschreien wie jeden anderen auch. Über andere lustig machen oder andere herabsetzen ist hier verboten. Wer sich nicht dran hält, bekommt eine Sperre, und wenn das nicht hilft fliegt er raus."

Das sieht Trainer Frédo genauso. Der kleine rundliche Mann um die 50 steht mit der Trillerpfeife in der Hand auf dem Platz. Eine Handvoll Kinder übt unter seinen kritischen Blicken Pässe. Andere dribbeln um orangefarbene Kegel. Frédo ist einer der wenigen, der noch den Marseiller Sing-Sang-Dialekt spricht. Er sieht sich nicht nur als Fußball-Trainer:

"Manche Kinder haben geschiedene Eltern oder Probleme mit ihren großen Brüdern. Da sind wir in unserer Rolle als Sozialarbeiter gefragt. Wir sind eben nicht nur Trainer. Manche Scheidungskinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten, sich in eine Gemeinschaft einzufügen. Da müssen wir einen festen Rahmen bieten und ein bisschen die Eltern ersetzen. Hier spielt es keine Rolle ob einer schwarz, gelb, braun oder blau ist. Entscheidend ist, dass er sich integriert. Dieses Jahr haben wir ein Leitbild für Fußballer aufgestellt. Daran muss sich jeder halten. Für uns kommt es nicht darauf an, woher ein Kind kommt."

Elisabeth Kosa-Alargents 6-jähriger Sohn kommt gerne zum Training. Seine Mutter holt ihn mit dem Auto ab. Dann fahren sie durch Saint Henri nach Hause.

Während Elisabeth das Abendessen vorbereitet, kommt ihr Mann, ein Fernmeldetechniker, von der Arbeit. Er fährt den Jungen und seine kleine Schwester zur Klavierstunde in das städtische Gemeindehaus.

Die U-Bahnlinie aus dem Zentrum Richtung Norden endet nach wenigen Stationen im tristen Alt- und Plattenbauviertel Bougainville. Auf dem zugigen, großen Busbahnhof starten die Busse in die nördlichen Vororte. Abends kurz vor 20 Uhr fährt der Letzte.

Vorbei an Lagerhallen und heruntergekommenen alten Häusern quält sich der Bus über die volle Lyoner Straße. "Euromerde dégage", "Euroscheiße hau ab" haben Protestierer in blutroter Farbe auf verwitterte, vom Ruß der Abgase geschwärzte Fassaden gemalt. Drunter steht: "expulsion", "Vertreibung". Gemeint ist das rund sieben Milliarden Euro teure Stadtumbauprogramm Euroméditerrannée. Seit gut zehn Jahren wird das Zentrum von Marseille saniert. Weiter nördlich - am ehemaligen Industriehafen - entsteht ein komplett neuer Stadtteil mit Wohnungen, Promenade, Büros, Shopping-Malls und Museen. Auch Frankreichs bislang ärmster Stadtteil, das arabische Viertel am Hauptbahnhof Saint Charles wird umgebaut. Wer nicht mithalten kann, muss wegziehen.

Marseille gilt als die ärmste Stadt Frankreichs. Ein Drittel der Einwohner lebt unter der offiziellen Armutsgrenze von 788 Euro. Djamila Moumen, in Algerien geboren und in einem französischen Alpendorf aufgewachsen, berät vor allem Einwanderer-Frauen. Mit ihrem eigenen Verein bietet sie für Frauen aus benachteiligten Familien Sozialberatung, Kurse in Haushaltsführung, Wellness- und Gesundheitsnachmittage. Oft begleitet sie Frauen, die kaum französisch sprechen und die Bürokratie nicht verstehen, zu Behörden wie der Sozial- oder Krankenversicherung:

"So viel Not wie hier habe ich noch nie gesehen. Früher habe ich immer Schulhefte, Bücher und alles Mögliche für arme Familien nach Algerien mitgenommen. Seit ich in Marseille wohne, mache ich das nicht mehr. Die Leute hier brauchen die Hilfe dringender. Manche können sich nicht genug zu Essen kaufen."

Die Fehler sieht sie beim Staat, aber auch bei den Immigranten: Viele ließen sich zu schnell entmutigen.

"Natürlich hat man es hier als Algerier und mit einem arabischen Namen schwerer. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Wir waren dort die einzige algerische Familie und wir haben von unseren Nachbarn viel gelernt. Mein Vater hat immer gesagt: Ok, ein Franzose braucht vielleicht ein halbes Jahr, um Arbeit zu finden. Für uns dauert es dann vielleicht ein Jahr. Aber er hat uns gewarnt. Wir mussten uns doppelt so viel anstrengen, wie die Franzosen, aber das Ziel war klar: Wir wollten genau so weit kommen wie die anderen. Wenn man das verstanden hat, hat es keinen Sinn mehr, über das eigene Schicksal zu klagen."

Djamila selbst ist der lebende Beweis für ihre Aussage. Ihrem Vater zuliebe hat sie eine Ausbildung als Köchin und eine als Schneiderin absolviert. Weil sie Sozialarbeiterin werden wollte, kämpfte sie sich dann erfolgreich durch die Aufnahmeprüfung für die Beamtenlaufbahn und fand als eine der ersten algerischstämmigen Staatsdienerinnen eine Stelle im öffentlichen Dienst. Djamila lebte gut in den französischen Alpen, bis ihre Ehe in die Brüche ging. Ihr Mann, der sich unbedingt noch ein Kind gewünscht hatte, wollte sich plötzlich nach der Geburt der jüngsten Tochter von ihr trennen.

"Ich wollte mich nicht scheiden lassen, aber er hat darauf bestanden. Schließlich hat es bei mir im Kopf Klick gemacht und dann war Schluss. Ich bin gläubige Muslimin. Eine Scheidung ist nicht nur die Trennung eines Paares, sondern auch die Trennung von den Kindern, von der Familie. Ich musste ihn trotzdem weiterhin beherbergen, weil er kein Geld und keine Wohnung hatte. Drei Monate lang war ich dazu verurteilt."

Ein Albtraum, wie sie heute sagt. Er wurde apathisch und gewalttätig. Auf Anraten ihres Vaters floh sie schließlich Hals über Kopf mit den Kindern in den Süden. Weil ihr eine Freundin günstig eine kleine Wohnung vermieten konnte, landete sie mit ihrer heute 11-jährigen Tochter Rosa im Marseiller Norden. Arbeit hat die 52-Jährige hier nicht mehr gefunden:

"Hier in Frankreich findest du ab 45 nichts mehr. Erfahrung zählt schon und die habe ich ja auch reichlich, aber das Aussehen und die Herkunft spielt bei der Arbeitssuche eine große Rolle. In meinem Heimatort in den Alpen habe ich das nie so wahrgenommen, aber hier in Marseille dafür um so mehr."

Mit ihren langen schwarzen Haaren und den dunklen Augen sieht man Djamila ihre südländische Herkunft an. Alle Versetzungsanträge, die sie als Beamtin gestellt hat, liegen unbeantwortet auf den Ämtern. Mit ihrer Tochter Rosa lebt sie von 600 Euro Sozialhilfe im Monat. Davon gehen 300 für die Miete ab. Ohne die Unterstützung ihrer erwachsenen Kinder und ihrer Eltern könnte sie kaum überleben. Obwohl sie selbst bis vor drei Jahren im Alpen-Departement Isere die linkssozialdemokratische Parti Radical de Gauche im Gemeinderat vertreten hat, erwartet Djamila heute - wie so viele hier - nichts mehr von der Politik:

"Jetzt ist Wahlkampf. Da kommen sie alle in die sogenannten schwierigen Viertel. Aber wenn sie die Leute hier als Wähler nicht mehr brauchen, ist es vorbei. Dann lassen sie die Leute hier in ihrem Elend allein. Dann sind hier nur noch ein paar kleine Vereine, die kein Geld haben und ihr Bestes tun, um den Leuten wenigstens ein bisschen zu helfen. Ich würde jetzt nicht sagen, dass das politisch so gewollt ist, aber wenn für die Politiker hier gerade nichts zu holen ist, kümmern sie sich nicht mehr. So einfach ist das."

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